Carl von Ossietzky wurde am 3. Oktober 1889 in Hamburg geboren und am 10. November desselben Jahres wegen der katholischen Konfession seines Vaters Carl Ignatius von Ossietzky in der »römisch-katholischen Kirche zu Hamburg«, genannt »der kleine Michel«, getauft. Nach dem frühen Tod des Vaters 1891 nahm dessen Schwester den kleinen Carl bis zu seinem zehnten Lebensjahr in ihre Obhut. Carl von Ossietzkys Ehefrau Maud vermerkte dazu später: »Hier war die katholische Kirche, in welche die streng gläubige Frau den Jungen stets mitnahm, und hier keimte durch das religiöse Zuviel die erste Abneigung gegen kirchliche Dogmen, die später wie ein lästiger Ballast abgeworfen wurden.«
Nachdem Ossietzkys Mutter Rosalie Marie, die evangelisch war, 1898 in zweiter Ehe den Bildhauer und Sozialdemokraten Gustav Walther geheiratet hatte, nahm sie den Jungen wieder zu sich und erzog ihn fortan evangelisch, so dass er am 23. März 1904 in einer der Hamburger Hauptkirchen, St. Michaelis, dem »Michel«, konfirmiert wurde, und zwar vermutlich durch den Hauptpastor Georg Behrmann, der als »Senior« zugleich höchster Repräsentant der »Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate« war. Hinsichtlich der vorausgehenden zweijährigen Konfirmandenunterweisung galt um 1900: »Der Stoff ist der Katechismus, durch Bibellesen unterstützt, während der Pfarrer Biblische Geschichte und Kirchenlieder dem Lehrer überläßt.« (»Konfirmandenunterweisung«, in: »Religion in Geschichte und Gegenwart«, Bd. 3, 1959) Dazu kamen bisweilen erbauliche Geschichten aus der »Heiden-Mission«, die damals zeitweise mit den brutalen Kolonialbehörden, zum Beispiel im Gebiet der Hereros, Hand in Hand arbeitete, sowie Erzählungen der Heldentaten Luthers. Das Glaubensbekenntnis, das der Konfirmand Ossietzky bei der Konfirmation öffentlich ablegen musste, hatte für ihn ebensowenig Bestand wie die Dogmen, die er in der katholischen Erziehung bei seiner Tante gelernt hatte. Dazu trug sicherlich bei, dass sein Stiefvater ihn auf Parteiveranstaltungen der SPD mitnahm, wo sein Interesse an Politik und Geschichte geweckt wurde und er die Argumente der »anschwellenden Kirchenaustrittsbewegung gegen die Staatskirche«... »mit ihrer unheilvollen Macht über die Schule« kennenlernte, die ihn überzeugten.
In seinen über 1000 Veröffentlichungen in den Jahren 1911 bis 1933 setzt Ossietzky sich immer wieder mit den beiden Großkirchen auseinander, mit ihren Strukturen und Traditionen, ihren Einflüssen auf Politik, Kunst und Kultur sowie auch mit ihren namhaften Repräsentanten, wie beispielsweise Luther, etlichen Päpsten, besonders hervorgehoben Benedikt XV., den Politikern des katholischen Zentrums, vor allem mit dem durch Rechtsextreme ermordeten Matthias Erzberger, später auch mit dem Hitlerfreund, Prälaten und Vorsitzenden des Zentrums ab 1928 Ludwig Kaas.
Es können aus der Fülle des Materials nur einige, allerdings, wie ich meine, wesentliche Einsichten Ossietzkys zu den Großkirchen wiedergegeben werden, die dem bis heute uninformiert gehaltenen Kirchenvolk immer noch weitgehend unbekannt sind.
