Tatsächlich berichtete ein britischer Reporter schon am Donnerstag Abend, Aufständische hätten den Fluchtkorridor, den er beobachtete, systematisch unter Feuer genommen; Zivilisten hätten sich in das von den Rebellen kontrollierte Ost-Aleppo zurückziehen müssen, eine Flucht aus dem Kampfgebiet sei unmöglich gewesen – und er selbst sei ebenfalls nur knapp mit dem Leben davongekommen.
BERLIN/DAMASKUS
german-foreign-policy.com vom 24.10.2016 – Die Bundesregierung begleitet die am Wochenende gestartete Militäroffensive jihadistischer Milizen in Aleppo mit der Verstärkung ihres Drucks auf Russland. Moskau müsse „als wichtigster Unterstützer des Regimes“ in Damaskus dafür sorgen, dass nun „eine tragfähige Übereinkunft für Aleppo“ möglich werde, fordert Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Tatsächlich ist der von Russland Ende letzter Woche initiierte Waffenstillstand von den aufständischen Milizen gebrochen worden, die, wie ein britischer Journalist aus Aleppo berichtet, auch die Evakuierung der Zivilbevölkerung mit dem Beschuss von Fluchtkorridoren verhinderten. Über ähnliche Praktiken des IS im irakischen Mossul heißt es zutreffend, er benutze Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“. Die Bundesregierung erhöht ihren Druck zu einem Zeitpunkt, zu dem Moskau seine militärische Stellung im östlichen Mittelmeer stärkt, aktuell mit der Entsendung einer Flugzeugträgerkampfgruppe vor die syrische Küste. Sie soll dazu beitragen, Russland auf Augenhöhe mit den westlichen Mächten zu bringen; auch die Bundeswehr beteiligt sich mit einer Fregatte am Einsatz des französischen Flugzeugträgers „Charles de Gaulle“ in der Region, in die der russische Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“ derzeit strebt. Forderungen insbesondere aus der Parteiführung von Bündnis 90/Die Grünen, eine Flugverbotszone für Syrien zu verhängen, bereiten eine weitere, den direkten Krieg mit Russland riskierende Eskalation vor.Die Offensive der Jihadisten
Die aktuelle Offensive aufständischer Milizen in Aleppo, darunter zahlreiche Jihadisten, ist in den vergangenen Tagen unter Ausnutzung der von Moskau gewährten Feuerpause systematisch vorbereitet und öffentlich angekündigt worden. Bereits am Freitag teilte ein Kommandeur des Al Qaida-Ablegers in Syrien, Jabhat Fatah al Sham [1], mit, man warte „auf das Startsignal für eine entscheidende Schlacht, die das Regime und seine Milizen überraschen wird“.[2] Die Planungen für die Offensive sind nach Auskunft des US-amerikanischen Syrien-Experten Charles Lister von einem Milizenbündnis zwar ohne Jabhat Fatah al Sham, dafür aber unter Mitwirkung der mächtigen Jihadistenmiliz Ahrar al Sham entwickelt worden; der Al Qaida-Ableger Jabhat Fatah al Sham hat seine Beteiligung an der jetzt gestarteten Offensive allerdings zugesagt. Laut Lister, der über exklusive Verbindungen in die aufständischen Milizen verfügt, sind die ersten Angriffe bereits am Samstag gestartet worden. Ziel sei es zunächst, eine strategisch bedeutende Straße (Castello Road) wieder einzunehmen. „Staaten aus der Region“ leisteten „substanzielle Unterstützung“, teilt Lister mit. Der Sache nach dürfte es sich bei den genannten Staaten um die Türkei und/oder Saudi-Arabien handeln.
