»Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Diese Feststellung klingt wie eine aus der Zukunft – einer vielleicht gar nicht so fernen Zukunft, in der die Klimakrise immer bedrohlicher geworden ist, in der die Kluft zwischen Armut und Reichtum national und weltweit immer heftigere Konflikte heraufbeschworen hat, so dass eine Mehrheit der Bundesbürger nicht mehr nur das Versagen von Politikern, sondern das Wirtschaftssystem selbst dafür verantwortlich macht. Es ist aber eine Feststellung aus der Vergangenheit. Sie stammt aus einem Parteiprogramm von 1947 – nicht dem einer linken Partei, wie man annehmen könnte. Es handelt sich um den ersten Satz des Ahlener Programms der CDU, benannt nach einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen.
Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum die CDU damals zu einer solchen Formulierung griff. Nach 1945 machten sich auch in den westlichen Besatzungszonen kapitalismuskritische Tendenzen bemerkbar – im Bewusstsein der Tatsache, dass Hitler und seine Bewegung schon vor 1933 von Großindustriellen finanzielle und politische Förderung erhalten hatten, dass die NS-Diktatur maßgeblich mit ihrer Hilfe errichtet worden war, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ohne Unterstützung durch »die Wirtschaft« nicht möglich gewesen wären. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die demokratiegefährdende Macht von Banken und Konzernen unter Kontrolle gebracht werden müsse. Zudem war innerhalb der CDU der linke Flügel noch stark, der einen »christlichen Sozialismus« forderte. Schließlich mochten es auch taktische Erwägungen sein, die dazu führten, dass die CDU eine »Neuordnung von Grund aus« proklamierte: »Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.«
Aus der nach dem Ahlener Programm angestrebten »gemeinwirtschaftlichen Ordnung« wurde dann zwar nichts, aber immerhin blieb das Grundgesetz der 1949 gegründeten Bundesrepublik für Entwicklungen hin zu einer Wirtschaftsdemokratie offen. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums an Produktionsmitteln und die Möglichkeit zu deren Vergesellschaftung, wenn es dem »Wohl der Allgemeinheit« dient, wurden in Artikel 14 und 15 der Verfassung ausdrücklich festgeschrieben.
In einem Interview, das unter dem Titel »Kein Marktversagen, sondern Staatsversagen« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. August erschien, forderte Marco Buschmann als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion jetzt die Streichung des Grundgesetzartikels, der Vergesellschaftungen erlaubt. Der sei ein »Relikt aus der Nachkriegszeit« und diene nur noch dazu, »populistische Debatten anzuzetteln«: »Denken Sie etwa an die Idee, BMW zu verstaatlichen.« Auch die von Mieterinitiativen erhobene Forderung, die Privatisierung ehemals kommunaler Wohnungsunternehmen rückgängig zu machen, um den horrenden Mietpreissteigerungen entgegenzusteuern, sieht Buschmann als Gefahr für die Eigentümerfreiheit: »Kommandowirtschaft ohne privates Eigentum macht alle arm und geht besonders zu Lasten der Schwächsten.«
An der Argumentation des FDP-Politikers ist sicherlich richtig, dass es keine Verbesserung bringen würde, wenn man Privateigentum einfach nur verstaatlichen würde. Es geht darum, ob die großen Unternehmen weitgehend demokratiefreie Zonen bleiben sollen, es geht um die Demokratisierung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, es geht um den Ausbau und die Förderung der »Gemeingüter« (Commons) und einer »Gemeinwohlökonomie« – nichts anderes kann heute im wohlverstandenen Sinn mit Vergesellschaftung gemeint sein, wie sie das Grundgesetz ermöglicht.
An der Aussage des Ahlener Programms von 1947, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden sei, ist der Begriff der Lebensinteressen bemerkenswert. Wörtlich genommen besagt er, dass die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht nur keinesfalls die beste aller Welten darstellt, weil sie Wachstum, Wohlstand, Freiheit und demokratische Verhältnisse ermögliche, sondern dass sie den Bedürfnissen und Interessen der Menschen eklatant widersprechen, ja ihr Leben selbst gefährden kann.
Das gegenwärtig brisanteste Beispiel dafür ist der durch unsere Produktions- und Konsumtionsweise bedingte Klimawandel mit drohenden katastrophalen Folgen für Mensch und Natur.
Dazu ein nachdenklich gewordener ehemaliger Vertreter der Unternehmerseite: Peter H. Grassmann war jahrzehntelang in Führungspositionen tätig, unter anderem in den 1980er und 1990er Jahren als Vorstandsmitglied beim Technologiekonzern Siemens. Seither hat er sich zu einem Kritiker der finanzmarktgetriebenen neoliberalen Marktwirtschaft entwickelt und propagiert in seinem in diesem Jahr im Frankfurter Westend Verlag erschienenen Buch »Zähmt die Wirtschaft!« wirtschaftsethische Positionen und systemtranszendierende Reformvorschläge.
