Dienstag, 1. Oktober 2019

Nur MUT! (Wolfgang Ehmke)


Robert war in die Aufzeichnungen von Can Dündars »Lebenslang für die Wahrheit« vertieft. Die Zeitschrift Ossietzky wollte zum 130. Geburtstag Carl von Ossietzky ein Sonderheft herausbringen. Da lag es nah, endlich einmal den Gefängnisbericht Dündars zu lesen.

Dündars Geschichte erinnerte ihn unweigerlich an Ossietzky, der gegen Ende der Weimarer Republik in den Knast ging, weil er 1929 Walter Kreisers Beitrag in der Weltbühne abgedruckt hatte, in dem der Autor unter dem Pseudonym Heinz Jäger die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckte. »Windiges aus der Deutschen Luftfahrt« hatte 18 Monate Gefängnis für CvO zur Folge. Obwohl 1932 nach 227 Tagen Haft amnestiert, wurde er 1933 – noch in der Nacht des Reichstagsbrandes – wieder verhaftet und in verschiedene Konzentrationslager gebracht, zuletzt in das KZ Esterwegen im Emsland, wo die Gefangenen unter schrecklichen Bedingungen die Moore trockenlegen mussten. Er wurde dort misshandelt, erkrankte, von einer Lungenentzündung erholte er sich nicht mehr …

Und was hat der türkische Journalist Dündar »verbrochen«? Er war als Journalist der Cumhuriyet der Frage nachgegangen, ob die Türkei Waffen an radikalislamische Organisationen in Syrien lieferte. Gerüchte gab es ohnehin, doch dann wurde der Redaktion ein Video zugespielt.

In seinem von Sabine Adatepe übersetzten »Lebenslang für die Wahrheit« schildert Dündar, was ein Video vom 19. Januar 2014, das der Redaktion zugespielt wurde, preisgab: »Auf dem Video war ein Lastwagen des Geheimdienstes MIT zu sehen. Die Gendarmerie hielt den Lkw an. Es kam zum Streit zwischen Geheimdienstlern und Gendarmen. Die Gendarmerie holte die MIT-Leute aus dem Lkw und durchsuchte ihn auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft. Als die Stahltüren geöffnet wurden, stießen die Gendarmen zunächst auf Kisten mit Medikamenten, die zur Tarnung geladen waren. Darunter auf schwere Munition: Mörsergranaten, Kanonenkugeln u. a.« Das war der Beweis! Die Journalisten waren wie elektrisiert und bastelten schon an der Schlagzeile »Hier sind die Waffen, die Erdoğan leugnet«. Was aber wären die Folgen, wenn sie die »Bombe« hochgehen ließen? Die Anwälte der Zeitung warnten, sie waren nicht gegen die Veröffentlichung, aber Erdoğan würde zurückschlagen und sagen, es handele sich um die Veröffentlichung eines Staatsgeheimnisses. Haft wäre unausweichlich. So kam es dann auch. Die Cumhuriyet-Redaktion entschloss sich zur Veröffentlichung, fühlte sich der Wahrheit verpflichtet. Schritt für Schritt zeichnet Dündar in seinem Buch das Geschehen nach.

Robert saß an seinem Laptop. Der Cursor blinkte, die leere Seite schaute ihn an. Er spürte, das würde nichts. Er bräuchte noch mehr Zeit für die Recherche. Viel mehr Zeit! Dann war da noch die Debatte um die Sicherheitsanforderungen an ein Atommülllager, ein Anti-Atomfestival, einige Lesungen aus seinem Roman »Der Kastor kommt«… Er war Sprecher einer Umweltinitiative, die sich seit über 40 Jahren mit Gorleben herumschlug, und sie versackten gerade in zeitraubender Gremienarbeit. Viel lieber wäre ihm, endlich wieder auf die Straße zu gehen. Aber er war sich gewiss, der Tag würde schon bald kommen. Gorleben gehörte auf den Misthaufen der Atomgeschichte. Und schließlich würde Selma vorbeikommen.

