Samstag, 15. September 2018

Vom Land an die Ränder der Städte


Aus der ruralen Leibeigenschaft ins moderne Lumpenproletariat: Alice Rohrwachers neuer Film »Glücklich wie Lazzaro«

Von Gebhard Hölzl
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»Lazzaro ist schon wieder verzaubert«, sagen die Mädchen
»Glücklich wie Lazzaro«, Regie: Alice Rohrwacher, BRD/Frankreich/Italien/Schweiz 2018, 127 min, bereits angelaufen
Die Unmöglichkeit, »gut zu sein und doch zu leben«, hat schon Brecht sehr beschäftigt. Der neue Film von Alice Rohrwacher, »Glücklich wie Lazzaro«, hat nun einen »unscheinbaren Heiligen« zum Titelhelden, »der in dieser Welt lebt und von niemandem etwas Böses denkt«. So erklärt es die zur Zeit wohl spannendste Filmemacherin Italiens. Der lockenköpfige Lazzaro, überzeugend gespielt vom Debütanten Adriano Tardiolo, sei einer, »der keine Wunder vollbringt, der über keine besonderen Fähigkeiten verfügt, keine magischen Kräfte besitzt«, jedoch »immer an die Menschen glaubt«. Wie das?
Rohrwacher hat ihren Film, für den sie in Cannes gefeiert und mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, ein »politisches Manifest« genannt, aber auch »ein Lied«. Es handelt sich zudem um ein Märchen, eine Geschichtsparabel und einen Kommentar zu aktuellen sozialen Verwerfungen. Der Film lässt zu Beginn ein proletarisches, nicht verklärtes Italien auferstehen. Man denkt an das marxistische Epos »1900« von Bernardo Bertolucci und neorealistische Meisterwerke wie »Das Wunder von Mailand« (Vittorio De Sica), »Die Erde bebt« (Visconti) oder »Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß« (Pasolini).
Schauplatz ist zunächst Inviolata, ein abgeschiedenes Landgut, auf dem Marchesa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi), dem Faschismus des »Duce« verhaftet, ihre Leibeigenen schindet, darunter der junge Lazzaro, gutmütig, duldsam, unschuldig. Für einfältig könnte man ihn halten. »Lazzaro ist schon wieder verzaubert«, sagen die Mädchen, wenn ihn eine Epiphanie überkommt.
Das Regime der Großgrundbesitzerin scheint aus der Zeit gefallen, allerdings gibt ein Walkman einen Hinweis auf die 80er Jahre, in denen der Sklaverei ähnliche Zustände auf italienischen Plantagen pro forma abgeschafft wurden. Ein kleiner Fluss und ein Erdrutsch haben die Enklave entstehen lassen. In Abwesenheit alles Staatlichen gibt es hier nur die Willkür der Gutsherrin und ihres Verwalters. Eine archaische Gesellschaft, am unteren Ende muss der gutmütige Lazzaro den Hühnerstall bewachen, Kaffee kochen, die Ernte einbringen und die Großmutter ins Bett tragen. Befehle und Zurechtweisungen werden grob erteilt in diesen feudalen Verhältnissen, die überall noch Gültigkeit besitzen.
Als langlebig erweist sich eine ungleiche Freundschaft zwischen Lazzaro und dem Sohn der Markgräfin, Tancredi (wie Alain Delon in Vis­contis »Der Leopard«, ein opportunistischer Aufsteiger). Im Verlauf des Films werden die Bauern aus der Leibeigenschaft befreit und waten durch einen Fluss, um sich am anderen Ufer in modernes Lumpenproletariat zu verwandeln. Regisseurin Rohrwacher ging es um »das Ende der Agrargesellschaft, die Migration der Menschen vom Land an die Ränder der Städte, deren Modernität ihnen fremd war. Menschen, die das wenige, das sie hatten, zurückließen und dann noch weniger hatten«.
Lazzaro stürzt von einem Felsen zu Tode, um Jahre später in der Metropole wieder aufzutauchen (vgl. Bibel, Lazarus). In dem urbanen Elend trifft der »reine Tor« auf viele Migranten, aber auch auf Überlebende aus Inviolata, darunter Antonia, die eine gewisse Zuneigung für ihn entwickelt (gespielt von Alba Rohrwacher, Schwester der Regisseurin). Mehr schlecht als recht schlagen sich die Elenden als Tagelöhner durch oder mit kleinen Gaunereien. Nicht einmal in der Kirche, wohin Orgeltöne den Helden und seine neue (Roma-)Familie locken, sind sie willkommen. Eine Nonne setzt sie vor die Tür, das Gotteshaus sei geschlossen.
Eine historische Parabel darüber, wie wenig sich im letzten Jahrhundert im Prinzip geändert hat. Der Film stellt unbequeme Fragen nach Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, eher assoziativ als stringent. »So unaufdringlich wie möglich, mit Liebe und Humor«, habe sie von verheerenden Entwicklungen erzählen wollen, sagt die 35jährige Regisseurin, die vor ihrem Debütfilm »Corpo Celeste« (2011) in Turin Literatur und Philosophie studierte, Theaterautorin, Musikerin, Kamerafrau und Cutterin war. 2014 erhielt sie für »Land der Wunder« den Großen Preis der Jury in Cannes.
Eine Komplizin hat Rohrwacher in der erfahrenen Kamerafrau Hélène Louvart (»Pina – ein Tanzfilm in 3D«). Gedreht wurde auf Super-16-Filmmaterial. Licht und Schatten, Farben und Kontraste sind auf wunderbare Weise eingefangen. Blätter an Bäumen rauschen, ohne sich zu bewegen, und bei der Ernte tanzt die Spreu in der Sonne, die auf Ausbeuter und Ausgebeutete scheint, ob die es wahrhaben wollen oder nicht.

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