Sahra Wagenknecht dringt auf ein sozialeres Deutschland. Die Volksstimme sprach mit ihr in Berlin.
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Zur Person: Sahra Wagenknecht
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren. Sie hat eine deutsche Mutter und einen iranischen Vater. Wagenknecht machte 1988 ihr Abitur in Berlin. Von 1990 bis 1996 studierte sie Philosophie und Literatur in Jena, Berlin und Groningen und schloss es 1996 mit einer Arbeit über Hegel und Marx ab. Im Oktober 2012 erfolgte ihre Promotion zum Dr. rer. pol. in Wirtschaftswissenschaften.Seit Anfang der 1990er Jahre war sie in der PDS, dann Linkspartei aktiv. Von 2004 bis 2009 gehörte sie dem Europaparlament an und war von 2010 bis 2014 Vize-Parteichefin. Seit Oktober 2015 ist sie gemeinsam mit Dietmar Bartsch Vorsitzende der Bundesstags-Linksfraktion.
Die Welt ist heftig in Bewegung, jetzt mischt auch Donald Trump mit. Die vom US-Präsidenten ins Spiel gebrachte Auflösung der Nato wollen Sie in ein Militärbündnis mit Russland ummünzen. Denken Sie an eine Neuauflage des Warschauer Vertrages?
Sahra Wagenknecht: Unsinn. Dass sich die Nato mit dem Ende des Kalten Krieges ebenso überlebt hat wie der Warschauer Vertrag, war schon 1989 SPD-Position und stand in deren Berliner Programm. Ihr damaliges Ziel, eine neue europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands, ist unverändert aktuell. Gerade angesichts eines unberechenbaren US-Präsidenten Trump sollte sich Europa fragen, ob wir uns weiter der US-Hegemonie unterordnen wollen. Ich halte es für richtig, die europäischen Interessen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Nato hat sich zu einem Interventionsbündnis entwickelt, das Frieden und Stabilität in Europa nicht sichert, sondern gefährdet. Die Verlagerung von Panzern und Truppen – auch deutschen Soldaten – an die russische Grenze ist unnütz und gefährlich.
Sie haben zu vielen Themen eine dezidierte Meinung und kollidieren des Öfteren mit ihrer Partei. So, als sie in der Flüchtlingskrise den ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen kritisiert hatten. Wie sehen Sie das heute?
Ich habe kritisiert, dass die Bundesregierung über mehrere Monate eine Situation zugelassen hat, wo niemand mehr wusste, wer ins Land kam, und ein völliger Kontrollverlust existierte. Das war eine chaotische Politik, die viele Menschen extrem verunsichert hat. Merkel hat damit die AfD stark gemacht und das politische Klima nach rechts verschoben. Selbstverständlich kritisieren wir das.
Die SPD hat in dieser Woche das Personalkarussell rotieren lassen. Im Verhältnis zwischen Linkspartei und SPD scheint es indes das Motto zu geben: Einen Schritt vorwärts, zwei zurück?
Meinen Sie mit den zwei Schritten zurück die SPD?
Nein, durchaus beiderseits.
Das Problem ist, dass die SPD seit vielen Jahren eine Politik gegen ihre eigenen Wähler macht. Es ist ja wesentlich auf die SPD zurückzuführen, dass wir jetzt einen riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland haben mit Leiharbeit, Werkverträgen, Dauerbefristungen. Ebenso ist die SPD mitverantwortlich, dass die gesetzliche Rente kaputtgekürzt wurde, also dass immer mehr Menschen um ihre Lebensleistung betrogen werden, weil sie nach 40 Jahren Arbeit mit 800 Euro Rente nach Hause geschickt werden. Mit dieser unsozialen Politik hat die SPD die Menschen enttäuscht und deshalb einen Großteil ihrer Wähler verloren.
Das klingt nicht nach einer gemeinsamen Basis.
Wenn die SPD diese unsoziale Politik fortsetzen will, ist sie an der Seite der CDU gut aufgehoben. Ein Bündnis mit uns ist erst dann sinnvoll, wenn die SPD wieder sozialdemokratische Politik machen will. Also soziale Gerechtigkeit nicht nur im Wahlkampf im Munde führen, sondern auch politisch durchsetzen möchte.
Was erwarten Sie für die künftige Zusammenarbeit vom SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz?
Herr Schulz war nie ein Kritiker der Agenda 2010 oder der Rentenkürzungen. Auch hat er weitgehend unkritisch das Brüsseler Europa verteidigt. Auch die Auflagen an Krisenländer, die Löhne zu kürzen und die Arbeitsmärkte zu deregulieren. Also er kommt nicht vom linken Flügel der SPD. Trotzdem würde ich mich natürlich freuen, wenn er die SPD wieder nach links führen würde. Aber dazu gehört mehr als kämpferische Wahlkampfreden.
Dietmar Bartsch und Sie als Linksfraktions-Vorsitzende im Bundestag wurden nicht zu Spitzenkandidaten für den Bundestagswahlkampf ernannt, sondern haben sich selbst dazu erklärt ...
