Samstag, 21. Juli 2018

Stoppt die Gewalt! (Kurt Stand)


Zu Herzen gehend und ermutigend zugleich war der March for Our Lives (Marsch für unser Leben), an dem sich junge Menschen nach dem Schulmassaker von Parkland, Florida, in Washington DC und überall in den USA beteiligten. Initiiert wurde er von den Klassenkameraden der 17 Schülerinnen und Schüler, die im Frühjahr von einem jungen Mann mit einer jener automatischen Waffen getötet worden waren, die in den Staaten legal und problemlos gekauft werden können. Nach dem Marsch am 17. März folgten am 20. April weitere Aktionen: Junge Menschen im ganzen Land verließen ihre Schulen, um auf den 19. Jahrestag des Columbine-Massakers hinzuweisen. Neunzehn Jahre – die führenden Aktivisten der heutigen Bewegung sind jünger. Während all der Jahre seit dem Massaker glänzten öffentliche Institutionen durch Inaktivität. Und auch in den zwei Monaten seit dem Streik Ende April gab es weitere Schulschießereien, weitere Polizeigewalt, weitere Tote in den Städten. Dennoch: Wir spüren den Wind des Wandels.

Die Schüler von Parkland haben sich entschlossen, die Tötung ihrer Klassenkameraden nicht in sich hineinzufressen. Sie wollen ihr Leben nicht in Angst verbringen. Mit ihrer Haltung lösten sie Widerhall und Proteste im ganzen Land aus, denn zu viele Menschen leiden inzwischen unter der Kultur der Gewalt in den USA. Sie leiden unter einer Industrie, deren Gewinne wachsen, wenn die Unkultur der Gewalt gefördert wird. Die Unkultur manifestiert sich in den Schießereien in Orlando, Las Vegas, Newtown, Nashville, Santa Fe ... – eine Liste, die unanständig lang geworden ist. Die Menschen leiden auch, weil sie Opfer einer willkürlichen strukturellen Gewalt sind, die die verarmten schwarzen und lateinamerikanischen Siedlungen ergreift, in denen die Bewohner gefangen sind, weil ihre Hoffnungen auf Jobs und Wohnraum, Erziehung und Gesundheit systematisch zerstört werden. Geplatzte Zukunftsträume erzeugen Siedlungen der Hoffnungslosigkeit. Dazu kommt die Gewalt der Polizei und die der legalisierten Aktionen der Bürgerwehren. Die Zahl der Opfer legalisierter Mörder wird länger und länger: Stephon Clark, Michael Brown, Sandra Bland, Eric Gardner, Tamir Rice, Trayvon Martin – eine Liste, die zurückgeführt werden kann bis zur Einführung der Sklaverei in Nordamerika.

Jedes Opfer war ein Individuum mit einer Familie und Freunden, die jetzt in sich das Gefühl des Verlustes tragen. Die Wunden heilen nicht, weil die Gründe für die Gewalt weiter eitern. Und wie eine Wunde, die unbehandelt bleibt, wird der Zustand mit der Zeit immer schlimmer, so ist es auch in den USA.

Die Reden bei den Kundgebungen waren bewegend, weil sich die Sprechenden öffneten, wir alle den Schmerz in ihren Stimmen hören konnten. Sie bemühten keine Klischees, verzichteten auf Theatralik, gekünstelte oder falsche Tapferkeit. Die jugendlichen Rednerinnen und Redner – alle zwischen elf und 18 Jahren alt – traten mit einer Reife und Ernsthaftigkeit auf, die viele ältere Menschen leider vermissen lassen. Jenseits standardisierter Polit-Rhetorik lösten sie die sonst übliche Distanz zwischen Sprechern und Zuhörern auf. Als das Gesprochene verhallt war und die Menge sich verlief, gingen wir nicht mit dem Gefühl von Ohnmacht nach Hause. Wir hatten den Reden entnommen, dass hier und jetzt gesetzgeberische Initiativen ergriffen werden können, um der Gewalt der Gewehre etwas entgegenzusetzen, statt sich ihr zu ergeben. Die Redner forderten von allen Amtsträgern offenzulegen, wie viel Geld sie von der National Rifle Association (NRA) bekommen. Sie riefen die Menschen auf, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und es dazu zu nutzen, diejenigen aus den Ämtern zu jagen, die solche Gelder erhalten. Kraftvolle Botschaften, weil sie die Forderung beinhalten, dass Mandatsträger gegenüber der Öffentlichkeit, der sie vorgeblich dienen, rechenschaftspflichtig sind und nicht gegenüber den Lobbyorganisationen, die sich mit »Spenden« einkaufen. Schon vor langer Zeit hat sich die NRA von einer Waffenbesitzervereinigung in eine Frontorganisation derer gewandelt, die aus der Tötung von Menschen einen Riesengewinn ziehen. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen diesem Lobbyverband und jenen für Privatgefängnisse oder Söldnertruppen.

Von den Beispielen für Korruption und Stimmenkauf durch die NRA, die von den Schülern dargelegt wurden, ist es nur ein logischer Schritt zu der Erkenntnis, dass der Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofes der USA im Jahr 2010, durch den Konzernzuwendungen an Politiker in Zeiten von Wahlkämpfen auf dieselbe Stufe wie das Recht auf freie Meinungsäußerung gestellt wurden, ein Krebsgeschwür ist. Korruption ist ein Ausdruck der strukturellen Ungleichheit, die in unserer Gesellschaft zwischen dem Reichtum der Konzerne und der öffentlichen Gewalt besteht. Sie kann auch beobachtet werden in der Gas- und Ölindustrie, die Politiker gekauft hat, um die Realität des Klimawandels zu leugnen. Indem die Schüler die Namen derer fordern, die futternd an den Trögen stehen, thematisieren sie die entscheidende Frage: Sind wir ein Land der Finanzmächtigen, oder sind wir ein Land, das für das Volk und vom Volk regiert wird? Die Demonstrationen der Schülerbewegung waren ermutigend, weil sie dafür gesorgt haben, dass im Ergebnis diese Frage ganz oben auf die Tagesordnung der politischen Debatte in den USA gerückt ist.

Emma Gonzalez, eine der Schülerinnen von Parkland, die ansehen mussten, wie ihre Freundinnen und Freunde starben, beschloss die Kundgebung mit der Bitte, nun für sechs Minuten und 27 Sekunden zu schweigen – exakt die Länge der Zeit des Blutbads. Die Stille war ein lauter Ruf zu handeln. Wir gemeinsam müssen handeln, die Freiheit und die Demokratie zurückerobern von den Reichen und Mächtigen, von allen, die mit einer Flut von Worten ihre eigenen blutbefleckten Hände verdecken wollen.

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