Mexiko: Wer auch
immer die Wahl am 1. Juli gewinnt, muss die Nähe zwischen Staat
und Verbrechen beenden – eine unkalkulierbare Mission
Der Freitag v. 27.6.208 (Ausgabe 26/2018)
Ihre Gesichter sind allgegenwärtig, auf Zetteln in U-Bahn-Stationen, an Laternenmasten und Hauswänden, sie sind in den Fernsehnachrichten zu sehen und werden über Facebook-Gruppen tausendfach verbreitet. Unter den Bildern sind der Name, das Alter, die Körpergröße und besondere Merkmale genannt. Dazu die Fragen: „Haben Sie diese Person gesehen? Wann und wo?“ Mexikos Verschwundene sind überall und nirgendwo. Als Anfang Juni das Register für verschwundene Personen aktualisiert wurde, zählte es 37.435 Einträge. Das hieß, 37.435 Menschen sind in diesem Land von der Bildfläche verschwunden. Weder ihre Familien noch der Staat wissen, wo sie sind. 40 Prozent mehr als noch 2014, allein seit Anfang 2018 kamen gut 2.000 Einträge hinzu. Obwohl nicht alle Vermissten Opfer eines „erzwungenen Verschwindens“ wurden, ist die Tatsache, dass von so vielen so lange jedes Lebenszeichen fehlt, eines der augenfälligsten Merkmale der Menschenrechtskrise, die Mexiko heimsucht, seit 2006 der damalige Präsident Felipe Calderón vom Partido Acción Nacional (PAN) den „Krieg gegen die Drogen“ ausrief. Was er bewirkte, war ein Krieg aller gegen alle, der bisher mehr als 200.000 Menschenleben gefordert und eine Gesellschaft traumatisiert hat, in der die Grenzen zwischen organisiertem Verbrechen und staatlicher Gewalt verschwimmen. Militär und Polizei wurden nicht nur massiv hochgerüstet, sie sind zugleich in illegale Geschäfte und den Bruch von Menschenrechten verwickelt. Längst sind die Drogenkartelle zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor des Landes geworden und durchdringen die politischen Gremien, als gehorchten sie einem ungeschriebenen Gesetz.
Der von Korruption gezeichnete Staatsapparat hat dem kaum etwas entgegenzusetzen. Die Straflosigkeit für Verbrechen der Kartelle liegt bei sagenhaften 98 Prozent. Kein Wunder, dass die Bevölkerung jegliches Vertrauen in Justiz und Polizei verloren hat, denn von allen sonst begangenen Straftaten werden überhaupt nur noch sieben Prozent angezeigt. Ein Zeichen für Realismus und Resignation gleichermaßen, wenn sich staatliche Instanzen als unfähig oder unwillig erweisen, die eigenen Bürger zu schützen. Stattdessen sind sie häufig selbst in das Kidnapping verstrickt, wie im Fall der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero. An deren Entführung und mutmaßlicher Ermordung Ende September 2014 waren nachweislich Kriminelle und Polizeibeamte beteiligt, was Verfolgung und Sühne erst recht zu verhindern scheint.
Prüfstein für López Obrador
Dazu kommen schwere Mängel bei der Erfassung von Verschwundenen. „Das offizielle Register ist unvollständig und ineffizient“, sagt Mónica Meltis, Direktorin der Organisation Data Civica, die im Kontakt mit betroffenen Familien eine alternative Datenbank aufgebaut hat. „Nur ein sorgfältig verwaltetes Dossier, das mit anderen vernetzt ist, ermöglicht eine effektive Suche nach den Vermissten.“ Desinteressierte, nachlässige Behörden hätten Tausende von Angehörigen gezwungen, selbst die letzte Spur von Verschollenen zu finden. Dabei gäbe es Recherchen, die bereits dazu geführt hätten, dass Massengräber entdeckt wurden. Sie ließen für manche Familie zur Gewissheit werden, was bis dahin nur eine Ahnung war.Im November 2017 trat ein Gesetz in Kraft, das die teilweise unfassbaren Mängel im behördlichen Umgang mit verschwundenen Personen beheben sollte. Bewirkt hat es wenig. „Was kann man erwarten, wenn noch nicht einmal das Budget der neuen Suchkommission gesichert ist?“ – fragt Mónica Meltis. Sie habe den Eindruck, es fehle aufseiten der Regierung einfach der politische Wille, das Problem ernsthaft anzugehen.
