Es
gab schon günstigere Zeiten, um für ein vertrauensvolleres Verhältnis
Westeuropas zu Russland zu werben. Beide Seiten machen es einem damit
gerade nicht leicht. Dabei haben die Spannungen einen
Gefährlichkeitsgrad erreicht, der Annäherung als dringend geboten
erscheinen lässt. Stattdessen hat man den Eindruck, die geballte
Anklage-Kraft westlicher Rechercheteams, Medien,
Untersuchungskommissionen, Geheimdienste und sonstiger Ermittler wird in
letzter Zeit auf Russland geworfen. Ohne sich um die Frage zu scheren,
wie sich das Bild wohl wandeln würde, wenn man mit dem gleichen
Verfolgungseifer in alle Himmelsrichtungen schauen würde. Suchet, so
werdet ihr finden. Suchet nicht, so werdet ihr Klagen unterbinden.
So geschehen im Ukraine-Konflikt, bei den Panama-Papers, beim Doping,
bei den Vorwürfen zu Syrien, schließlich beim Abschuss von MH17.
Wahrlich, es geht nicht um Avancen an einen Musterknaben. Aber bitte
schön auch nicht um Avancen von Musterknaben. Vertrauen,
Glaubwürdigkeit, Rechtstreue, Solidarität – oh, du lieber Augustin,
alles ist hin.
Wie soll man, so die westliche Unterstellung, mit Barbaren reden, die
Verhungernden und Verdurstenden die Hilfskonvois bombardieren? Beweise
für derartige Schuldzuweisungen sind offenbar nicht mehr nötig, in
diesem chaotischen Krieg, in dem vor dem militärischen Eingreifen der
Russen schon fünf Jahre lang bezahlte Söldner der Saudis, der Kataris,
der Amis, der Briten, der Franzosen und jetzt auch der Türkei wild
durcheinander bomben. Wer in welcher Absicht den Konvoi des Syrischen
Arabischen Roten Halbmondes angegriffen hat, ist völlig unklar.
Hilfslieferungen, die ihr Ziel im von den islamistischen Terroristen
kontrollierten Ost-Aleppo erreicht hatten und wohl weitgehend entladen
waren. 21 Tote, 21 LKW schwer beschädigt. Ein Video lässt
Allahu-Akbar-Rufe vernehmen und eine hochauflösende russische
Aufklärungsdrohne hat neben dem Konvoi ein Fahrzeug der sogenannten
Rebellen mit großkalibrigem Granatwerfer ausgemacht. Keinerlei
Bombenkrater. Aber Leute aus dem Anti-Assad-Bündnis können es schon
deshalb nicht gewesen sein, weil man den Eigenen sowas vor der
Weltöffentlichkeit grundsätzlich nicht zutraut. Da bleibt eben nur der
Russe. So wieder im jüngsten Spiegel (40/16).
Nach einem halbwegs logischen Motiv fragt niemand. Immerhin hatten
zwei Tage zuvor Kampfjets der US-Koalition vier Angriffe auf eine
Garnison der syrischen Armee am Flughafen in Deir ez-Zor geflogen.
Mitten in der mühsam ausgehandelten Waffenruhe. Die damit von einem
ihrer Unterhändler höchst selbst beendet wurde. 62 Tote und hundert
Verletzte. Getötet mit den präzisesten Waffen der Welt. Aus Versehen.
Keine Entschuldigung. Die außer Gefecht gesetzte Position ist umgehend
von IS-Kämpfern eingenommen worden, auf dem Airport können
Versorgungsflugzeuge für die eingeschlossene Bevölkerung nicht mehr
landen. Aber darüber findet sich in den Großmedien nichts, seit es den
angeblich russischen Angriff auf den Konvoi gibt. Das Denken in
Zusammenhängen wird als Verschwörungstheorie denunziert. Das ist
Bestandteil der Propagandaschlacht.