Fluchtverhinderung
Vor dem Beginn ihrer Offensive hatten aufständische Milizen sowohl die Flucht von Zivilpersonen wie auch die Kapitulation einzelner Rebellen gezielt sabotiert. In Kooperation mit Russland hatte die syrische Regierung zu Beginn des jüngsten Waffenstillstands sechs Fluchtkorridore für Zivilisten und zwei für kapitulationsbereite Rebellen eingerichtet; die Vereinten Nationen bestätigten, die notwendigen Sicherheitsgarantien erhalten zu haben. Sowohl die Free Syrian Army wie auch die syrische Exilopposition protestierten dagegen; bringe man „Menschen aus Aleppo weg“, dann spiele man nur „dem Regime in die Hände“, ließen sie verlauten.[3] Tatsächlich berichtete ein britischer Reporter schon am Donnerstag Abend, Aufständische hätten den Fluchtkorridor, den er beobachtete, systematisch unter Feuer genommen; Zivilisten hätten sich in das von den Rebellen kontrollierte Ost-Aleppo zurückziehen müssen, eine Flucht aus dem Kampfgebiet sei unmöglich gewesen – und er selbst sei ebenfalls nur knapp mit dem Leben davongekommen.[4] Die fluchtverhindernden Praktiken der stark jihadistisch geprägten Milizen in Ost-Aleppo ähneln damit denjenigen, die Experten zur Zeit in Mossul beobachten. Zivilisten, die von dort fliehen wollten, befänden sich in einer extrem gefährlichen Situation, wird ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Save the Children zitiert: „Dort gibt es Scharfschützen (des IS, d.Red.), dort gibt es Landminen.“[5] Die Fluchtverhinderung durch den IS in Mossul wird im Westen weithin als kriegsverbrecherische Nutzung von Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“ eingestuft.
Druck auf Russland
Berlin reagiert auf die neue Konflikteskalation – mit öffentlichem Druck auf Russland. „Moskau als wichtigster Unterstützer des Regimes“ in Damaskus müsse „weiter seinen Einfluss geltend machen, damit eine tragfähige Übereinkunft für Aleppo und letztlich ein Waffenstillstand für ganz Syrien möglich wird“, erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Samstag.[6] Während die Ausweitung der Sanktionen gegen Russland nicht ausgeschlossen wird, ist die Bundesregierung weiter um enge Kooperation mit der Türkei und Saudi-Arabien bemüht, die mutmaßlich weiter die Aufständischen in Aleppo unterstützen. Die beiden Staaten gehörten auch im ersten Halbjahr 2016 wieder zu den zehn wichtigsten Empfängern deutscher Rüstungsexporte.[7]
Das Ende der NATO-Alleinpräsenz
Die Bundesregierung erhöht den Druck auf Moskau zu einem Zeitpunkt, zu dem Russland seine militärische Präsenz im östlichen Mittelmeer verstärkt. Russische Marineschiffe kreuzen – nach gut zwei Jahrzehnten Pause – seit 2013 wieder regelmäßig im Mittelmeer. Im vergangenen Jahr führten sie dort ein erstes gemeinsames Manöver mit der chinesischen Marine durch. Bereits zuvor, im Februar 2015, hatte Moskau ein Abkommen mit Zypern zur Nutzung zypriotischer Häfen durch die russische Kriegsmarine geschlossen. Bereits jetzt sind rund zehn russische Kriegsschiffe unweit der syrischen Küste unterwegs; sie haben im Rahmen des russischen Syrien-Einsatzes Cruise Missiles abgefeuert – nicht zuletzt, um ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Vor wenigen Tagen ist darüber hinaus der russische Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“ aus dem Polarmeer ins Mittelmeer aufgebrochen, wo er ebenfalls in der Nähe der syrischen Küste erwartet wird. Er kann mehr als 50 Flugzeuge beherbergen, ist darüber hinaus mit schweren Waffen ausgerüstet und wird von rund sieben weiteren Marineschiffen begleitet. Die Flugzeuge und die an Bord befindlichen Waffen könnten „für Schläge gegen Terroristen genutzt werden“, heißt es in der russischen Presse; es gehe aber auch schlicht darum, die russische Marinepräsenz in Nahost um eine weitere Luftkomponente zu ergänzen.[8] Die Entsendung der Flugzeugträgerkampfgruppe erfolgt nur kurz nach der Stationierung russischer S300-Luftabwehrraketen in Syrien. Diese gelten als hochmodern; selbst aus den USA sind zurückhaltende bis skeptische Stellungnahmen zu der Frage zu hören, ob die US Air Force das System ohne größere Schwierigkeiten überwinden kann.