... wo haben Sie denn das her? Wir sind vom Parteivorstand mit großer Mehrheit zu Spitzenkandidaten der Linken nominiert worden.
Es war aber ein Schritt an den Parteichefs vorbei.
Wir wurden mit großer Einmütigkeit nominiert. Auch die Parteivorsitzenden haben mitgestimmt.
Spielen die Parteivorsitzenden nur noch die zweite Geige?
Es ist in allen Parteien so, dass die Spitzenkandidaten das Gesicht der Partei im Wahlkampf sind. Dafür benennt man ja Spitzenkandidaten.
Bleiben wir bei den Grünen. Mit Göring-Eckardt und Özdemir scheint Schwarz-Grün am Horizont auf. Ist Rot–Rot-Grün – mal abgesehen vom Wahlresultat – noch vorstellbar oder wünschenswert?
Wünschenswert wäre für mich eine Regierung in Deutschland, die endlich einmal wieder Politik für die sozialen Interessen der Mehrheit macht. Die den Sozialstaat nicht weiter demontiert, sondern wiederherstellt. Ob das mit SPD und Grünen möglich sein wird, das hängt natürlich auch davon ab, wie stark die Linke bei den Wahlen abschneidet. Je besser unser Resultat ist, umso mehr Chancen haben in der SPD diejenigen, die mit dem Kurs der letzten Jahre schon lange unglücklich sind und sich eine sozialere Politik ihrer Partei wünschen.
Meinen Sie, dass der Anteil dieser Leute in der SPD groß genug ist, speziell im Bundestag?
Ich glaube, das die Zahl derer, die das unterstützen, mit jedem Prozentpunkt mehr für die Linkspartei steigt. Denn die SPD gerät dann unter Druck. Je stärker wir werden, umso stärker wird der Teil in der SPD, der nicht nur neue Gesichter, sondern eine neue Politik will.
Dass Sie diese neue Politik vertreten, ist kein Geheimnis. Auf dem Magdeburger Parteitag 2016 gab es erst einen Tortenwurf, und anschließend wurden Sie gefeiert – es war ein Durchbruch. Wie haben Sie dieses Wechselbad in Erinnerung?
Der Tortenwurf war natürlich demütigend. Es tat gut, zu spüren, wie stark der Rückhalt in der Partei war. Manche haben ja versucht, das so darzustellen, als kämen die Tortenwerfer aus der Linken. Das stimmt nicht, das haben die Delegierten mit ihrer Reaktion klar widerlegt.
Ihr Hauptgegner im Wahlkampf ist die AfD?
Nein, sie ist einer der Gegner. Unser Hauptgegner ist die neoliberale Politik. Sie hat die AfD erst stark gemacht. Der jahrenlange Sozialabbau, die unsicheren, schlecht bezahlten Jobs, die vielen Zukunftssorgen und Abstiegsängste der Menschen, das ist der Nährboden der AfD. Denn das hat doch erst dazu führt, dass viele so enttäuscht sind, so viel Wut im Bauch haben, dass sie überlegen: Um die da oben zu ärgern, wähle ich jetzt AfD. Das Problem daran ist: Die AfD wird dieses Land nicht sozialer machen – weil sie überhaupt keine sozialen Forderungen hat. Der Begriff Sozialstaat taucht im gesamten AfD-Programm nicht ein Mal auf. In der Realität ist die Linke die einzige soziale Protestpartei. Und natürlich werden wir um jeden Wähler kämpfen, der die Nase voll hat von der sozialen Ignoranz des politischen Establishments und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.
Welche konkreten Inhalte wollen Sie dem zu erwartenden forschen Auftreten der AfD im Wahlkampf entgegensetzen?
Die AfD ist das Produkt einer starken Verunsicherung und Enttäuschung. Wer solchen Parteien die Grundlage entziehen will, muss eine Politik machen, die für Sicherheit sorgt – soziale Sicherheit und auch allgemeine Sicherheit. Ein Staat, der 18 000 Polizeistellen abbaut, ignoriert das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Der Rückzug des Staates aus ganz vielen Bereichen, in denen er einst für Stabilität gesorgt hat, überlässt die Menschen immer stärker der kalten Logik nackter Renditekalküle. Nehmen wir die Privatisierungen von Wohnungen oder von Kliniken. Das ganze Leben wird zur Ware, alles wird käuflich, aber kaufen kann nur, wer ausreichend Geld hat.
Der Terroranschlag von Berlin könnte nicht der letzte gewesen sein. Reichen die Sicherheitsmaßnahmen von Verzahnung der Behörden bis zur Polizeipräsenz aus?
Ich finde skandalös, dass die Große Koalition offenkundig nicht bereit ist, aufzuklären, was im Vorfeld des Anschlags schiefgelaufen ist. Es könnte dabei nämlich herauskommen, dass wir gar keine neuen Gesetze brauchen. Der Täter Anis Amri hätte auf Grundlage der bestehenden Gesetze ohne Probleme inhaftiert werden können. Er war mehrfacher Sozialbetrüger, nutzte 14 Identitäten, war an einer Messerstecherei beteiligt und hat versucht, illegal Waffen zu beschaffen. Jedes einzelne dieser Delikte hätte ihn hinter Gitter bringen können und müssen. Ich finde schon beängstigend, wie die Sicherheitsbehörden hier versagt haben.
