Sonntag, 16. Juni 2013
Brief aus Havanna (7) (Volker Hermsdorf)
Am 19. Mai 1895 wurde der kubanische Nationalheld José Martí im Unabhängigkeitskrieg seines Landes gegen Spanien getötet. Der Pädagoge, Journalist und Schriftsteller steht wie kein anderer für den vor zwei Jahrhunderten begonnenen Befreiungskampf Kubas und anderer lateinamerikanischen Länder von kolonialer, imperialer und kapitalistischer Hegemonie.
In diesem Jahr fiel der Todestag des Poeten auf einen Sonntag, an dem ich das zu Martís Ehren im Jahr 1905 in der Mitte des Parque Central von Havanna errichtete Marmordenkmal aufsuche, das auch für das Ende der spanischen Vorherrschaft steht. Zuvor hatte an der gleichen Stelle mehrere Jahrzehnte ein Denkmal von Königin Isabella II. den Platz beherrscht. Der Ort erinnert mich bei jedem Besuch daran, daß Kuba – trotz des Unabhängigkeitskrieges – bis zum Sieg der Revolution ein von fremden Mächten beherrschtes und ausgeplündertes Land war. In den 1950er Jahren hatten betrunkene US-Soldaten ihre Mißachtung des kubanischen Volkes durch Urinieren auf das Denkmal des Nationalhelden hier im Parque Central demonstriert.
Mir kommt auch das Lied »Guantanamera« in den Sinn, das vermutlich mehr Menschen kennen als den Namen José Martís, der den Text dazu verfaßt hat. In der Zeile »Con los pobres de la tierra quiero yo mi suerte echar« (Mit den Armen der Erde will ich mein Los teilen) beschrieb Martí vor über 130 Jahren eine Haltung, die seit der Revolution zur Leitlinie der kubanischen Außenpolitik wurde und sich in den Bündnissen der lateinamerikanischen Staaten manifestiert. Die meisten Menschen der Region identifizieren sich – unabhängig von ihren politischen Überzeugungen, religiösen Anschauungen und sozialen Positionen – mit den Idealen Simón Bolívars und José Martís. In Deutschland sind einem großen Teil der Bevölkerung nicht einmal deren Namen bekannt.
Als Pendler zwischen diesen Welten war ich Anfang Mai für knapp zwei Wochen nach Hamburg geflogen und habe dort die milde Frühlingssonne und andere positive Dinge genossen, die Deutschland zu bieten hat. Die Medien gehören nicht dazu. Nach längerer Abwesenheit wird mir in wenigen Tagen gleich an mehreren Beispielen vor Augen geführt, wie armselig das Informationsniveau in Deutschland ist, in einer Gesellschaft, in der wenige Konzerne die wirtschaftliche und politische Kontrolle über die meinungsbildenden Medien ausüben und letzten Endes darüber entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht. Der Tenor der Berichterstattung über Kuba unterscheidet sich kaum von dem über Serbien, Syrien, Libyen oder den Iran. Was die Mainstreammedien schreiben und was sie verschweigen hängt meist nicht vom Informationsgehalt einer Nachricht, sondern von deren Tauglichkeit für die politische Stigmatisierung ab.
Kein Thema für die deutschsprachigen Mainstreammedien waren unter anderem die folgenden – im April und Mai veröffentlichten – Meldungen über Kuba: ein Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), nach dem Kuba das einzige Land in Lateinamerika und der Karibik ist, das die Unterernährung von Kindern beseitigt hat; eine Mitteilung der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), die Kuba die größten Fortschritte in der Region im Kampf gegen den Hunger bescheinigt und die Regierung des Landes lobt, weil es die beim Welternährungsgipfel 1996 in Rom für das Jahr 2015 vereinbarten Ziele zur Beseitigung des Hungers in der Welt – trotz US-Blockade – bereits zwei Jahre früher erreicht hat; der Jahresbericht der Organisation »Save the Children« für 2013, nach dem Kuba das Land in Lateinamerika ist, das Müttern (gemessen an Kriterien wie Gesundheit der Mütter, Kindersterblichkeit, Ausbildung und Einkommen sowie der sozialpolitischen Lage der Frauen) die besten Bedingungen bietet; die Anerkennung der Fortschritte Kubas bei der Verwirklichung der Menschenrechte in der turnusmäßigen Anhörung vor dem UN-Menschenrechtsrat am 1. Mai in Genf.
Selbstverständlich könnte die fehlende Berichterstattung daran liegen, daß sich in Zeiten, in denen die Bevölkerung systematisch auf einen neuen Krieg (gegen Syrien) vorbereitet und die Verflechtung bundesdeutscher Geheimdienste mit Nazistrukturen in den Berichten über den NSU-Prozeß verschleiert werden müssen, einfach kein Platz für Artikel über die Situation in einem fernen karibischen und dazu auch noch sozialistischem Entwicklungsland findet.