Konfliktgefahr
Mit seinen militärischen Maßnahmen im östlichen Mittelmeer zieht Russland Stück für Stück mit den westlichen Mächten gleich, zu deren Militärpräsenz in der Region wiederum die Bundesrepublik immer stärker beiträgt. Die deutsche Marine beteiligt sich schon seit zehn Jahren am UN-Einsatz vor der Küste des Libanon; sie ist regelmäßig im Rahmen von Übungen und Durchfahrten im östlichen Mittelmeer präsent und hat zuletzt die Fregatte Augsburg dorthin entsandt, wo sie sich derzeit am Begleitschutz für den französischen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ beteiligt. Die Kampfjets, die von der „Charles de Gaulle“ abheben, fliegen im Krieg gegen den IS, während die russischen Bomber von der „Admiral Kusnezow“ in den Krieg gegen andere jihadistische Milizen in Syrien starten werden. Die Zahl der russischen und der NATO-Flieger, die zu ihren jeweiligen Angriffen den syrischen Luftraum nutzen, nimmt zu. In Kürze wird der Bundestag zusätzlich den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Maschinen der NATO beschließen, die den syrischen Luftraum kontrollieren. Mit der neuen Flugdichte wächst nicht nur – ähnlich wie über der Ostsee – die Gefahr einer Eskalation aufgrund einer ungewollten Kollision, sondern auch das Risiko eines direkten bewaffneten Konflikts zwischen den NATO-Staaten und Russland, sollten die westlichen Mächte ihre Aggressionen ausweiten und eine Flugverbotszone über Syrien ausrufen oder sogar direkt Angriffe auf die Streitkräfte des Landes starten.
Eskalationsbereit
Beides ist nicht mehr auszuschließen. Führende Politiker von Bündnis 90/Die Grünen sind inzwischen mit der Forderung nach der Ausrufung einer Flugverbotszone vorgeprescht; nach der Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, hat sich nun auch der Parteivorsitzende Cem Özdemir zumindest für „eine umfassende internationale Androhung einer Flugverbotszone“ ausgesprochen. Auf die Frage, ob „die Europäer übernehmen“ sollten, „wenn die Amerikaner passiv bleiben“, ließ sich Özdemir mit der Antwort zitieren, er sei sich mit Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault „einig, dass Nichtstun genauso schlimm sein kann wie eine falsche Intervention“.[9] Dabei werden nicht nur in Berlin, sondern auch in Washington die Forderungen lauter, den militärischen Kurs im Syrien-Konflikt zu verschärfen – mit Blick auf die kurz bevorstehende Präsidentenwahl. german-foreign-policy.com berichtet am morgigen Dienstag.
Mehr zum Thema: Spiel mit dem Weltkrieg.
[1] Der syrische Al Qaida-Ableger hat bis vor kurzem unter dem Namen Jabhat al Nusra operiert, sich inzwischen aber offiziell von Al Qaida losgesagt und den Namen Jabhat Fatah al Sham angenommen. Experten beurteilen den Schritt einhellig als taktisch motiviert und messen der angeblichen Trennung von Al Qaida keinerlei realen Gehalt bei.
[2] Syria: Aleppo attack ‘pause’ ridiculed by rebels. www.aljazeera.com 21.10.2016.
[3] Hilfsaktion für Aleppo verschoben. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.10.2016.
[4] Der Bericht kann hier eingesehen werden: www.youtube.com/watch?v=H3pHFBZmVEI .
[5] Paul McLeary, Dan de Luce: Civilians in Mosul Face „Impossible Choice“. foreignpolicy.com 20.10.2016.
[6] Steinmeier mahnt Russland zu Einfluss auf Assad. www.welt.de 23.10.2016.
[7] S. dazu Ein Spitzenkäufer deutschen Kriegsgeräts.
[8] Russian warships pass through English channel. www.bbc.co.uk 21.10.2016.
[9] Annett Meiritz, Roland Nelles: „Assad und Putin bomben Syrien zurück in die Steinzeit“. www.spiegel.de 15.10.2016.
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