Dienstag, 1. Oktober 2019

Der SUV-Fahrer im Schauspielhaus (Monika Köhler)


Was wird bleiben? Vermutlich nichts. Es geht um das Stück nach dem Roman von Michel Houellebecq »Serotonin«. Wieder war es das Hamburger Schauspielhaus, das sich – nach dem Erfolg der »Unterwerfung« – an eine Dramatisierung eines aktuellen Romans machte. Drama? Eher nicht. Nacherzählung. Der Regisseur Falk Richter inszeniert eng am Text entlang. Da ist der Protagonist Florent-Claude, ein mittelalter Mittelschicht-Mann, der offenbar nichts zu tun hat, als sich seiner zelebrierten Depression zu widmen, seiner stilisierten Selbstbespiegelung. Dieses Ich spaltet der Regisseur in vier Personen (Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Tilman Strauß, Samuel Weiss), die oft gleichzeitig auf der Bühne agieren, auch mal unterschiedlich erfolglos zu onanieren versuchen. Warum das? Eine neue Pille soll die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin bewirken – aber die Nebenwirkungen! Eine Verminderung der Libido.

Das, was ihn in seinen Augen zum Mann macht, bringen ihm nur noch Schießübungen mit dem Gewehr. Er, »ein Herr und Meister, das Universum war von einem gerechten Gott nach meinen Bedürfnissen geschaffen worden«. Aber selbst das Schießen will ihm nicht gehorchen, er sieht sich als »Weichei, das obendrein noch alt wurde«. Ein Satz kreist in seinem Kopf: »Wer nicht den Mut hat zu töten, hat nicht den Mut zu leben.«

Selbstmitleidig betrachtet er sein verflossenes Leben. Frauen sind grundsätzlich Schlampen – ein paar Namen fallen ihm ein. War das Liebe? Er denkt an »Knackärsche« und »Muschis«. Er sieht sich heimlich ein Video seiner japanischen Freundin an, wie sie Sex mit einem Dobermann hat. Soll der Zuschauer Mitleid haben oder sich in Grausen abwenden? Oder alles als große Ironie sehen? Der Florent-Claude von Houellebecq bemüht sich, das Bild des chauvinistischen Bösmenschen auszumalen. Er raucht überall, trinkt (keinen Wein), trennt nicht den Müll, fährt einen Mercedes SUV G 350, definiert sich durch Marken, gibt sich elitär – doch die aufgebaute Panzerschicht bröckelt. Die Glückspillen helfen nicht.

Die Frauen im Stück: zwei Mädchen (Sandra Gerling, Josefine Israel), sie versuchen, ein Gegenpol zu sein. Rechts und links aus den Logen rufen sie, nehmen Florent-Claudes Provokationen auf und rappen auf der Bühne: »Jetzt sind die Fotzen wieder da!« Oder, als Bild der folgsamen kleinen Frau, verkriechen sie sich im rosa Puppenhaus. Nur ein Fensterchen gibt den Blick auf die Welt frei. Sie protestieren gegen die industrielle Tiervermarktung, auf der Schräge stehend wie auf einer Hühnerleiter – die es schon gar nicht mehr gibt. Ihn, den Mann, lässt das kalt. Er erinnert sich: Vielleicht wäre ein Leben mit Camille möglich gewesen. Er spürt sie auf, verfolgt sie mit seinem SUV bis vor ein einsames Haus, wo sie mit ihrem Kind lebt. Das würde ihn stören – ein zweiter Mann. Und so lauert er mit seinem Steyr Mannlicher und dem Marken-Fernglas dem kleinen Jungen auf, den er am Fenster sitzen sieht. Camille ist nicht da. Aber er schafft es nicht, den Jungen zu töten, obwohl das Kind ganz vertieft in sein Spiel ist. Er – ein Weichei eben.

Die Waffe bekam er von einem alten Studienfreund. Ein Adliger mit viel Land, aber wenig Erfolg mit den Milchkühen. Schuld: die EU, Brüssel. Dieser Freund, Aymerick, den auch noch seine Frau verlassen hat, entwickelt sich zu einem Aufständischen. Im Video – heute unverzichtbar – lodern Feuer, landwirtschaftliche Großmaschinen brennen, auch auf der Bühne, alles voller Rauch. Im Hintergrund, ganz oben steht Aymerick wie ein Held und richtet die Waffe gegen sich selbst. Der Kampf der normannischen Bauern gegen den Zwang aus Brüssel: verloren. Es sind nicht die Gelbwesten, auch wenn manche Houellebecq als Visionär sehen. Wie in »Unterwerfung« der Islamismus, so ist es jetzt der Widerstand gegen die EU, der dem Autor viel Sympathie von rechts einbringt.

Die Menschen sind zu Tieren geworden, stecken in zottigen Fellen – ein Rückfall in die Steinzeit? Ach nein, der mittelalte weiße Mann ist so verfettet, dass er – nackt – einem rosa Schwein gleicht, zum Schlachten aufgehängt.

Rauchen im Hotelzimmer? Das geht gar nicht mehr. Florent-Claude muss ausziehen, sucht sich ein Hochhaus-Appartement. Nahe dem Nichts, mit Selbstmord im Kopf. Er will kein Erbe hinterlassen, Geld auf dem Konto – für wen? Er hätte es spenden können, aber wem? Den »Querschnittsgelähmten, den Obdachlosen, den Migranten, den Blinden?« Er wollte seine »Kohle« nicht »irgendwelchen Rumänen zuschustern«. Er hatte, sagt er, »keine Gutherzigkeit entwickelt«. Und so kam es wohl, dass er sich Gott zuwandte, zwangsläufig. Der Regisseur nimmt den Schluss des Romans dankbar auf – als Mahnung oder Trost? Gottes »überschwängliche Liebe, die in unsere Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt ...« Er verstehe, sagt der Selbstmord-Kandidat, den »Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen. Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht«. Sie, sagt er. Und dann: »Muss ich wirklich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben?« Und auch in Hamburg fragt er – wer? »Muss man wirklich so deutlich werden?« Die beiden Mädchen antworten von oben: »Offenbar ja.«

Der Hamburger Premieren-Beifall war ungeteilt.

Der Roman »Serotonin« von Michel Houellebecq ist in der Übersetzung von Stephan Kleiner im DuMont Buchverlag erschienen (330 Seiten, 24 €).

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