Ossietzky beschreibt den »Katholizismus in Deutschland« am Ende des Weltkrieges als eine »hoffnungslose Spießerangelegenheit«, die durch Bismarcks »Kulturkampf« 1871 bis 1878 und die nachfolgende Bevormundung durch »kleine protestantische Pfaffen«, »die ihre katholischen Volksgenossen mit konsistorialrätlichem Anathema belegten«, zu einer Organisation ohne Selbstbewusstsein geworden war. Ihr ruft er, mit Bitterkeit gegen »die graue Muckerei der Luther- und Calvin-Epigonen«, »die Zeiten in Erinnerung, da Kirchenfürsten am Rhein und Main die Schlösser, Kirchen und Klöster mit Kunstwerken schmücken ließen«. Das schrieb Ossietzky im März 1921, kurz bevor der katholische Politiker Matthias Erzberger im August desselben Jahres von Rechtsradikalen hinterhältig erschossen wurde. In dem Artikel »Zwischen den Schlachten«, der kurz nach der Ermordung erschien und in etlichen Aussagen heute wieder aktuell ist, bewundert der Verfasser »die mutige Hand« Erzbergers, mit der er das Waffenstillstandsabkommen zwischen Deutschland und der Entente unterzeichnet hatte, wozu »die stolzen Herren mit Portepee und Goldbordüren, die drei Jahre hindurch jedem Verständigungsfrieden gewehrt haben« – die Herren v. Hindenburg und General v. Stein –, plötzlich keinen Ehrgeiz verspürten ...«. Wie der Fall Erzberger zeigt, hat sich die (gemeint: die katholische) Kirche nach Auffassung Ossietzkys ja »nicht immer … gegen progressive Strömungen so feindlich, so ablehnend verhalten«. Dazu verweist er auf die »gewaltigen Päpste der Renaissance«, den Papst Clemens XIV., einen »Geistesgenosse[n] Voltaires«, auf den »bedeutendsten Papst des vorigen Jahrhunderts, … Pio nono, [der] wenigstens in seinen Anfängen mit den Liberalen und den Carbonariten, den Bolschewisten von damals, paktiert« hat. Und er – der Pazifist Ossietzky – rühmt Benedikt XV., »de[n] große[n] Papst des Weltkrieges, der mit Demokraten, Pazifisten und Freimaurern zusammen[ging] und … damit jenes hohe politische Ansehen der päpstlichen Kurie (schuf), wovon sie bis jetzt gezehrt hat. Wieviel von dem Kapital verwirtschaftet ist, werden wir bald wissen«. Im Weltbühne-Aufsatz »Katholische Diktatur« stellte Ossietzky 1931 fest: »Was dem deutschen Katholizismus fehlt, das ist ein wahrhaft christliches Genie, ein neuer Franciscus [sic! H. H.], der Gott in der leidenden Kreatur sucht und findet. Die Vorsehung hat es indessen anders gewollt. Sie hat ihm keinen Heiligen beschert, sondern einen Diktator, Herrn Doktor Brüning« – einen Zentrumsmann als Reichskanzler, und dazu, als Vorsitzenden der Partei, einen Prälaten, Ludwig Kaas, einen »wieselnasigen Herrn« (»Der erlöste Vatikan«, Weltbühne 1929), der die »Tintenfischtaktik« beherrschte, womit »schwarze Wolken verdunkelten, was geschah oder nicht geschah« und womit er, nota bene, 1933 seine Fraktion dazu brachte, Hitlers Ermächtigungsgesetz zuzustimmen.
Mit der lutherischen Kirche, dem Protestantismus, den Ossietzky »stets nur als ein Organ des Staates, ein sozusagen geistiges Mittel zur Beherrschung der Untertanen«, beschreibt, geht er nicht so einfühlsam-kritisch um wie mit der katholischen Kirche, ihrer Kunst und etlichen »bedeutenden« Gestalten wie Papst Benedikt XV. und Erzberger, die sie auch hervorbrachte.
