Von Hermann Bellinghausen
(Mexiko-Stadt, 5. November 2016, La Jornada).- Im Gebirge von Guerrero, zwischen
den Regionen Costa Grande und Tierra Caliente sind Dutzende von
Dörfern und Ejido-Siedlungen verlassen oder befinden sich in der
Gewalt des organisierten Verbrechens. Sie sind praktisch
menschenleer, abgesehen von den Bewohner*innen, die akzeptierten
oder gezwungen wurden, für die Kriminellen zu arbeiten. Manuel
Olivares, Leiter des Regionalen Menschenrechtszentrums José María
Morelos y Pavón (Centro Morelos) mit Sitz in der guerrensischen
Stadt Chilapa beschreibt die Situation eindrücklich. Er weist die
Verantwortung für diese Situation den Interessen sowohl der
multinationalen als auch mexikanischen Bergbauunternehmen zu. Das
organisierte Verbrechen agiert wie ihr paramilitärischer Arm.
Obwohl sie nicht vollständig erfasst sind, geht es um hunderte von
Familien in tragischen Lebensumständen. Viele von ihnen leben
verstreut im Bundesstaat, im übrigen Land oder in den USA.
In der einfach Sierra genannten Gebirgsregion Guerreros, „in
den Landkreisen San Miguel Totolapan, Ajuchitlán del Progreso,
Arcelia, und Coyuca de Catalán finden sich völlig unbewohnte
Gemeinden“, beschreibt Olivares. Die Gemeinde La Laguna
beispielsweise ist seit 2011 menschenleer. „Dasselbe gilt für
die Bergregionen der Costa Grande in den Landkreisen Petatlán,
Coyuca de Benítez und andere mehr.“ Im Interview mit La Jornada
betont Olivares ohne jegliche Ironie: „Zufällig gibt es in all
diesen Orten mehrere Bergbaukonzessionen, die zuvor aufgrund der
sich sträubenden Ejidos (Agrargemeinden mit Gemeinschaftsbesitz)
und Siedlungen nicht realisiert werden konnten.“ Fast alle der
Ejidos, die derzeit unter der Besitznahme durch die organisierte
Kriminalität leiden, hatten sich der individuellen
Parzellenbetitelung durch das Zertifizierungsprogramm für
Ejidorechte und Betitelung von urbanen Grundstücken (Procede)
und das Zertifizierungsprogramm für Kommunalrechte (Procecom;
für die indigenen Gemeinden) der Regierung verweigert.
Ejido-Bewohner*innen werden vertrieben, andere
verschwindengelassen
„Für die Bergbauunternehmen ist es einfacher, auf entvölkertem
Land tätig zu werden als sich mit Ejido- und
Gemeindeversammlungen herumschlagen zu müssen, also wurde die
Ejidos auseinander getrieben. Die Beauftragten (comisariados)
und delegierten der Ejidos sind mit ihren Familien geflohen,
genauso wie die übrigen Ejido- oder Gemeindebäuer*innen. Oft
lassen sie die Dokumente über ihr Territorium zurück. In der
Praxis wurde dieses zu freiem Land, teilweise seit mehr als fünf
Jahren. Laut Gesetz gelten die Böden, wenn sie weder bewohnt
noch bearbeitet werden, als verlassen.“ Ein konkreter Fall ist
Guajes de Ayalas. Dort verließen fast alle Bewohner*innen
einschließlich der Behörden den Ort. Jetzt haben sie keine
Dokumente, die ihre Eigenschaft als Ejidobäuer*innen beweisen.
Aber „nicht alle Leute gaben die Böden auf. Von 16.000 Hektar
sind nur 5.000 nicht in Beschlag genommen. Für den Rest zahlen
die Zurückgebliebenen den kriminellen Organisationen eine
‚Steuer‘ oder sie bestellen die Felder für diese“, fügt der
Leiter des Centro Morelos hinzu. Die Menschenrechtseinrichtung
hat mit Dutzenden von Fällen des Verschwindenlassens von
Personen in der Region zu tun, alle im Kontext der Invasion des
organisierten Verbrechens. Dutzende Familien suchen ihrer
Töchter und Söhne.
