Dienstag, 25. Oktober 2016

Europäische Perspektiven (Eckart Spoo)


Carl von Ossietzky schrieb 1930 in der Weltbühne: »Nichts ist gefährlicher als der an seinen Wirkungsmöglichkeiten irregewordene Imperialismus.« Ist dieser Satz noch aktuell? Ist die Gefahr noch oder wieder spürbar?

Wir lesen und hören dieser Tage, dass die Deutsche Bank und die Commerzbank kriseln, die beiden größten deutschen Geldhäuser. Wie sollen sie diesmal gerettet werden? Welches Land soll sich als nächstes opfern wie Griechenland? Oder will man vielleicht unseren Sparkassen und Genossenschaftsbanken an den Kragen gehen? Und wie wird man die Mittelständler und die Lohnabhängigen davon abhalten, sich gegen die ihnen zugemuteten Verluste zu wehren? Viele Jahre lang hat man mit niedrigen Beiträgen und vergleichsweise hohen Leistungen gesunde junge Leute verlockt, sich bei privaten Krankenkassen zu versichern. Jetzt geht manchen Kassen das Geld aus, sie kündigen Beitragserhöhungen um mehr als zehn Prozent an. Werden es die Betroffenen ruhig hinnehmen, wenn solche Nachrichten sich mehren? Und wenn jetzt auch verkündet wird, dass die Renten auf 42 Prozent fallen können? Angesichts der Brüningschen Austeritätspolitik fragte Ossietzky: »Und wo sind die Abwehrkräfte? Sind sie überhaupt noch vorhanden? Gibt es noch Republikaner?« Mit scharfem Blick beobachtete er, wie in mehr und mehr Ländern demokratische Kräfte erschlafften, faschistische erstarkten – in Ungarn, Italien, Deutschland und anderen. Unter deren Gönnern, beispielsweise unter denen des »blutigen Horthy« in Ungarn, erkannte Ossietzky die »Machthaber« der Wallstreet, denen die Diktatur solider als die Demokratie erscheine. Ja, behalten wir es im Ohr: »Nichts ist gefährlicher als der an seinen Wirkungsmöglichkeiten irregewordene Imperialismus.« Wie nahe ist die Gefahr?

Faschistische Organisationen (in den tonangebenden Medien als »rechtspopulistisch« verharmlost) haben in etlichen europäischen Ländern Fuß gefasst – mit Unterstützung aus den USA und auch mit deutscher Mitwirkung. »Partners in leadership«, wie Präsident Bush I. sagte. In Deutschland haben wir jetzt selber eine »Allianz für Deutschland«, die von jedem sechsten Wähler gewählt wird (in einigen Berliner Wahlbezirken sogar von jedem vierten. Wird diese Partei schnell vergehen wie vor Jahren die Schill-Partei in Hamburg, die mit Hilfe der Springer-Presse innerhalb weniger Wochen auf fast 20 Prozent gelangt war? Oder wird die CDU keine Skrupel haben, die AfD als Mehrheitsbeschafferin zu akzeptieren und zu nutzen?

Europa war für Ossietzky lange Zeit die Alternative zum Imperialismus. Und er hoffte auf den Völkerbund, der Frieden schaffen und bewahren sollte. Auch nach 1945 bis in die Gegenwart dachten kluge Leute, Europa müsse stark werden, um Deutschland einbinden zu können. Gleichsam unter ständiger Aufsicht durch die Mitbewohner des gemeinsamen europäischen Hauses werde Deutschland kein Unheil mehr anrichten können. Ich selber habe in den 1970er Jahren in diesem Sinne Reden gehalten, immer ausgehend von dem Prinzip der Vereinten Nationen, dass die Stimme eines Mitgliedsstaates so viel zähle wie die jedes anderen. Und für alle sollten – als Voraussetzung des Zusammenlebens – die Gebote der Achtung der territorialen Integrität, der Selbstbestimmung, der Nichteinmischung gelten, wie 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vereinbart, mit der der fehlende Friedensvertrag für Deutschland ersetzt werden sollte.

Aber kaum war Deutschland vereinigt, waren die tonangebenden deutschen Politiker und Publizisten mit dieser Rolle von Gleichen unter Gleichen nicht mehr zufrieden. Kanzler Schröder forderte mehr Einfluss für die Bundesrepublik, die doch nun größer und stärker geworden sei, und seitdem sprechen Imperialisten nicht nur in der CDU und der FDP, sondern auch in der SPD und den Grünen von mehr »Verantwortung«, die Deutschland übernehmen wolle, weltweit. Erster Anwendungsfall war der Krieg gegen Jugoslawien. Schröder und Fischer zertrampelten die von der KSZE geschaffene KSZO. Inzwischen spricht man über die »Verantwortung« hinaus von der »Verpflichtung zu schützen« (die Bundeswehr wird zur weltweit agierenden Schutztruppe unseligen kolonialen Andenkens) und von ihrem weltweiten »Gestaltungsanspruch«. Etwas konkreter benennen die militärpolitischen Richtlinien der Bundeswehr den Vereinszweck: Bodenschätze (Russland hat viel davon) und freien Handel. In der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) las man vom früheren Militärminister Volker Rühe (CDU): »Deutschland muss führen, damit Europa nicht schwächer wird.« Vom selben Ungeist trieft ein Ende Juni von Bundesaußenminister Steinmeier (SPD) gemeinsam mit dessen französischem Kollegen Ayrault vorgelegtes »Positionspapier«. Es hat in der Öffentlichkeit bisher kaum Beachtung gefunden – ebenso wie jüngst die Weigerung der Bundesrepublik in der UNO, einen Beschluss zur Aufnahme von Verhandlungen über atomare Abrüstung mitzutragen. Über solche gespenstischen Vorgänge und Zusammenhänge erfahren wir aus den großen Medien wenig. Gerade darum haben Redaktion und Verlag Ossietzky gemeinsam mit der Internationalen Liga für Menschenrechte und dem Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte zur Matinee »Europäische Perspektiven« am Nationalfeiertag, 3. Oktober, Carl von Ossietzkys Geburtstag, eingeladen. Die Zweiwochenschrift Ossietzky veröffentlicht die Mehrzahl der dort gehaltenen Vorträge in diesem und dem nächsten Heft.

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