Zwar findet er für den jungen Luther bis 1525 rühmende Worte für seinen »guten alten Luther-Zorn«, der ihn, anders als die Humanisten, zur Tat trieb, wodurch »das Volk aufstand« und er »die Suprematie des Papstes dadurch erledigte«, dass er ihr »das Recht der freien Persönlichkeit entgegengestellt hatte«. Erinnert wird dabei an den »Thesenanschlag« von 1517, an die Verbrennung der päpstlichen Bulle von 1520, die den Bann über den Ketzer androhte, sowie an Luthers Auftritt am 18. April 1521 in Worms vor Kaiser und Reich, wo Luther es ablehnte, seine Werke zu widerrufen. »Der Luther war 1521 noch der ungebrochene, kompromisslose Mann ... Ein Wort wie das ›Hier steh‘ ich, ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen!‹ schwingt sich, trotzig zugleich und frühlingsjung, durch die Jahrhunderte.« (»Luther in Worms«, 1921). Doch bald danach »überlieferte er das Volk sofort den Fürsten und wurde der Vater des ›beschränkten Untertanenverstandes‹« – »der neue Papst von Wittenberg«, dessen Kirche schließlich »keine geistige Macht war, sondern eben nur eine Behörde ... wie das Kriegsministerium und die Remontekammern« (»Die Kirche Luthers«, 1921). Das wurde erstmals sichtbar in den Unruhen im Frühjahr 1525, die bald danach zum »Bauernkrieg« führten, in dem er sich vorbehaltlos auf die Seite der Fürsten stellte und sie zur Abmetzelung der Aufständischen antrieb. Davon betroffen: Auch sein langjähriger Mitarbeiter Thomas Münzer, den er »Volksverführer schalt«, den »Satan von Allstedt«. Solche »Lügen«, schreibt Ossietzky in einem Aufsatz von 1925 (»Thomas Münzer bei Frankenhausen. Gegen eine Geschichtslüge«) haben »seinen [gemeint: Münzers] Ruf vergiftet. Die Nachwelt hat in ihm immer entweder einen grausamen Demagogen oder einen irren Fanatiker gesehen. Er war keines von beiden ... Er trug in die hemmungslose Menschenausbeutung seiner Epoche die soziale Idee viel späterer Zeiten ... Er war Lichtbringer, nicht Brandfackel«. Die Wahrheit dieser Einsicht, die in der DDR-Geschichtsschreibung erstmals umfassend aufgenommen und verbreitet wurde, ist in den westlichen Kirchen immer noch nicht angekommen. Das wäre in der kürzlichen Reformationsdekade für das Lutherbild ja auch abträglich gewesen!
Nachdem den lutherischen »Fürstenkirchen« 1918 ihre Herren abhanden gekommen waren, breiteten sich bei ihnen zunächst große Unsicherheit und Trauer um den Verlust des Kaisers aus, so dass Ossietzky 1921 mutmaßte: »Die evangelische Kirche befindet sich mitten in einem Auflösungsprozess.« Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen: Ihr Führungspersonal fand, von Ausnahmen wie den »religiösen Sozialisten« abgesehen, Platz und Anerkennung im rechten Lager bei der DNVP und später auch als »Deutsche Christen« in der NS-Bewegung. Insbesondere durch ihren Kampf gegen die »entschädigungslose Fürstenenteignung« 1926 wurde der Volksentscheid, von der SPD und KPD gemeinsam getragen, dazu abgelehnt – mit Auswirkungen bis in unsere Tage, in denen das ehemals kriegstreiberische und später teilweise NS-verbandelte »Haus Hohenzollern« eine Restitution und Entschädigung für nach 1945 beschlagnahmte Werte fordert. Damals, 1926, beschwor die evangelische Kirche in ihren Verlautbarungen und Predigten gegen die »Gottlosen« unaufhörlich das 7. Gebot (»Du sollst nicht stehlen!«) als angeblich Gottes heiliger Wille zur Ablehnung der »Fürstenenteignung«. Ossietzky hatte das im Vorfeld der Abstimmung befürchtet und geschrieben: »Die Kirche wird ihren ganzen Einfluss bald spielen, bald wuchten lassen. Faulhaber und Doehring [gemeint: Bruno D., der martialische Domprediger des Kaisers, H. H.], Krummstab und Swastika werden Verbrüderung feiern.« (»Fürstenabfindung und Russenvertrag«, 1926) Zu einer solchen Verbrüderung kam es auch bei einem weiteren Volksentscheid drei Jahre später: Diesmal hatten Hitler und Hugenberg für die NSDAP und die DNVP den »Entwurf eines Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes« vorgelegt und wurden dabei unterstützt vom Stahlhelmführer Franz Seldte, vom Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß und vom württembergischen Kirchenpräsidenten Theophil Wurm für die evangelische Kirche, demselben entschiedenen Antisemiten Wurm, der auch 1945 als erster Ratsvorsitzender der EKD die Leitung der evangelischen Kirche übernahm. Doch das, was dann folgte, ist ein neues dunkles Kapitel aus der Kirchengeschichte, die die Gemeinden heute ebensowenig kennen wie die Geschichte ihrer Kirche zur Zeit der Weimarer Republik, in der sie die »verhasste Demokratie« (Hans Prolingheuer: »Kleine politische Kirchengeschichte«, 1984) bekämpfte, um wieder einen starken »Führer« zu haben. So kam es, dass nach dem 30. Januar 1933, als der Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, in ihr Jubel über Jubel zu hören war. Nun »beseelten allein Freude und Dankbarkeit die Christenheit in Deutschland!« (ebenda). Ossietzky hatte das geahnt!