Die Wirtschaft sei heute gefangen »zwischen Börse und Lobbyismus«, sagte er in einem Interview in der Frankfurter Rundschau am 20./21. Juli. Er benannte die »Skandale der letzten Jahrzehnte – zum Beispiel die Korruptionsskandale oder den Gebäudeeinsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch«. Und den Skandal neokolonialer oder neofeudaler Ausbeutung: »Bei sozialen Fragen, etwa bei der Textilproduktion in den ärmsten Ländern, sorgen die Konzerne, die das in der Hand hätten, nicht für faire Löhne. Sie folgen nicht einmal so einleuchtenden Vorschlägen wie dem des Soziologen Peter Spiegel in seinem Buch ‚Die 1-Dollar-Revolution‘, der einen Dollar pro Stunde als Mindestlohn vorschlägt. Das brächte einen enormen Rückgang der weltweiten Armut ... Alles, was Kosten spart, wird getan, alles, was fair, aber nicht ganz so preiswert wäre, wird vermieden.«
Grassmann führt das auf die »Gier nach Geld und Gold« und auf eine »fehlende Werteorientierung« zurück, nicht auf die Orientierung am Tauschwert, an der Gewinnmaximierung, die für das kapitalistische Wirtschaftssystem nun einmal charakteristisch sind. Er will, dass die Politik dem Grenzen setzt, dass sie »strengere Regeln erzwingt«, »verpflichtende Leitlinien zu den großen Themen wie Klimaschutz, soziale Verantwortung und global faire Produktions- und Handelsketten«. Inwieweit das durch die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen erreicht werden kann – unter anderem verbindliche Selbstverpflichtungen, mehr fachliche und wirtschaftliche Kompetenz bei Politikern, mehr Partizipation für die Bürgerinnen und Bürger in Wirtschaft und Gesellschaft, Volksentscheide bei zentralen politischen Themen – mag dahingestellt bleiben.
Den Satz aus dem Ahlener Programm von 1947 aber könnte Grassmann wohl heute schon oder wieder unterschreiben, so wie viele andere, die sich in den Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, gegen imperiale Kriege und Umweltverbrechen engagieren. In Grassmanns Worten ausgedrückt: Die »erschreckende Abwärtsspirale unserer Zivilisation«, der »bisherige Kurs« in Wirtschaft und Gesellschaft führe dazu, dass »die Menschheit ihre Lebensgrundlagen zerstört«.
Auf die Frage der Frankfurter Rundschau, wie er die »Chancen für eine Erneuerung der Demokratie« sieht, ob »ausgelöst von den weltweiten Schülerprotesten … ein neues 1968« möglich sei, antwortete er: »Ein Vergleich mit 1968 greift zu kurz. Wir brauchen wesentlich mehr als das, was damals geschah. Es geht nicht nur um gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch um einen fundamentalen Wandel in der Art und Weise, wie wir produzieren und konsumieren.«
Das Interview war mit dem Satz überschrieben: »Wir brauchen eine faire, keine freie Wirtschaft.« Eine, die den Lebensinteressen der Menschen gerecht werden könnte.
Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum die CDU damals zu einer solchen Formulierung griff. Nach 1945 machten sich auch in den westlichen Besatzungszonen kapitalismuskritische Tendenzen bemerkbar – im Bewusstsein der Tatsache, dass Hitler und seine Bewegung schon vor 1933 von Großindustriellen finanzielle und politische Förderung erhalten hatten, dass die NS-Diktatur maßgeblich mit ihrer Hilfe errichtet worden war, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ohne Unterstützung durch »die Wirtschaft« nicht möglich gewesen wären. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die demokratiegefährdende Macht von Banken und Konzernen unter Kontrolle gebracht werden müsse. Zudem war innerhalb der CDU der linke Flügel noch stark, der einen »christlichen Sozialismus« forderte. Schließlich mochten es auch taktische Erwägungen sein, die dazu führten, dass die CDU eine »Neuordnung von Grund aus« proklamierte: »Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.«
Aus der nach dem Ahlener Programm angestrebten »gemeinwirtschaftlichen Ordnung« wurde dann zwar nichts, aber immerhin blieb das Grundgesetz der 1949 gegründeten Bundesrepublik für Entwicklungen hin zu einer Wirtschaftsdemokratie offen. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums an Produktionsmitteln und die Möglichkeit zu deren Vergesellschaftung, wenn es dem »Wohl der Allgemeinheit« dient, wurden in Artikel 14 und 15 der Verfassung ausdrücklich festgeschrieben.
In einem Interview, das unter dem Titel »Kein Marktversagen, sondern Staatsversagen« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. August erschien, forderte Marco Buschmann als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion jetzt die Streichung des Grundgesetzartikels, der Vergesellschaftungen erlaubt. Der sei ein »Relikt aus der Nachkriegszeit« und diene nur noch dazu, »populistische Debatten anzuzetteln«: »Denken Sie etwa an die Idee, BMW zu verstaatlichen.« Auch die von Mieterinitiativen erhobene Forderung, die Privatisierung ehemals kommunaler Wohnungsunternehmen rückgängig zu machen, um den horrenden Mietpreissteigerungen entgegenzusteuern, sieht Buschmann als Gefahr für die Eigentümerfreiheit: »Kommandowirtschaft ohne privates Eigentum macht alle arm und geht besonders zu Lasten der Schwächsten.«
An der Argumentation des FDP-Politikers ist sicherlich richtig, dass es keine Verbesserung bringen würde, wenn man Privateigentum einfach nur verstaatlichen würde. Es geht darum, ob die großen Unternehmen weitgehend demokratiefreie Zonen bleiben sollen, es geht um die Demokratisierung der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, es geht um den Ausbau und die Förderung der »Gemeingüter« (Commons) und einer »Gemeinwohlökonomie« – nichts anderes kann heute im wohlverstandenen Sinn mit Vergesellschaftung gemeint sein, wie sie das Grundgesetz ermöglicht.
