Im Kampf gegen die Gewalt der Drogenkartelle setzt Präsident López Obrador auf Prävention – bislang jedoch ohne Erfolg.
von Klaus Ehringfeld
Frankfurter Rundschau v. 27.01.2020
Javier Sicilia marschiert wieder. So wie 2011, als sein Sohn von einer Verbrecherorganisation getötet wurde und der verzweifelte Vater zu Mexikos wichtigstem Friedensaktivisten aufstieg. Jetzt, so findet Sicilia, ist es wieder Zeit, für den Frieden auf die Straße zu gehen. Für die „fast 300 000 Toten und 60 000 Vermissten“, wie er sagt, und gegen Präsident Andrés Manuel López Obador, der bei seinem Amtsantritt Ende 2018 rasche Besserung versprach und unter dem nur alles schlimmer geworden ist. 35 588 Menschen wurden in seinem ersten Amtsjahr erschossen, in Säure aufgelöst, in Massengräbern verscharrt.
Der Präsident traf sich kurz nach seiner Wahl im September 2018 mit Sicilia und einigte sich mit ihm auf eine gemeinsame Agenda. Doch davon will López Obador nichts mehr wissen. Er verweigerte dem Friedensaktivisten nach dessen tagelangem Marsch nach Mexiko-Stadt am Sonntag ein Treffen. Was Sicilia mache, sei eine „Show auf Kosten der Opfer“, ließ der Präsident verkünden. „Es ist keine Show, es ist Schmerz“, skandierten Tausende Angehörige während eines Marsches zum Präsidentenpalast. Amlo, wie der Präsident in Mexiko kurz genannt wird, bot lediglich jemanden aus seinem Sicherheitskabinett zum Gespräch mit den Friedensaktivisten an, was diese ablehnten.
2019 war das Jahr mit den meisten Morden in Mexiko seit Beginn der Aufzeichnung vor 20 Jahren. Fast 100 Opfer pro Tag waren zu beklagen. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2018 insgesamt 386 Morde.
Vor allem seit 2006 haben die Morde dramatisch zugenommen. Damals hatte die Regierung eine Militäroffensive begonnen, mit der sie das organisierte Verbrechen niederringen wollte.
Seitdem gab es offiziell 275 000 Tote, Menschenrechtsorganisationen gehen von deutlich mehr Opfern aus. Die Kartelle aber sind in dieser Zeit nicht geschwächt worden.
Mexiko ist eine der größten Demokratien der Welt, „gleicht aber einem Land im Krieg“, wie Sicilia betont. „Mexiko ist in einigen Teilen gekapert vom organisierten Verbrechen“, sagt er. Tatsächlich sind Kartelle wie das Sinaloa-Syndikat des berühmten, in den USA inhaftierten Drogenbosses Joaquín „El Chapo“ Guzmán oder das besonders blutrünstige „Kartell Jalisco Nueva Generación“ (CJNG) parallele Mächte und haben den Staat als Ordnungsmacht verdrängt.
Die Kartelle beschränken sich dabei längst nicht mehr auf den Drogenhandel, sondern sie widmen sich fast jedem bekannten Delikt: Menschenhandel, Schutzgelderpressung und Waffenschmuggel gehören ebenso dazu wie neuerdings ein Verbrechen, das im mexikanischen Spanisch „Huachicoleo“ genannt wird: der Diebstahl und Schmuggel von Benzin, das die Banden aus Pipelines des staatlichen Ölkonzerns Pemex abzweigen oder das sie durch das Kapern von Tankwagen erbeuten. In Guanajuato, einem kleinen, touristischen Staat im Zentrum des Landes, wurden 2019 knapp 5000 Menschen ermordet.
Und das vor allem deshalb, weil dort die zweitgrößte von sechs Raffinerien Mexikos steht, von wo aus der gesamte Nordwesten des Landes mit Gas, Benzin und Diesel versorgt wird. Um diesen Millionenmarkt ringen das CJNG-Kartell und die ortsansässige Mafia mit dem Namen „Santa-Rosa-de-Lima-Kartell“.
Die Mordstatistik für 2019 ist eine bittere Niederlage für López Obrador. Er hatte der Bevölkerung im Wahlkampf ein schnelles Eindämmen der Gewalttaten versprochen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern rückte er im Kampf gegen organisierte Verbrecherbanden von der militärischen Konfrontation ab. Er zog Militär und Bundespolizei zum Teil ab, schuf mit der Nationalgarde eine neue Truppe und setzte mit Teilamnestien und Stipendien für Jugendliche präventive Akzente.
Doch diese Strategie kann bestenfalls langfristig erfolgreich sein. Kurzfristig schufen die neue Politik und der Abzug der Sicherheitskräfte hingegen in manchen Gegenden ein Machtvakuum, das die Mafia-Banden rasch füllten. López Obrador erkennt das Problem zwar, sieht sich jedoch auf dem richtigen Weg. Verantwortlich für die Situation seien die „korrupten Vorgängerregierungen“.
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