»Ich möchte mich nicht an Verschwörungstheorien beteiligen«, grüßte im Spiegel
den Gesslerhut auch der Luftfahrtexperte David Cenciotti. »Aber ich
stelle fest, dass einige Teile des Gesamtbildes fehlen.« Das bezog sich
auf die westliche Darstellung zum Absturz von MH17 und ist zwei Jahre
alt. Aber dieselben Fehlstellen scheint auch der jüngste
Untersuchungsbericht aufzuweisen, der Moskau belastet. Mit modernster
Technik und größter Akribie konnte nachgewiesen werden, dass die
ostukrainischen Separatisten eine Flugabwehrrakete angefordert haben,
eine moderne Buk-Rakete aus Russland auch geliefert bekamen, und diese
nach Absturz der Maschine wieder abgezogen wurde. Aber wer hatte
tatsächlich die Absicht, eine Passagiermaschine zu treffen? Wer hat
damals den schon gesperrten Luftraum über dem Kriegsgebiet für
Passagiermaschinen wieder freigegeben? Befehl, Tathergang – darüber
könnten die Teile des Gesamtbildes Aufschluss geben, die immer noch
geheim gehalten werden: die Angaben der Flugsicherung, Radarbilder,
Satellitenaufnahmen, die Daten des Flugschreibers der Boeing 777. Alle
Beweisführungen sind parteiisch, sind machtpolitisch, unwürdig gegenüber
den Opfern.
So überfällt einen große Trauer und Ratlosigkeit angesichts der
Bilder und Meldungen aus Syrien. Jahrelang hat die westliche Allianz die
islamistischen Söldner gerüstet und damit den Krieg befeuert, statt ihn
zu stoppen. NATO-Partner Türkei hat das Sarin geliefert, das
Terroristen der al-Nusra-Front und des IS im syrischen Ghouta und später
nahe Aleppo einsetzten, um den Verdacht auf Assad zu lenken (siehe Ossietzky 1 und 2/16). Die von Experten längst widerlegte Beschuldigung Assads wird, wie ebenfalls im jüngsten Spiegel,
bis heute aufrechterhalten. Dabei ging es dem Westen nicht um
Menschenrechte, auch nicht um die, die Assad tatsächlich brach. Vielmehr
steht dessen Regierung strategischen und ökonomischen Interessen im
Wege, man kennt das alles. Auch die Russen haben schließlich nicht aus
reiner Nächstenliebe zu den Waffen gegriffen. Auch sie kämpfen um
Einfluss. So mancher, der eigentlich jegliche militärische Gewalt
ablehnt, ertappt sich jetzt bei dem Wunsch, der Schrecken ohne Ende möge
von den in dieser Region strategisch überlegenen Russen durch ein Ende
mit Schrecken beigelegt werden. Doch es geht nicht darum, den Krieg zu
gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden.
So wie einst durch die Rote Armee. Die 900.000 verhungerten
Leningrader hatten nicht mal die Fluchtkorridore, die es in Syrien trotz
allem noch gibt. Womit unumgänglich daran zu erinnern ist, dass wir
schon aus Gründen unserer schuldbeladenen Vergangenheit verpflichtet
sind, den Nachkommen des von der Wehrmacht begangenen Völkermords, die
uns unbegreiflicher Weise dennoch vergeben haben, mit Anstand zu
begegnen. Man erinnere sich an die ergreifende Rede des 95-jährigen
Schriftstellers Daniil Granin im Bundestag:
»Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft
habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900
Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und
unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht
mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt
Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie
vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war
Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und
bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun … Die Aussöhnung
war für mich keine leichte Sache. Mir war klar, dass Hass ein Gefühl
ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist
kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch
nichts vergessen darf.«
Die Art und Weise des Umgangs Europas mit Russland ist wie ein Rausch
des Vergessens. Schuldzuweisungen, Sanktionen, ungleiches Maß in der
Geschichtsschreibung. 1783 hatte die aus Deutschland kommende Zarin
Katharina in Sewastopol den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte
begründet. Im Zweiten Weltkrieg hat ihn die deutsche Wehrmacht besetzt –
seine Rückeroberung 1944 durch die Rote Armee hat einen hohen
Stellenwert im russischen Geschichtsbewusstsein. Durch den vom Westen
beförderten Machtwechsel in Kiew war der Stützpunkt erneut gefährdet.