Er kannte sie aus Ankara, wo er für einige Jahre an der Hacettepe-Universität als Dozent gearbeitet hatte. Selma war eine seiner Kolleginnen gewesen, sie und ihr Mann Oktay hatten ihm die Stadt gezeigt und ihm das Land »erklärt«. Mit ihnen war er an die Schwarzmeerküste gefahren und an den Van-See. Es war damals die Zeit des politischen Tauwetters in der Türkei und die Debatte um einen EU-Beitritt nahm gerade Fahrt auf. Vor allem verband sie beide die Idee, Deutsch spielerisch zu lehren. Kleine Szenen mit einem Minimum an Requisiten, Sprach- und Stimmtraining, Brechts Übungen für Schauspielerinnen und Schauspieler. Selbst Satzbauübungen konnte man als Wort- und Satzschlangen darstellen. Dabei wurde viel gelacht und in Restaurants im Szeneviertel Kızılay zu Mese-Platten, den leckeren Vorspeisen, Rakı getrunken. Manchmal zu viel, obwohl er das Zeugs gar nicht mochte.

Robert hatte sich, als er begann, Türkisch zu lernen, mächtig amüsiert. Oktay war Anwalt, er arbeitete im Ministerium für Umwelt und Forstwirtschaft oder so. Hukuk hatte er studiert. Das klang lustig, wie Kuckuck. Doch dann wurde Oktay ernst und sagte einen Satz, den er nicht vergessen hatte: »Hukuk ve siyaset iki farklı şeydir.« Selma übersetzte: »Recht und Politik sind zweierlei.«

Robert gab sich einen Ruck. Schweren Herzens, schrieb er an die Redaktion Ossietzky, müsse er den geplanten Beitrag absagen, er finde keine Zeit.

Selma war da. Endlich! Sie waren in Gespräche vertieft. Was gibt es Neues? Up-Grading nannte sie das. Sie kam nur für kurze Zeit zu Besuch. Viel zu kurz. Wie immer volles Programm! Wie geht es Oktay? Was ist in der Türkei los, was in Ankara? Er hatte noch so viele Fragen …

Hunger! Robert briet gerade Bratkartoffeln, frisch geerntet. Er war stolz auf seinen kleinen Gemüsegarten mit dem Bohnenfeld und den Kräutern. Selma scrollte ihre Mails durch.

»Hast du das schon gehört?!« Selmas Stimme verriet Empörung – und Verunsicherung. Robert schaute sie an.

»Was denn?«

»Mahmut Canbay darf nicht in die Türkei einreisen. Man hat ihn in Istanbul acht Stunden lang verhört und ihn postwendend in einen Flieger nach Köln gesetzt.«

Robert schaute ein wenig ratlos drein. Er wusste nicht, wer Mahmut Canbay war, aber Selma erklärte es ihm schon: »Mahmut Canbay führt das Mut!Theater in Eimsbüttel. Und ich habe das Theater letzte Woche angeschrieben, weil ich nach Praxisbeispielen für interkulturelle Projekte suche.«

»Du hast was? Das Theater kontaktiert? Na und?« Robert hielt inne, bei ihm klingelte es, es hatte gedauert, bis der Groschen fiel.

Sie war ernst geworden und bedrückt gewesen, als er sie tags zuvor, als sie über alte Zeiten und Bekannte klönten, gefragt hatte, ob sie nach dem Putsch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 nicht auch Angst hatten, auf einer der dubiosen Entlassungslisten aus dem öffentlichen Dienst zu stehen. Rund 129.000 Staatsbedienstete waren wegen angeblicher Verbindungen zum Putschversuch gefeuert worden, unter ihnen zahlreiche Akademiker, wahlweise waren vermeintliche Gülenisten oder Kurdenfreunde aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden.

Selma und Oktay waren Sozialdemokraten, wählten immer noch CHP. Damals, in Ankara, hatten sie sich zu dritt wiederholt über die Positionen der Partei gestritten, die kemalistische Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die war Robert zu militärgläubig. Und das brutale Vorgehen des Militärs, der kemalistischen Generalität, gegen das Autonomiestreben der Kurden hatte dazu geführt, dass die Opposition nach wie vor in der Türkei gespalten gegen Erdoğan und seine AKP operierte, hielt ihnen Robert vor.

