Sonntag, 5. Februar 2017

Verschwundene Studenten in Mexiko Das Bataillon und der Drogenbaron

     

43 Studenten verschwinden in Mexiko, mehr als zwei Jahre später sind die Hintergründe noch immer nicht aufgeklärt. Ein neues Buch geht nun der Frage nach: Welche Rolle spielte das Militär?
Spiegel Online, 01.02.2017   
Von Klaus Ehringfeld
Seit mehr als zwei Jahren sind 43 Studenten aus Ayotzinapa verschwunden - und noch immer gibt es keine Spur von ihnen. Die wahren Täter sind nicht gefunden, das Mandat der internationalen Sonderermittler wurde nicht verlängert, das größte Verbrechen in der jüngsten Geschichte Mexikos droht in Vergessenheit zu geraten.
Offiziell gilt die von der Regierung als "historische Wahrheit" kommunizierte Version, wonach die jungen Männer in Iguala von einem lokalen Drogenkartell in Komplizenschaft mit der örtlichen Polizei und dem korrupten Bürgermeister verschleppt und getötet wurden.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, sagt Anabel Hernández. Die Journalistin legt in ihrem 372 Seiten starken Buch "Die wahre Nacht von Iguala" ("La verdadera noche de Iguala") Erkenntnisse vor, die dem in der Stadt stationierten 27. Infanteriebataillon eine entscheidende Tatbeteiligung zuweisen.
"Die Armee war von Anfang bis Ende über die Geschehnisse in dieser Nacht auf dem Laufenden", sagt Hernández. "Nach meinen Recherchen waren es die Streitkräfte, die organisierten und orchestrierten, dass lokale Polizeikräfte, Bundespolizei und Soldaten des 27. Bataillons die Busse angriffen, die von den Studenten gekapert worden waren."
Die Lehramtsanwärter der Landuniversität von Ayotzinapa wollten im September 2014 mit den Bussen nach Mexiko-Stadt zu einer Demonstration fahren - sie wurden jedoch von den Sicherheitskräften gewaltsam aufgehalten. 43 junge Menschen wurde danach nie wieder gesehen.
Spezielle Munition am Tatort
Die ballistische Untersuchung der am Tatort gefundenen Munition belege, dass auch das Militär in der fatalen Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 geschossen habe, sagt die 47-jährige Hernández. Es seien Patronenhülsen am Tatort gefunden worden, die nur das Militär benutze. Und das Verteidigungsministerium habe auf ihre Nachfrage weder Gewehre noch Munition als gestohlen gemeldet.
Die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto weist eine Beteiligung des Militärs an dem Verbrechen zurück und unterbindet unter Hinweis auf die Nationale Sicherheit jegliche Untersuchung in diese Richtung. So konnten die Sonderermittler in ihrer einjährigen Recherche weder Interviews mit Soldaten führen, noch die Kaserne in Iguala in Augenschein nehmen. Die Rolle des Militärs ist für unabhängige Ermittler jedoch das entscheidende Puzzleteil in dem Verbrechen.
Hintergrund der Tat könnte Drogenschmuggel gewesen sein - diese Hypothese hatten schon die Sonderermittler der interamerikanischen Menschenrechtskommission zur Diskussion gestellt. Hernández legt nun nach: Die Studenten hätten keine Ahnung gehabt, dass sich in den Bussen Heroin im Wert von zwei Millionen Dollar befunden habe, so die Autorin.
Der lokale Drogenboss in Iguala, dessen Namen Hernández nicht nennt, habe den Militärs befohlen, das Rauschgift sicherzustellen. "Er wollte sein Heroin wiederhaben, aber er wollte nie, dass die Studenten getötet werden, weil ihm dadurch seine Operationsbasis in Iguala ruiniert würde. Er war stinksauer, als er am nächsten Tag mitbekam, was passiert war und er die Stadt verlassen musste", sagt Hernández.
"Verkettung fürchterlicher Ereignisse"
Der südwestliche Bundesstaat Guerrero, in dem Iguala liegt, ist der Hauptproduktionsort von Heroin in Mexiko. Von dort wird das Rauschgift auf den unterschiedlichsten Wegen in die USA geschmuggelt, unter anderem in Fernreisebussen.
Hernández kommt in ihrem Buch zu dem Schluss, dass die Entführung und vermutlich anschließende Exekution der 43 Studenten eine "Verkettung fürchterlicher Ereignisse" war. Eilfertige Soldaten und Polizisten hätten beschlossen, die Studenten verschwinden zu lassen, weil die jungen Männer mitbekamen, dass sie in den gekaperten Bussen auf Hunderten Kilo Heroin saßen.
Die Studenten hätten Polizei und Militär zudem absurderweise als besonders gefährlich gegolten, sagt Hernández und schüttelt den Kopf. "Die Uni von Ayotzinapa zählt laut Bundesregierung zu den fünf Punkten im Land, von denen die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit ausgeht", so die Autorin. "Auf der Liste stehen nicht das Sinaloa-Kartell und nicht die Zeta-Bande, aber die Universität Raúl Isidro Burgos in Ayotzinapa." Diese Einschätzung ist historisch begründet: Landuniversitäten in Guerrero gelten den Autoritäten als Hort revolutionärer Strömungen, seit sich in dem Bundesstaat Mitte des 20. Jahrhunderts Guerillabewegungen bildeten.
Zum einen habe daher die Kommandozentrale der Sicherheitsdienste die Studenten auf ihrer Fahrt von Ayotzinapa in das 245 Kilometer entfernte Iguala von Anfang an überwacht. Und zum anderen hätten die Sicherheitskräfte womöglich gedacht, es sei nicht weiter schlimm, wenn diese Studenten verschwänden. "Es waren ja eh gefährliche und aufrührerische junge Leute, haben sie wohl gedacht", fährt die Journalistin fort. "Sie verschwinden zu lassen, war nicht vorher geplant, sondern eine plötzliche Entscheidung."
Der Kommandeur wurde befördert
In Mexiko gelten mehr als 26.000 Menschen als vermisst. Die Täter werden fast nie gefasst, was auch durch eine Verquickung von Politik, Sicherheitskräften und organisiertem Verbrechen zu erklären ist. Die verschwundenen Studenten sind nur die bekanntesten Opfer dieser Zustände.
Die Staatsanwaltschaft und vermutlich auch die Regierung hätten die wahren Hintergründe im Fall der 43 gekannt - und um sie zu vertuschen, die "historische Wahrheit" erfunden, so Hernández. "Es wäre die Regierung billiger zu stehen gekommen, ein paar korrupte Militärs anzuklagen, als eine solche historische Lüge zu konstruieren."
Bis heute hat die Regierung keinerlei Interesse an der Aufklärung der Tat. Im Gegenteil: Vor zwei Monaten beförderte Präsident Peña Nieto den damaligen Kommandeur des 27. Infanteriebataillons zum Heeres-Inspekteur.
Die dringendste Frage kann auch Hernández nicht beantworten: Wo sind die Leichen der 43 Studenten? "Ich hoffe aber", sagt die Autorin, "dass das Buch dazu beitragen kann, dass diejenigen, die es wissen, ihre Informationen preisgeben."

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