Alle Zitate dieses Aufsatzes, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus: Carl von Ossietzky, Sämtliche Schriften in VIII Bänden, Rowohlt 1994.
Nachdem Ossietzkys Mutter Rosalie Marie, die evangelisch war, 1898 in zweiter Ehe den Bildhauer und Sozialdemokraten Gustav Walther geheiratet hatte, nahm sie den Jungen wieder zu sich und erzog ihn fortan evangelisch, so dass er am 23. März 1904 in einer der Hamburger Hauptkirchen, St. Michaelis, dem »Michel«, konfirmiert wurde, und zwar vermutlich durch den Hauptpastor Georg Behrmann, der als »Senior« zugleich höchster Repräsentant der »Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate« war. Hinsichtlich der vorausgehenden zweijährigen Konfirmandenunterweisung galt um 1900: »Der Stoff ist der Katechismus, durch Bibellesen unterstützt, während der Pfarrer Biblische Geschichte und Kirchenlieder dem Lehrer überläßt.« (»Konfirmandenunterweisung«, in: »Religion in Geschichte und Gegenwart«, Bd. 3, 1959) Dazu kamen bisweilen erbauliche Geschichten aus der »Heiden-Mission«, die damals zeitweise mit den brutalen Kolonialbehörden, zum Beispiel im Gebiet der Hereros, Hand in Hand arbeitete, sowie Erzählungen der Heldentaten Luthers. Das Glaubensbekenntnis, das der Konfirmand Ossietzky bei der Konfirmation öffentlich ablegen musste, hatte für ihn ebensowenig Bestand wie die Dogmen, die er in der katholischen Erziehung bei seiner Tante gelernt hatte. Dazu trug sicherlich bei, dass sein Stiefvater ihn auf Parteiveranstaltungen der SPD mitnahm, wo sein Interesse an Politik und Geschichte geweckt wurde und er die Argumente der »anschwellenden Kirchenaustrittsbewegung gegen die Staatskirche«... »mit ihrer unheilvollen Macht über die Schule« kennenlernte, die ihn überzeugten.
In seinen über 1000 Veröffentlichungen in den Jahren 1911 bis 1933 setzt Ossietzky sich immer wieder mit den beiden Großkirchen auseinander, mit ihren Strukturen und Traditionen, ihren Einflüssen auf Politik, Kunst und Kultur sowie auch mit ihren namhaften Repräsentanten, wie beispielsweise Luther, etlichen Päpsten, besonders hervorgehoben Benedikt XV., den Politikern des katholischen Zentrums, vor allem mit dem durch Rechtsextreme ermordeten Matthias Erzberger, später auch mit dem Hitlerfreund, Prälaten und Vorsitzenden des Zentrums ab 1928 Ludwig Kaas.
Es können aus der Fülle des Materials nur einige, allerdings, wie ich meine, wesentliche Einsichten Ossietzkys zu den Großkirchen wiedergegeben werden, die dem bis heute uninformiert gehaltenen Kirchenvolk immer noch weitgehend unbekannt sind.
