Samstag, 31. August 2013
Brief aus Havanna (9) Volker Hermsdorf
Mitte Juli sitze ich wieder im Flugzeug nach Havanna und schäme mich meiner Naivität. Als ich vor einigen Wochen in der kubanischen Hauptstadt die Reise nach Deutschland plante, hatte ich die anstrengende Route über Moskau in Erwägung gezogen, in der Hoffnung dadurch die Übermittlung meiner Fluggastdaten an die Behörden der USA verhindern zu können. Zwar war ich auch zu diesem Zeitpunkt schon davon überzeugt, daß CIA, NSA und die restlichen Schnüffeldienste ohnehin mehr von mir wissen als meine besten Freunde, doch damals dachte ich noch, ihre Art der Beschaffung dieser Informationen sei zumindest »illegal«, und außerdem ging es mir ums Prinzip.
Ich wollte nicht hinnehmen, daß eine konservativ-sozialdemokratische Politikerallianz im EU-Parlament nicht einmal den Versuch unternimmt, die Daten der Bürger zu schützen. Auf Verlangen der USA müssen europäische Fluggesellschaften die Reisedaten ihrer Passagiere bei Ein- und Ausreise, Zwischenlandung und Überflug an die US-Behörden übermitteln und zwar »anlaßlos und verdachtsunabhängig«. Mein Flug nach Havanna wird den USA also gemeldet. Nicht von schmierigen Spitzeln, die mich heimlich überwachen, sondern offiziell und mit dem Segen der Politiker, die einen Eid darauf geschworen haben, genau so etwas zu verhindern. – Hatte ich tatsächlich geglaubt der weltweiten Überwachung zu entgehen, wenn ich über Moskau fliege? Wie naiv.
Zum einen, weil Rußland für sich mittlerweile das gleiche Recht beansprucht wie die USA und seit Anfang Juni ebenfalls die Übermittlung von Fluggastdaten verlangt. Zum anderen, weil wir dank Edward Snowden endlich Gewißheit über etwas erlangt haben, was wir schon immer vermutet hatten: die flächendeckende Erfassung, Auswertung und Speicherung unserer Telefongespräche, E-Mails und jedweder sonstiger Fernkommunikation. Unter der Kontrolle der US-Dienste sind multinationale Konzerne daran als Helfer ebenso beteiligt wie die Staatssicherheit der BRD. – Hatte ich wirklich auch nur einen Moment gehofft, daß sich irgendjemand in Medien und Politik darüber ernsthaft empört? Wie naiv.
Doch all dies, so beruhigen mich die Experten in den unvermeidlichen Talkshows, dient dem Schutz der Demokratie und der Verteidigung meiner Freiheit und der mir verfassungsmäßig garantierten Rechte. Deutschland ist schließlich nicht Rußland oder gar Kuba, sondern hat eine freiheitlich demokratische Grundordnung und ein Grundgesetz. Darin steht, daß Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis »unverletztlich« sind (Art. 10), daß Handlungen, die geeignet sind, das »friedliche Zusammenleben der Völker zu stören«, verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen sind (Art. 26) und sogar daß ein »Recht zum Widerstand« besteht, »wenn andere Abhilfe nicht möglich ist« (Art. 20). Wie gut, denke ich beim Flug über den Atlantik, daß die Politiker zu Hause unermüdlich für die Verteidigung dieser Freiheitsrechte kämpfen und daß sie Hohn, Spott und Schmähungen auf sich nehmen, um diesen Kampf gegen das Böse gemeinsam mit unseren US-amerikanischen Freunden zu führen.