Frauen als „Kriegsbeute“
„Die Frauen sind eine regelrechte Kriegsbeute. Man sieht die
jungen Mädchen mit den ‚Narcos‘ leben. Frauen und Kinder sind
die, die am meisten leiden. Es bleibt kein Ehrenkodex, kein
Recht übrig. Die Männer und Jungen dienen als Auftragsmörder,
pflanzen Mohn oder Marihuana an, arbeiten zu.“ Olivares führt
aus, ein weiterer Faktor dieser verzweifelten Situation sei „der
Kampf zwischen den kriminellen Organisationen um die Kontrolle
des Territoriums und das ‚Bedürfnis‘ nach ausgedehnteren
Landflächen. Und weil sie Arbeitskraft brauchen, wird die
Bevölkerung der Gruppe eingegliedert oder Geld von ihr
eingefordert. Darum gehen die Menschen weg, es ist
unerträglich.“ Die Zerstreuung der Gemeinden ist absolut. Einige
Dutzend Familien haben sich in andere Landkreise in Guerrero
geflüchtet. Aber unzählige Familien sind nach Michoacán,
Jalisco, Baja California migriert oder in die USA. Jetzt sind
sie Tagelöhner*innen.“ Das Centro Morelos arbeitet derzeit mit
Gruppen von neun, 16 und 34 Familien, die im Bundesstaat selbst
intern vertrieben sind und ihr Land sowie das Recht, auf ihm
leben und arbeiten zu können, zurückfordern.
Auf die Frage, ob es sich um indigene Gemeinden handelt,
antwortet Manuel Olivares kategorisch: „Nein, sind sie nicht.
Die verlassenen Orte waren von Mestiz*innen und von Völkern
bewohnt, die schon vor geraumer Zeit ihre Sprache und ihre
Bräuche aufgegeben haben. Es geschieht bei ihnen einfacher, dass
sie ihre Ejidos verlassen. Die indigenen Völker haben eine
andere Kosmovision, was das Land und den Widerstand gegen den
Bergbau und die organisierte Kriminalität anbelangt. In den
indigenen Gemeinschaften in den Regionen Montaña, Sierra und
Costa hat sich die gemeindebasierte Polizei geformt, um
Kriminalität und Bergbau einzudämmen.“ Darum verteidigen sich
die indigenen Gemeinden und verlassen ihre Orte in diesen und
anderen Regionen Guerreros, die ebenso vom Verbrechen verwüstet
und von den Bergbauunternehmen begehrt sind, nicht so einfach.
Tlachinollan: Menschen am Limit und ohne Vertrauen in
die Behörden
Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan hat das Misstrauen der
Menschen im Bundesstaat Guerrero in die Behörden mit deren
„Komplizentum mit dem organisierten Verbrechen“ erklärt. Die vorkommende Gewalt sei zu einem
großen Teil auf die Zusammenarbeit von Polizeikräften und
Kriminellen zurückzuführen und die Bevölkerung, die sich am
Überlebenslimit befinde, wisse dies genau. Trotz dieser
Situation werde am Sicherheitssystem nichts geändert, der
Polizeiapparat werde nicht gesäubert. Die Entsendung von mehr
Soldaten und Polizist*innen gehe die Gewalt weder an den Wurzeln
an noch würden damit die sozialen Problematiken identifiziert.
Um die Regierbarkeit in Guerrero zu garantieren, sei ein
integrales Sicherheitskonzept notwendig, welches die
Ungleichheit reduziere. „Haushaltskürzungen für Sozialausgaben,
die Vernachlässigung im Gesundheitssektor, fehlende
Unterstützung für arme Bäuer*innen und Indígenas bei der
Produktion von Grundnahrungsmitteln und das große
Bildungsdefizit gefährden die Regierbarkeit im Bundesstaat
schwerwiegend.“
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