Wieviel Geschichte darf man rückabwickeln, wenn Mehrheiten dies wollen?
Zu dieser Frage, die auch in der deutschen Vereinigung eine Rolle
spielte, gibt es international keine ernsthaften Debatten unter
Völkerrechtlern, Politologen und Politikern. Wenn nicht billigen, so
könnte man doch bedenken, warum die von der übergroßen Mehrheit der
Bewohner gewollte Abtrennung der Krim als Akt verteidigungspolitischer
Notwehr gesehen wird. Nötig, bevor man durch weitere Landnahme der NATO
nicht mehr handlungsfähig ist.
»Die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur« sind eben
nicht erst durch die »Annexion der Krim« in Frage gestellt worden, wie
unser Außenminister klagt, sondern spätestens 1999 durch die NATO. Auch
damals ging es um Separatisten – kroatische, slowenische, vom Westen
unterstützt, auch um russischen Einfluss zu schwächen. Vier Jahre nach
dem Gemetzel in Srebrenica, als die Konflikte längst weitgehend unter
Kontrolle waren, hat der Westen mit aktiver deutscher Beteiligung unter
dem fadenscheinigen Vorwand einen Völkermord verhindern zu wollen, einen
sinnlosen, zerstörerischen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien geführt.
Da spielten das Völkerrecht und territoriale Unversehrtheit keine
Rolle, da wurden vom Verbündeten Russlands Gebiete abgetrennt, neue
Grenzen gezogen und im Kosovo ungefragt die größte ausländische
Militärbasis der US-Armee errichtet.
Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker, bekannte Putin vor
nunmehr 15 Jahren in seiner heute ebenfalls verdrängten Rede vor dem
Bundestag. Wir hätten es noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des
Kalten Krieges zu befreien. Soviel selbstkritisches Entgegenkommen hört
man von westlichen Politikern selten. Aber ohne eine moderne
europäische Sicherheitsarchitektur lasse sich kein Vertrauensklima
schaffen, so Putin. Danach hat es auch von russischer Seite immer wieder
Versuche gegeben, das Unmögliche zu ermöglichen. Etwa im März vorigen
Jahres, als versichert wurde, man wolle »nicht der Totengräber der
Rüstungskontrolle« sein, sondern einen Vertrag, der die Realitäten
berücksichtige.
Doch von einem Bündnis unter Einbeziehung Russlands wollte die NATO
nichts wissen. Sie setzte auf verharmlosend »Abschreckung« genannte
existentielle Bedrohung: NATO-Osterweiterung, Modernisierung taktischer
Atomwaffen, Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien, die auch
Angriffssysteme sind, wirtschaftliche Sanktionen und Truppenbewegungen
an der russischen Grenze, auch Bundeswehreinsätze in
Ex-Sowjetrepubliken, in denen einst die Wehrmacht wütete. Wandel durch Annäherung hat zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung.
Russland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil. Bis
zum Ural auch geografisch. Seine Kunst hat die europäische tief
beeinflusst: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow, Eisenstein, Tschaikowski,
Schostakowitsch, Chagall, El Lissitzky und ungezählte andere, bis heute.
Europa verstümmelt sich mit der Absonderung von Russland – kulturell,
ökonomisch, touristisch, menschlich. Europa ist auf Russland angewiesen,
um in Frieden zu leben. Wir sind verdammt, uns zu vertragen. Und das
ist gut so.