Ossietzky beschreibt den »Katholizismus in Deutschland« am Ende des Weltkrieges als eine »hoffnungslose Spießerangelegenheit«, die durch Bismarcks »Kulturkampf« 1871 bis 1878 und die nachfolgende Bevormundung durch »kleine protestantische Pfaffen«, »die ihre katholischen Volksgenossen mit konsistorialrätlichem Anathema belegten«, zu einer Organisation ohne Selbstbewusstsein geworden war. Ihr ruft er, mit Bitterkeit gegen »die graue Muckerei der Luther- und Calvin-Epigonen«, »die Zeiten in Erinnerung, da Kirchenfürsten am Rhein und Main die Schlösser, Kirchen und Klöster mit Kunstwerken schmücken ließen«. Das schrieb Ossietzky im März 1921, kurz bevor der katholische Politiker Matthias Erzberger im August desselben Jahres von Rechtsradikalen hinterhältig erschossen wurde. In dem Artikel »Zwischen den Schlachten«, der kurz nach der Ermordung erschien und in etlichen Aussagen heute wieder aktuell ist, bewundert der Verfasser »die mutige Hand« Erzbergers, mit der er das Waffenstillstandsabkommen zwischen Deutschland und der Entente unterzeichnet hatte, wozu »die stolzen Herren mit Portepee und Goldbordüren, die drei Jahre hindurch jedem Verständigungsfrieden gewehrt haben« – die Herren v. Hindenburg und General v. Stein –, plötzlich keinen Ehrgeiz verspürten ...«. Wie der Fall Erzberger zeigt, hat sich die (gemeint: die katholische) Kirche nach Auffassung Ossietzkys ja »nicht immer … gegen progressive Strömungen so feindlich, so ablehnend verhalten«. Dazu verweist er auf die »gewaltigen Päpste der Renaissance«, den Papst Clemens XIV., einen »Geistesgenosse[n] Voltaires«, auf den »bedeutendsten Papst des vorigen Jahrhunderts, … Pio nono, [der] wenigstens in seinen Anfängen mit den Liberalen und den Carbonariten, den Bolschewisten von damals, paktiert« hat. Und er – der Pazifist Ossietzky – rühmt Benedikt XV., »de[n] große[n] Papst des Weltkrieges, der mit Demokraten, Pazifisten und Freimaurern zusammen[ging] und … damit jenes hohe politische Ansehen der päpstlichen Kurie (schuf), wovon sie bis jetzt gezehrt hat. Wieviel von dem Kapital verwirtschaftet ist, werden wir bald wissen«. Im Weltbühne-Aufsatz »Katholische Diktatur« stellte Ossietzky 1931 fest: »Was dem deutschen Katholizismus fehlt, das ist ein wahrhaft christliches Genie, ein neuer Franciscus [sic! H. H.], der Gott in der leidenden Kreatur sucht und findet. Die Vorsehung hat es indessen anders gewollt. Sie hat ihm keinen Heiligen beschert, sondern einen Diktator, Herrn Doktor Brüning« – einen Zentrumsmann als Reichskanzler, und dazu, als Vorsitzenden der Partei, einen Prälaten, Ludwig Kaas, einen »wieselnasigen Herrn« (»Der erlöste Vatikan«, Weltbühne 1929), der die »Tintenfischtaktik« beherrschte, womit »schwarze Wolken verdunkelten, was geschah oder nicht geschah« und womit er, nota bene, 1933 seine Fraktion dazu brachte, Hitlers Ermächtigungsgesetz zuzustimmen.
Mit der lutherischen Kirche, dem Protestantismus, den Ossietzky »stets nur als ein Organ des Staates, ein sozusagen geistiges Mittel zur Beherrschung der Untertanen«, beschreibt, geht er nicht so einfühlsam-kritisch um wie mit der katholischen Kirche, ihrer Kunst und etlichen »bedeutenden« Gestalten wie Papst Benedikt XV. und Erzberger, die sie auch hervorbrachte.
Zwar findet er für den jungen Luther bis 1525 rühmende Worte für seinen »guten alten Luther-Zorn«, der ihn, anders als die Humanisten, zur Tat trieb, wodurch »das Volk aufstand« und er »die Suprematie des Papstes dadurch erledigte«, dass er ihr »das Recht der freien Persönlichkeit entgegengestellt hatte«. Erinnert wird dabei an den »Thesenanschlag« von 1517, an die Verbrennung der päpstlichen Bulle von 1520, die den Bann über den Ketzer androhte, sowie an Luthers Auftritt am 18. April 1521 in Worms vor Kaiser und Reich, wo Luther es ablehnte, seine Werke zu widerrufen. »Der Luther war 1521 noch der ungebrochene, kompromisslose Mann ... Ein Wort wie das ›Hier steh‘ ich, ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen!‹ schwingt sich, trotzig zugleich und frühlingsjung, durch die Jahrhunderte.« (»Luther in Worms«, 1921). Doch bald danach »überlieferte er das Volk sofort den Fürsten und wurde der Vater des ›beschränkten Untertanenverstandes‹« – »der neue Papst von Wittenberg«, dessen Kirche schließlich »keine geistige Macht war, sondern eben nur eine Behörde ... wie das Kriegsministerium und die Remontekammern« (»Die Kirche Luthers«, 1921). Das wurde erstmals sichtbar in den Unruhen im Frühjahr 1525, die bald danach zum »Bauernkrieg« führten, in dem er sich vorbehaltlos auf die Seite der Fürsten stellte und sie zur Abmetzelung der Aufständischen antrieb. Davon betroffen: Auch sein langjähriger Mitarbeiter Thomas Münzer, den er »Volksverführer schalt«, den »Satan von Allstedt«. Solche »Lügen«, schreibt Ossietzky in einem Aufsatz von 1925 (»Thomas Münzer bei Frankenhausen. Gegen eine Geschichtslüge«) haben »seinen [gemeint: Münzers] Ruf vergiftet. Die Nachwelt hat in ihm immer entweder einen grausamen Demagogen oder einen irren Fanatiker gesehen. Er war keines von beiden ... Er trug in die hemmungslose Menschenausbeutung seiner Epoche die soziale Idee viel späterer Zeiten ... Er war Lichtbringer, nicht Brandfackel«. Die Wahrheit dieser Einsicht, die in der DDR-Geschichtsschreibung erstmals umfassend aufgenommen und verbreitet wurde, ist in den westlichen Kirchen immer noch nicht angekommen. Das wäre in der kürzlichen Reformationsdekade für das Lutherbild ja auch abträglich gewesen!