Der Versuch, mit dieser Kultur der Kollaboration zu brechen, wäre also für einen Präsidenten eine nahezu unüberschaubare Mission. Manuel López Obrador, Kandidat der Linkspartei MORENA, käme dafür in Betracht, so er denn die Abstimmung am 1. Juli für sich entscheiden sollte. Immerhin hat er auf jedem einzelnen Wahlmeeting zu verstehen gegeben, dem Staat wieder Pflichten auferlegen zu wollen, die durch eine Kapitulation vor dem organisierten Verbrechen missachtet wurden. Letzte Umfragen bescheinigen dem Bewerber, der schon 2006 und 2012 zu Präsidentschaftswahlen antrat, auf etwa die Hälfte der Stimmen rechnen zu können, während dem Rivalen Ricardo Anaya vom konservativen PAN 25 bis 27 Prozent prophezeit werden. Abgeschlagen dahinter liegen der Kandidat der unbeliebten ehemaligen Staatspartei PRI, José Antonio Meade, und der als Unabhängiger antretende Ex-Gouverneur von Nuevo León, Jaime Rodríguez Calderón.
Vidulfo Rosales, Anwalt für einige der Familien, aus denen die gekidnappten Studenten von Ayotzinapa kamen, setzt seine Hoffnungen klar auf López Obrador. Ende Mai hat der den Eltern der Verschwundenen zugesagt, als Präsident eine Kommission einberufen zu wollen, die aufarbeitet, was in der Nacht vom 26. zum 27. September 2014 tatsächlich geschehen ist, als die Studenten von der Polizei Killern des Drogensyndikats „Guerreros Unidos“ überlassen wurden. An einem solchen Untersuchungsgremium sollten auch die Vereinten Nationen beteiligt sein, so López Obrador.
Der 64-Jährige hat bei seiner Kandidatur für das höchste Staatsamt eine breite Koalition hinter sich versammelt, die über das linksdemokratische Spektrum hinaus bis in religiös konservative Kreise reicht. Was seine zahlreichen Sympathisanten zusammenhält, ist der Wunsch nach einem tiefgreifenden Wandel, nachdem für die ablaufende Amtszeit von Enrique Peña Nieto vom Partido Revolucionario Institucional (PRI) eine ausufernde Korruption wie neoliberale Privatisierungs- und Sparmaßnahmen prägend waren. Im Fall eines Wahlsieges von López Obrador könnte der Umgang mit den Verschwundenen zum symbolischen Prüfstein seiner Regierung werden. Gelingt es, Willkür und Rechtlosigkeit ein Ende zu setzen?
Sicher ist, dass der Druck einer Menschenrechtsbewegung, die sich um die Angehörigen der Verschwundenen schart, unverzichtbar sein wird. Diesen Aktivisten ist es zu verdanken, dass ein Bundesgericht im nördlichen Staat Tamaulipas Anfang Juni die bisherigen Ermittlungen im Fall Ayotzinapa als „weder effizient noch unparteiisch noch unabhängig“ eingestuft hat und den Behörden vorwirft, durch die Art ihrer Ermittlungen Menschenrechte zu verletzen. Umgehend beeilte sich die jetzige Regierung mit der Mitteilung, dass sie das Urteil für nicht bindend halte. Der Richterspruch müsse zunächst durch das Verfassungsgericht überprüft werden.
Auch die Generalstaatsanwaltschaft sprach sich einmütig gegen die Entscheidung der Richter in Tamaulipas aus. Diese hätten ihre Kompetenzen überschritten und die Gewaltenteilung missachtet. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens wird sich die nächste Regierung dem von jenem Urteil ausgehenden politischen Druck nicht entziehen können. Auch deshalb nicht, weil an so vielen Orten die Gesichter der Vermissten und Entbehrten auftauchen. Und ihre Mütter und Väter an die Entschlossenheit erinnern, wie sie einst in Argentinien die „Madres de Plaza de Mayo“ vereinte, die aus einem ähnlichen Grund auf die Straße gingen.
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