Recha Freier erkannte zwei Jahre vor der Machtübernahme der Nazis Gefahr für Juden in Deutschland
Von Kai Böhne
Die erste Gruppe der Jugend-Alijah aus Deutschland im Februar 1934
Foto: Zoltan Kluger [Public domain], via Wikimedia Commons
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Bei einem Spaziergang in ihrer ostfriesischen Geburtsstadt Norden hatte die vierjährige Recha Schweitzer im Jahr 1896 ein einschneidendes Erlebnis. Den eingezäunten Blücherplatz durfte sie mit ihrer Familie nicht betreten. Auf einem Schild am goldglänzenden Gitter stand: »Eintritt für Hunde und Juden verboten!« Diese Grunderfahrung prägte ihr weiteres Leben.
Nach dem Schulabschluss studierte sie neue Sprachen, Pädagogik und Volkskunde in Breslau und München und machte das Staatsexamen als Lehrerin für Höhere Schulen. Anschließend arbeitete sie als Pädagogin und Pianistin.
1919 heiratete Recha Schweitzer den Rabbiner Moritz Freier. Beide verband das Interesse an Literatur und an der Idee des Zionismus. Doch Recha trat weit überzeugter als ihr Mann für die baldige Auswanderung der Juden nach Palästina ein. Das Paar zog nach Sofia in Bulgarien; Moritz Freier arbeitete dort als Rabbiner, während Recha an einer deutschen Schule unterrichtete. Das Paar hatte drei Söhne und eine Tochter. 1926 bekam Moritz Freier eine Stelle als Oberrabbiner in Berlin angeboten. Daraufhin suchte sich die Familie eine Wohnung in der Hauptstadt.
Bis 1931 sei seine Mutter »weitgehend in ihrer geistigen Welt aufgegangen«, schrieb ihr ältester Sohn Shalhevet Freier später in seinen Erinnerungen, »bis sie mit einer zunehmenden Zahl junger jüdischer Arbeitsloser konfrontiert wurde«. Schlimmer als die steigende Arbeitslosigkeit sei »der Geist der schnell wachsenden NSDAP« gewesen, erklärte Shalhevet Freier. Dieser Geist begann »das Land zu durchdringen und jede Aussicht auf Arbeit für junge Juden zunichte zu machen. »Mit fast unheimlichem Gespür für kommende Entwicklungen«, bilanzierte ihr Sohn, kam seine Mutter bereits »zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme zu dem Schluss, dass es für Juden keine Zukunft in Deutschland gab«.
1932 wandten sich fünf Jugendliche, die aufgrund ihres Glaubens ihre Arbeitsplätze verloren hatten, hilfesuchend an Recha Freier, die ihnen eine Übersiedlung nach Palästina organisierte. Weitsichtig gründete die Pädagogin Anfang 1933 die Organisation Jugend-Alijah, die sich das Ziel gesetzt hatte, möglichst viele Jugendliche aus dem faschistischen Deutschen Reich nach Palästina in Sicherheit zu bringen. Freier ging entschlossen und nicht immer legal vor, wenn es darum ging, die nötigen Aus- und Einreisepapiere für die Jugendlichen zu beschaffen. Auch nach den Novemberpogromen 1938 setzte sie ihre Arbeit fort.
»Recha war für uns Kinder eine feste Stütze und gab uns Hoffnung«, formulierte Karl Kleinberger, einer der geretteten Jugendlichen. Mit Recha Freier hätten sie über alle ihre Probleme sprechen können. Zum Ende seiner Aufzeichnungen bekannte Kleinberger: »Wir werden ihr ewig dankbar sein.«
1940 wurde sie von Kollegen denunziert. Da sie rechtzeitig gewarnt wurde, gelang ihr mittels britischer Einreisepapiere die Flucht. Über Wien, Zagreb, die Türkei, Griechenland und Syrien erreichte sie Palästina. Rund 7.600 jüdische Heranwachsende konnte sie vor dem sicheren Tod schützen, indem sie deren Ausreise nach Palästina plante und durchführen ließ. Dabei stieß ihr Engagement auch auf den Widerstand der zionistischen Bewegung, die in Palästina keine unerfahrenen Jugendlichen, sondern ausgebildete Fachkräfte haben wollte.
Auch nachdem sie in Israel angekommen war, ließ Recha Freiers Engagement nicht nach. Dort gründete sie 1943 ein Zentrum zur landwirtschaftlichen Ausbildung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Außerdem beschäftigte sie sich mit moderner Musik, spielte Klavier und schrieb Gedichte auf Deutsch und Hebräisch
1958 initiierte Recha Freier eine Stiftung für israelische Komponisten. Sie war sich bewusst, dass viele von ihnen, deren Fähigkeiten sie hoch schätzte, erhebliche Schwierigkeiten hatten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. »Wie bei ihren früheren Initiativen wurde die systematische Unterstützung israelischer Komponisten später von den Behörden, in diesem Fall vom Erziehungsministerium, übernommen«, ergänzte ihr Sohn Shalhevet Freier.
1966 gründete sie das »Testimonium Scheme«, eine Vereinigung von Literaten und Musikern. Der israelische Komponist Josef Tal beschreibt in seiner Autobiographie ein Zusammentreffen mit Recha Freier. Er vergleicht sie mit einem Planeten am Himmel seines Lebens, der ihm große Bereicherung, aber auch Konflikte gebracht habe. Auch der englische Komponist Alexander Goehr war beeindruckt von ihrer Ausstrahlung. Von ihr seien gleichzeitig »Entschlusskraft und Gelassenheit« ausgegangen. Am 2. April 1984 starb Recha Freier im Alter von 91 Jahren in Jerusalem.
Bereits zu ihren Lebzeiten fand ihre Lebensleistung Anerkennung. Albert Einstein schlug die Widerstandskämpferin mit ihrer Organisation Jugend-Alijah 1954 für den Friedensnobelpreis vor. 1975 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität in Jerusalem verliehen. 1981 wurde sie mit dem Israel-Preis, der höchsten Auszeichnung des Staates ausgezeichnet.
Nach ihrem Tod wurde in Jerusalem in der Nähe ihres Wohnhauses ein Platz nach Recha Freier benannt. Ihre Geburtsstadt Norden, im nordwestlichsten Zipfel Niedersachsens, brachte im Oktober 2009 am ihrem Geburtshaus eine Gedenktafel an und benannte 2013 einen Platz im Stadtzentrum nach der mutigen Pädagogin.
Die israelische Post würdigt Recha Freier und die Kibbuzgründerin Ada Sereni aktuell jeweils mit einer 2,50-Schekel-Sonderbriefmarke, die seit dem 28. August ausgegeben wird.
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