An der Aussage des Ahlener Programms von 1947, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden sei, ist der Begriff der Lebensinteressen bemerkenswert. Wörtlich genommen besagt er, dass die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht nur keinesfalls die beste aller Welten darstellt, weil sie Wachstum, Wohlstand, Freiheit und demokratische Verhältnisse ermögliche, sondern dass sie den Bedürfnissen und Interessen der Menschen eklatant widersprechen, ja ihr Leben selbst gefährden kann.
Das gegenwärtig brisanteste Beispiel dafür ist der durch unsere Produktions- und Konsumtionsweise bedingte Klimawandel mit drohenden katastrophalen Folgen für Mensch und Natur.
Dazu ein nachdenklich gewordener ehemaliger Vertreter der Unternehmerseite: Peter H. Grassmann war jahrzehntelang in Führungspositionen tätig, unter anderem in den 1980er und 1990er Jahren als Vorstandsmitglied beim Technologiekonzern Siemens. Seither hat er sich zu einem Kritiker der finanzmarktgetriebenen neoliberalen Marktwirtschaft entwickelt und propagiert in seinem in diesem Jahr im Frankfurter Westend Verlag erschienenen Buch »Zähmt die Wirtschaft!« wirtschaftsethische Positionen und systemtranszendierende Reformvorschläge.
Die Wirtschaft sei heute gefangen »zwischen Börse und Lobbyismus«, sagte er in einem Interview in der Frankfurter Rundschau am 20./21. Juli. Er benannte die »Skandale der letzten Jahrzehnte – zum Beispiel die Korruptionsskandale oder den Gebäudeeinsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch«. Und den Skandal neokolonialer oder neofeudaler Ausbeutung: »Bei sozialen Fragen, etwa bei der Textilproduktion in den ärmsten Ländern, sorgen die Konzerne, die das in der Hand hätten, nicht für faire Löhne. Sie folgen nicht einmal so einleuchtenden Vorschlägen wie dem des Soziologen Peter Spiegel in seinem Buch ‚Die 1-Dollar-Revolution‘, der einen Dollar pro Stunde als Mindestlohn vorschlägt. Das brächte einen enormen Rückgang der weltweiten Armut ... Alles, was Kosten spart, wird getan, alles, was fair, aber nicht ganz so preiswert wäre, wird vermieden.«
Grassmann führt das auf die »Gier nach Geld und Gold« und auf eine »fehlende Werteorientierung« zurück, nicht auf die Orientierung am Tauschwert, an der Gewinnmaximierung, die für das kapitalistische Wirtschaftssystem nun einmal charakteristisch sind. Er will, dass die Politik dem Grenzen setzt, dass sie »strengere Regeln erzwingt«, »verpflichtende Leitlinien zu den großen Themen wie Klimaschutz, soziale Verantwortung und global faire Produktions- und Handelsketten«. Inwieweit das durch die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen erreicht werden kann – unter anderem verbindliche Selbstverpflichtungen, mehr fachliche und wirtschaftliche Kompetenz bei Politikern, mehr Partizipation für die Bürgerinnen und Bürger in Wirtschaft und Gesellschaft, Volksentscheide bei zentralen politischen Themen – mag dahingestellt bleiben.
Den Satz aus dem Ahlener Programm von 1947 aber könnte Grassmann wohl heute schon oder wieder unterschreiben, so wie viele andere, die sich in den Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, gegen imperiale Kriege und Umweltverbrechen engagieren. In Grassmanns Worten ausgedrückt: Die »erschreckende Abwärtsspirale unserer Zivilisation«, der »bisherige Kurs« in Wirtschaft und Gesellschaft führe dazu, dass »die Menschheit ihre Lebensgrundlagen zerstört«.
Auf die Frage der Frankfurter Rundschau, wie er die »Chancen für eine Erneuerung der Demokratie« sieht, ob »ausgelöst von den weltweiten Schülerprotesten … ein neues 1968« möglich sei, antwortete er: »Ein Vergleich mit 1968 greift zu kurz. Wir brauchen wesentlich mehr als das, was damals geschah. Es geht nicht nur um gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch um einen fundamentalen Wandel in der Art und Weise, wie wir produzieren und konsumieren.«
Das Interview war mit dem Satz überschrieben: »Wir brauchen eine faire, keine freie Wirtschaft.« Eine, die den Lebensinteressen der Menschen gerecht werden könnte.
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