Allerdings war das Gegenteil der Fall. Selten wurde in deutschsprachigen Medien so ausführlich über Kuba berichtet wie im Mai 2013. Doch während die oben erwähnten Meldungen den Lesern vorenthalten wurden, schwärmte der veröffentlichte Mainstream, der auch die taz und den Freitag mitriß, von der weltreisenden Bloggerin Yoani Sánchez, als »einer der bekanntesten Stimmen Kubas« (taz). Plötzlich ist das Thema Kuba interessant, füllt ganze Zeitungsseiten, sogar Guido Westerwelle interessiert sich für Frau Sánchez, und ihre Meinung über Kuba findet sein Gefallen.
Die Welt, die sie beschreibt, unterscheidet sich allerdings völlig von dem, was die Experten der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen der Antilleninsel attestieren. Doch Quellen und Belege muß sie nicht angeben, denn Yoani Sánchez, schreibt die taz, ist eine »Kämpferin gegen die Zensur«. Aus der Welt erfahren wir Neues: »Unter Fidel Castro war das Bloggen ein Straftatbestand.« Etwas später schreibt das Springer-Blatt, daß Frau Sánchez trotzdem seit sechs Jahren einen Blog betreibt. Für den Widerspruch gibt es eine Erklärung wie aus einem James-Bond-Film: »In der Zeit habe ich mich als deutsche Touristin ausgegeben, wenn ich ins Internet mußte«, zitiert der Welt-Autor Yoani Sánchez, die bei einem zweijährigen Aufenthalt in der Schweiz ein wenig deutsch gelernt habe. Da freut sich der Welt-Leser, daß nicht nur der Staatsschutz in Deutschland gegenüber Nazis blind ist, sondern auch die kubanischen Behörden sich von einer »der bekanntesten Stimmen Kubas« sechs Jahre lang an der Nase haben herumführen lassen.
Die taz gibt ihren grünliberalen Stammlesern keine Rätsel auf. Sie schreibt von »der Armut, die Yoani Sánchez erlebt hat« und verschweigt dabei, daß ihr Auszeichnungen und Honorare aus westlichen Ländern zu einem höheren sechsstelligen Vermögen verholfen und sie damit zur vermutlich reichsten Frau Kubas gemacht haben. Doch wer das nicht weiß – und aus taz und Welt auch nicht erfährt – muß sich nicht mit Fragen quälen. So wie ein Leser des Freitag, der nach der Lektüre eines Artikels über Yoani Sánchez irritiert fragte, wie jemand gleichzeitig die »bekannteste Bloggerin Kubas« (Artikelvorspann) und »Stimme des Volkes« (Artikeltext) sein kann, wenn es im gleichen Artikel etwas später heißt: »in Kuba ist ihr Blog weniger bekannt«. Der irritierte Freitag-Leser wartet bis heute auf eine Antwort.
Am 13. Mai fliege ich zurück in das Land, das nach dem von den Mainstreammedien vermittelten Eindruck eine Hölle sein muß und frage mich im Flugzeug selbstkritisch, ob ich zum Masochisten geworden bin. Einige Tage später komme ich in der Buchhandlung des Kubanischen Buchinstituts (ICL) in der Calle Obispo in Havannas Altstadt beim Blättern in einem neuen Werk des Journalisten und früheren ICL-Präsidenten Iroel Sánchez über die Dissidentenszene des Landes mit einem Besucher ins Gespräch. Er will von mir wissen, ob der Systemgegnerin Yoani Sánchez im Westen tatsächlich geglaubt wird. Als ich ihm antworte, daß sie meiner Einschätzung nach selbst bei einigen Menschen, die sich fortschrittlich geben, auf Interesse stößt, schüttelt er ungläubig den Kopf. »Alle Kubaner, sogar solche, die gegen die Regierung oder den Sozialismus sind, identifizieren sich mit unserem Nationalhelden José Martí«, erklärt er und fragt mich dann, ob ich das Lied »Guantanamera« kenne. Als ich wissen will, was das mit der Weltreise von Yoani Sánchez zu tun hat, sagt er: »Wenn Du verstehst, was die Ideen von José Martí für uns bedeuten, dann begreifst Du besser, warum solche Menschen, die sich von den Gegnern Kubas bezahlen lassen, bei den meisten Landsleuten so schlecht angesehen sind. Das Lied, das Yoani Sánchez und andere anstimmen, heißt nämlich nicht »Mit den Armen der Erde will ich mein Los teilen«, sondern: »Money, Money, Money.«
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