Die Gefahren für Freiheit und Wohlstand lauern schließlich überall. Zum Beispiel auf Kuba. In den unabhängigen, der Freiheit und Wahrheit verpflichteten Medien, mit denen Konzerne die Menschen in Europa über das informieren, was sie wissen sollten, wird enthüllt, wie es dort zugeht. Als Quellen dienen Informanten, die ihr Leben völlig selbstlos dem Widerstand gegen einen Staat gewidmet haben, der seine Bürger – wie sie sagen – schamlos ausspioniert. Einer davon heißt Guillermo Fariñas, der mit bisher 23 Hungerstreiks würdig für das Guiness-Buch der Rekorde ist. Zum gleichen Zeitpunkt als der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich sich Anfang Juli in Washington über die demokratiefördernde Arbeit von CIA und NSA informieren ließ, klärte der kubanische »Dissident« Fariñas die Mitglieder des Europäischen Parlaments über das »repressive Spitzelregime der Castros« auf und bekam in Straßburg dafür den Sacharow-Preis und 50.000 Euro. Während Rechtskonservative und Sozialdemokraten dem Mann frenetisch applaudierten, der wenige Wochen zuvor noch in Miami andächtig am Grabe des exilkubanischen Terroristen Jorge Mas Canosa gekniet hatte, verließen linke Europapolitiker den Plenarsaal. Die deutsche Vorsitzende der linken Fraktion GUE/NGL, Gabriele Zimmer, blieb mit den Rechten sitzen, um den bekennenden Antikommunisten Fariñas zu ehren.
Der Vorfall sagt einiges über die Prioritäten europäischer Politiker und Medien aus. Kurz vor Fariñas durfte eine andere kubanische Systemgegnerin, Berta Soler von den »Damas de Blanco«, ebenfalls den Sacharow-Preis samt den zugehörigen 50.000 Euro aus Europa mit nach Hause nehmen. Und auch die Bloggerin Yoani Sánchez, die mittlerweile wieder die Aussicht vom Balkon ihrer Eigentumswohnung am Platz der Revolution, einer der begehrten Wohnlagen Havannas, genießt, wurde in Europa mit Auszeichnungen und Geldprämien überhäuft. Die Europäer lassen sich den Kampf für Freiheit und Demokratie etwas kosten.
Zwischen den Wolken sind mittlerweile der südliche Zipfel Floridas und die Keys zu erkennen. Das Flugzeug nähert sich Havanna von Norden. Irgendwo Backbord, gut 800 Kilometer von hier entfernt, liegt die Guantánamo-Bucht mit dem von den USA noch immer besetzten Militärstützpunkt und dem berüchtigten Folterlager Camp Delta. 166 Menschen werden dort seit Jahren ohne Prozeß gefangen gehalten, isoliert, gedemütigt und gefoltert. Der größte Teil von ihnen zieht es vor, eher zu sterben, als so zu vegetieren, und protestiert seit Wochen mit einem Hungerstreik. Keiner von ihnen hat je einen Menschenrechtspreis erhalten.
Die dort Gequälten erfahren eine weitere Demütigung: Ihr Schicksal und sie selbst sollen vergessen werden. In Westdeutschland ist diese Methode nach den Greueltaten der Faschisten mit großem Erfolg erprobt worden. Wenn das Leugnen der Verbrechen nicht möglich ist, hilft Verdrängen und Vergessen. Der Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano hat dafür den Begriff der »zweiten Schuld« geprägt.
Obwohl es spät am Abend ist, als die Maschine auf der Landebahn des Internationalen Flughafens José Martí aufsetzt, steigt die Tropenhitze noch immer flimmernd von den Betonplatten auf. Aus der angenehmen Sommertemperatur in Hamburg kommend bin ich wieder in der anderen Welt, in der mich glutheiße Sonne am Tag und schwüle Hitze in der Nacht, Mücken und Sandflöhe, tropische Regengüsse und Hurrikans, aber auch spannende Lektüre, interessante Begegnungen und intelligente Gespräche und vor allem der beste Café der Welt erwarten. Nach den kafkaesken Gefühlen, die die erbärmlichen Reaktionen der europäischen Regierungen auf die US-Spionageangriffe in mir ausgelöst hatten, freue ich mich auf die Menschen und das politische Klima hier in Havanna. »Al pan, pan y al vino, vino« lautet ein Motto der spanischsprachigen Welt, auf das die Habaneros besonderen Wert legen. Sinngemäß bedeutet es: »Die Dinge beim Namen nennen.«
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