Sollten aus Ihrer Sicht mehr Polizisten eingestellt werden?
Ja, natürlich. Es war übrigens eine der ersten Maßnahmen der rot-rot-grünen Regierung in Berlin, 1000 Polizeistellen zu besetzen, die bisher unbesetzt waren.
Wie viele neue Polizisten wären bundesweit nötig?
Wie gesagt, 18 000 Stellen sind in ganz Deutschland abgebaut worden. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir damals zu viele Polzisten hatten.
Was halten Sie von verstärkter Videoüberwachung?
Wir haben nichts dagegen, sensible Orte per Video zu überwachen. Man muss aber auch sehen, dass es früher auf Bahnhöfen oder in Regionalzügen Personal statt Videokameras gab. Heute sind die Bahnhöfe nachts menschenleer. Eine Kamera hilft unmittelbar niemandem, der belästigt oder bedroht wird. Auch der Anschlag in Berlin wäre mit mehr Videokameras nicht verhindert worden. Allenfalls erleichtern sie danach die Aufklärung. Besser wäre Personal, das eingreifen könnte.
Wo steht Deutschland derzeit in der Flüchtlingspolitik? Sollen die Grenzen stärker abgeschirmt werden?
Ich plädiere dafür, den Menschen vor Ort zu helfen. Stichwort Syrien: Viel mehr Menschen, als es nach Europa geschafft haben, leben in den Flüchtlingscamps der Nachbarstaaten. In der Regel unter unsäglichen Bedingungen. Dass es 2015 eine so große Fluchtbewegung gab, hatte auch damit zu tun, dass die ohnehin schmalen Nahrungsmittelrationen halbiert worden waren. Auch in Afrika muss es um Perspektiven vor Ort gehen. Frau Merkel redet davon, Fluchtursachen zu bekämpfen. Dann reist sie durch afrikanische Länder und macht Druck, dass diese ihre Zölle weiter absenken und sich noch mehr für unsere subventionierten Agrarexporte öffnen, die dort jeden lokalen Anbieter ruinieren. Wir brauchen endlich eine Außenwirtschaftspolitik, die nicht noch mehr Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erzeugt. Wir haben 2016 für Integration in Deutschland 25 Milliarden Euro ausgegeben. Mit weniger als der Hälfte des Geldes könnte man die Lebenssituation von Millionen Menschen vor Ort gravierend verbessern.
Und wie steht es mit der Grenzsicherung?
Wir müssen wissen, wer nach Europa kommt. Dafür ist eine Kontrolle der Außengrenzen nötig. Richtig ist aber auch: Verzweifelte Menschen wird man nicht dauerhaft mit Grenzkontrollen abhalten. Es muss eine Perspektive bei ihnen zu Hause geben. Dafür könnte Europa sehr viel mehr tun.
Lehnt die Linke in dieser unübersichtlichen Lage Auslandseinsätze der Bundeswehr weiter ab?
Kriege sind doch die Fluchtursache Nummer eins. Afghanistan etwa ist heute ein zerrüttetes, von Krieg und Gewalt zerstörtes Land, in dem die Taliban mehr Ansehen genießen als vor 15 Jahren, als die Nato-Staaten dort ihren Krieg begannen. Die Bundeswehr hat sich an diesem Krieg beteiligt, der Tausende Zivilisten das Leben gekostet hat. Wir haben den Afghanen nicht Demokratie und Freiheit gebracht, sondern Tod und noch mehr Terror. Es muss Schluss sein mit diesen Kriegen und auch mit Waffenexporten in Kriegsgebiete.
Während Deutschland in den Wahlkampf einsteigt, droht ringsherum die EU durch Brexit und Rechtsruck zu zerfallen. Sie wollen mehr Demokratie durch Referenden. Wenn es aber Volksabstimmungen in der EU gab, waren das oft große Schlappen.
Wenn sie sich mit ihrer Politik so unbeliebt macht, dass Referenden gegen sie ausgehen, sollte die EU ihre Politik überdenken. Es hat sich eine Struktur in Brüssel herausgebildet, die völlig abgehoben ist von jeder demokratischen Kontrolle. Das Brüsseler Europa zerstört die europäische Idee.
Hätte in Ihrer Vorstellung von Europa die Türkei einen Platz?
Wie sich die Türkei zurzeit entwickelt, nämlich zu einer islamistischen Diktatur, kann sie unter keinen Umständen Mitglied der Europäischen Union werden. Ich halte ohnehin nicht viel davon, die EU noch mehr auszuweiten. Sie ist schon durch die Osterweiterung ein Zusammenschluss sehr heterogener Länder geworden. Das macht einen Teil der Probleme aus.
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