Nachdem den lutherischen »Fürstenkirchen« 1918 ihre Herren abhanden gekommen waren, breiteten sich bei ihnen zunächst große Unsicherheit und Trauer um den Verlust des Kaisers aus, so dass Ossietzky 1921 mutmaßte: »Die evangelische Kirche befindet sich mitten in einem Auflösungsprozess.« Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen: Ihr Führungspersonal fand, von Ausnahmen wie den »religiösen Sozialisten« abgesehen, Platz und Anerkennung im rechten Lager bei der DNVP und später auch als »Deutsche Christen« in der NS-Bewegung. Insbesondere durch ihren Kampf gegen die »entschädigungslose Fürstenenteignung« 1926 wurde der Volksentscheid, von der SPD und KPD gemeinsam getragen, dazu abgelehnt – mit Auswirkungen bis in unsere Tage, in denen das ehemals kriegstreiberische und später teilweise NS-verbandelte »Haus Hohenzollern« eine Restitution und Entschädigung für nach 1945 beschlagnahmte Werte fordert. Damals, 1926, beschwor die evangelische Kirche in ihren Verlautbarungen und Predigten gegen die »Gottlosen« unaufhörlich das 7. Gebot (»Du sollst nicht stehlen!«) als angeblich Gottes heiliger Wille zur Ablehnung der »Fürstenenteignung«. Ossietzky hatte das im Vorfeld der Abstimmung befürchtet und geschrieben: »Die Kirche wird ihren ganzen Einfluss bald spielen, bald wuchten lassen. Faulhaber und Doehring [gemeint: Bruno D., der martialische Domprediger des Kaisers, H. H.], Krummstab und Swastika werden Verbrüderung feiern.« (»Fürstenabfindung und Russenvertrag«, 1926) Zu einer solchen Verbrüderung kam es auch bei einem weiteren Volksentscheid drei Jahre später: Diesmal hatten Hitler und Hugenberg für die NSDAP und die DNVP den »Entwurf eines Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes« vorgelegt und wurden dabei unterstützt vom Stahlhelmführer Franz Seldte, vom Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß und vom württembergischen Kirchenpräsidenten Theophil Wurm für die evangelische Kirche, demselben entschiedenen Antisemiten Wurm, der auch 1945 als erster Ratsvorsitzender der EKD die Leitung der evangelischen Kirche übernahm. Doch das, was dann folgte, ist ein neues dunkles Kapitel aus der Kirchengeschichte, die die Gemeinden heute ebensowenig kennen wie die Geschichte ihrer Kirche zur Zeit der Weimarer Republik, in der sie die »verhasste Demokratie« (Hans Prolingheuer: »Kleine politische Kirchengeschichte«, 1984) bekämpfte, um wieder einen starken »Führer« zu haben. So kam es, dass nach dem 30. Januar 1933, als der Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, in ihr Jubel über Jubel zu hören war. Nun »beseelten allein Freude und Dankbarkeit die Christenheit in Deutschland!« (ebenda). Ossietzky hatte das geahnt!
Alle Zitate dieses Aufsatzes, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus: Carl von Ossietzky, Sämtliche Schriften in VIII Bänden, Rowohlt 1994.
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