»Ich habe keinerlei Verbindungen zu den Gülen-Leuten und auch keine zur pro-kurdischen HDP. Doch im Land bewegt sich was, schließlich hatten alle gemeinsam dafür gestimmt, bei der Wahl des Istanbuler Bürgermeisters, deren Ergebnis von der AKP angefochten wurde, für den CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu zu stimmen. Und warum, bitte sehr, sollte ich dann rausfliegen?«

Das hatte sie ihm gesagt, ein wenig trotzig, und nun war da die Angst, dass aus einem beruflichen Interesse, einer Anfrage, mehr werden könnte. Denn das, was dem Theatermann vorgeworfen wurde, war an Trivialität kaum zu überbieten, sorgte trotzdem dafür, dass er nicht in die Türkei zu einem Theatertreffen in Izmir einreisen konnte: Eine Karikatur des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die ihm ein Bekannter per WhatsApp zugeschickt hatte, wurde ihm zum Verhängnis. Auf der Zeichnung würde Erdoğan als Diktator dargestellt. Mahmut Canbay sei verhört und immer wieder gefragt worden, warum er die Karikatur nicht gelöscht habe.
»Und das in einem Land, das berühmt ist für seine Karikaturen, das geht bei uns zurück bis ins Osmanische Reich, wo sich Satiremagazine über den despotischen Sultan Abdülhamid II. lustig machten, der heute eines der Vorbilder von Präsident Erdoğan ist. Der Sultan hatte eine große Nase, Erdoğan auch. Ach, lassen wir das, woher wussten die eigentlich, welche Nachrichten und Bilder auf dem Smartphone sind?« Selma schüttelte den Kopf.

Am nächsten Morgen hatte er sie schließlich zur Bahn gebracht, Selma hatte – wie immer – noch einige Verabredungen und wollte noch einen Workshop zur Theaterpädagogik besuchen, bevor es wieder zurück nach Ankara ging. Eben volles Programm! »Viele Grüße an Oktay!«

»Könnt´ jederzeit bei uns hier unterkommen«, sagte Robert zum Abschied, sie drückte seine Hand. »Danke! Kendini iyi bak! – Pass gut auf dich auf«, sagten sie fast gleichzeitig und mussten lachen.

Doch Robert war nicht mehr zum Lachen zumute. Er malte sich aus, wie aus einer Banalität, aus einer WhatsApp-Nachricht, eine Festnahme werden könnte und wie die aufkeimende Angst die Lebens- und Arbeitslust von Menschen zerfraß, wie banal demgegenüber die ganzen Abhörgeschichten der Polizei und des Staatsschutzes im Gorleben-Widerstand anmuteten.

Er ging in den sonnendurchfluteten Garten. Es hatte in der Nacht leicht geregnet, endlich! Wieder hatte ein heißer Sommer den Büschen und Bäumen zugesetzt. Er hatte noch einen weiteren Knastbericht gekauft. Ahmet Altans »Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis« in der Übersetzung von Ute Birgi-Knellessen. Altan wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er habe am Tag vor dem Umsturzversuch 2016 »unterschwellige Botschaften« über den bevorstehenden Putsch in einer Talkrunde im Fernsehen verbreitet.

Der Richter: »Sie haben sich nicht denken können, dass diese Männer einen Putsch durchziehen würden?« Und mit einem selbstgefälligen Lächeln fügte er hinzu: »Ich habe das erwartet.«

Der Verteidiger: »Einen Putsch nicht vorherzusehen, ist kein Verbrechen.«

Für einen Tag kam Altan tatsächlich frei, wurde abends wieder festgenommen. Er und sein Bruder Mehmet, Mitherausgeber der Zeitung Taraf, werden schließlich im Februar 2018 gemeinsam mit vier weiteren Journalistenkollegen zu lebenslanger Haft verurteilt, genau an dem Tag, wo Deniz Yücel nach 367 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Die Taraf war schon im Juli 2016 verboten worden. Investigativer Journalismus, Beiträge zum armenischen Völkermord wie auch zur Kurden- und Zypernfrage waren sowieso und fortan unerwünscht.

Wie wird man fertig mit dem Leben im Knast für immer? Ahmet Altan schreibt.
»Stille.
Eine tiefe, dunkle Stille.
Kein Ton, keine Bewegung.
Das Leben hatte plötzlich haltgemacht. Es war erstarrt. Kalt und leblos.
Das Leben war gestorben.
Unversehens gestorben.
Ich lebte, aber das Leben war tot.«

Robert ließ das Buch sinken. Gänsehaut! Er würde, so war ihm jetzt klar, doch etwas für das CvO-Sonderheft zum 130. schreiben, etwas über die vielen inhaftierten Journalistinnen und Journalisten in der Türkei schreiben. Nur MUT!

Ahmet Altan: »Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis«, übersetzt von Ute Birgi-Knellessen, S. Fischer, 176 Seiten, 12 €; Can Dündar: »Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis«, übersetzt von Sabine Adatepe, Hoffmann und Campe, 304 Seiten, 22 €

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