Sonntag, 21. Juli 2013

Gefangen gab ich niemals die Vernunft (Wolfgang Beutin)

Der diesen Satz einen Sterbenden sprechen ließ – in seinem großen Bekenntnisgedicht »Ein Sterbender« –, ist ein deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts, Theodor Storm, dessen Todestag sich in diesen Tagen zum 125. Mal jährt. Er war geboren in Husum am 14. September 1817 und starb am 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen. Seine Lebenszeit deckt sich fast mit derjenigen von Karl Marx. Jedoch scheint es keinen stärkeren Kontrast zwischen zwei Geisteswelten zu geben, zwischen der einen des Philosophen und politischen Denkers und der anderen des Dichters. Storms Geburts- und Sterbeort liegen in Schleswig-Holstein, in einer Region, die sich, von den deutschen Industrielandschaften und menschenreichen Städten aus gesehen – um es mit dem Titel einer Novelle Storms zu sagen – im »Abseits« befindet. Aber es waren gerade diese Herzogtümer, in der Sprache der Zeit: die »Elbherzogtümer«, die in der Lebensmitte des Dichters ins Zentrum der politischen Bewegung rückten, als sich nach Ausbruch der Revolution im März 1848 in Kiel eine provisorische Regierung bildete und die schleswig-holsteinischen Truppen den dänischen Waffenplatz, die Festung Rendsburg im Handstreich nahmen. Der Krieg gegen das dänische Königreich war eröffnet. Damit geriet die schleswig-holsteinische Frage zum außenpolitischen Dreh- und Angelpunkt der Revolution, und selbst als diese im Sommer 1849 vor der Konterrevolution kapitulierte, kämpfte Schleswig-Holstein mit wechselndem Erfolg noch eine Weile weiter, bis 1850. Der Jurist Storm, als Rechtsanwalt tätig, verlor wegen seines Eintretens für die Erhebung der Elbherzogtümer 1852 sein Amt und mußte ins Exil ausweichen. Im preußischen Potsdam erhielt er die Stelle eines Assessors, ehe er 1858 im thüringischen Heiligenstadt zum Kreisrichter ernannt wurde. Erst der Sieg Preußens im ersten Reichseinigungskrieg – gegen Dänemark, 1864 – ermöglichte dem Emigranten die Rückkehr. Schon im selben Jahr wurde er Landvogt in Husum, um späterhin im Gerichtswesen der nunmehrigen Provinz Schleswig-Holstein Karriere zu machen. Die Politik, die Revolution und die Kriege griffen tief in die Existenz des Autors ein, ohne daß dieser dadurch jemals zum politischen Dichter geworden wäre. Die Literaturgeschichten und Handbücher halten daher für ihn vorwiegend Etiketten bereit, die ihn – wiederum mit einem von ihm benutzten Ausdruck – als wesentlich »seitab« (nämlich von den großen Zeitereignissen) und zuhause bei den »summenden Teekesseln von Husum« charakterisieren möchten. Ein Spätling der Romantik wäre er gewesen, sein Werk durch einen sentimentalen Grundzug geprägt, und wenn man ihm gelegentlich eine Dosis Gegenwartsnähe bescheinigte, so unter pur literarischem Aspekt: Affinität zum zeitgenössischen Realismus (die Meistererzählung »Der Schimmelreiter«). Richtig ist, die politischen Motive dominieren in seinem Werk nicht, obwohl er einige von ihnen, meist soweit sie mit Freiheitsbewegungen zusammenfielen, am Rande einbezog: die von ihm selber miterlebten schleswig-holsteinischen Ereignisse; die Burschenschaften, welche zunächst im europäischen Vergleich eine – obwohl blassere – Parallele zu anderen Erhebungsversuchen im Vormärz (nach 1815) bildeten; aus dem 16. Jahrhundert die Gestalten zweier Revolutionäre aus der ihm gut bekannten Geschichte der norddeutschen Hansestädte, Marx Meyer und Jürgen Wullenwever. Zwar nicht diese und ähnliche Reminiszenzen wären zwingender Anlaß, heuer Storms zu gedenken. Aber das organisierende Zentrum seiner Gedankenwelt verdient jedenfalls, bei Gelegenheit gerühmt zu werden, nämlich seine Beschwörung des Werts des Lebens und der Kreatur, eine Komponente, die sein Gesamtwerk durchzieht. Der Arzt Franz Jebe in einer der spätesten Novellen Storms (»Ein Bekenntnis«) stellt das Prinzip der »Heiligkeit des Lebens« an die Spitze seiner Lehre. Um sie in der Realität anzuwenden, geht Franz nach Ostafrika, wo er uneigennützig die Kranken heilt, ehe er bei der Bekämpfung einer Seuche stirbt. (Bis auf das Ende: eine Parallele zur Biographie Albert Schweitzers, der sich in seiner Ethik ebenfalls zur »Heiligkeit des Lebens« bekannte.) Zum Stück bewahrenswerten Lebens wird selbst ein »kleines Nachtgeziefer«, das in einer Erzählung ein alter Mann vor dem Ertrinken rettet, denn: »man muß der Kreatur in ihren Nöten beistehen«. Die Heiligkeit des Lebens und das Zusammenleben der Menschen gefährden stetig zwei tückische Mächte, und Storm, der sich vom tagespolitischen Kampf fernhielt – seiner Wesenart nach kein Kämpfer –, hier wurde er zum unnachgiebigen Polemiker, der nicht ermüdete, diese Feinde in vielen seiner Erzählungen und Gedichte anzuklagen. Es sind: in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Standesunterschied mit dem Reich-arm-Gegensatz, dazu in der gedanklichen Sphäre die Grundkonstante damaliger Reichsideologie: die obsolete Religion. In der herausragenden, vielleicht kühnsten Novelle des Autors, »Im Schloß«, wird ein Plädoyer gehalten, welches sich gegen die »Lüge« richtet, daß »man« (der Adel) »mehr sei als andere Menschen«. Was aber sollte aus dem Adel und den »hohen Herrschaften« werden? Die Auskunft, die 1789 schon den französischen Revolutionären eingefallen war, kehrt in der Erzählung »Im Saal« wieder. Mit einem einfachen Befehl: »Streichen« (»... oder wir werden alle Freiherren, ganz Deutschland mit Mann und Maus«). In der Erzählung »Im Schloß« zerstört der Lehrer Arnold die antiquierte Gläubigkeit in der Seele seiner Schülerin, um, gestützt auf die Schriften der »Naturforscher«, eine »neue bescheidenere Gottesverehrung« anzuregen. Im »Schimmelreiter« handelt sich Hauke Haien den Ruf des »Gottesleugners« ein, als er es wagt, »Gottes Allmacht« anzuzweifeln. Storm veranschaulicht an anderer Stelle die Bösartigkeit des Glaubensfanatismus, der auf seinem angemaßten Recht beharrt, mittels Propagierung des Hexenwahns und des Scheiterhaufens seine Position zu verteidigen. In einer Strophe des Gedichts »Kruzifixus« formuliert der Dichter seine Absage an das Symbol des von ihm verworfenen Christentums, und damit zugleich an dies selber: »So, jedem reinen Aug ein Schauder, / Ragt es herein in unsre Zeit; / Verewigend den alten Frevel, / Ein Bild der Unversöhnlichkeit.« Der »Sterbende« in dem anfangs zitierten Gedicht spricht die Gewißheit aus, die auch die des Dichters war: »Was ich gefehlt, des einen bin ich frei: Gefangen gab ich niemals die Vernunft.«

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