Sonntag, 16. Juni 2013
Von Mexiko nach Adlershof (Monika Melchert)
Als der Krieg zu Ende war, hatte Anna Seghers eine wichtige Entscheidung zu treffen: gehen oder bleiben. Während des Exils in Mexiko hat sie den größten literarischen Erfolg, aber auch die bitterste persönliche Niederlage erlebt: 1942 erscheint in den USA die Erstausgabe ihres Romans »Das siebte Kreuz« und wird ein Bestseller: mit dem »Book of the Month«-Preis ausgezeichnet, in Hollywood verfilmt, als Theaterstück und als Comicstrip adaptiert; schließlich von der US-Army als Sonderdruck für die GIs gedruckt, die mit dem Buch im Tornister in den Krieg gegen Hitlerdeutschland zogen. Doch ihr schwerer Verkehrsunfall in Mexiko-Stadt wenig später, der sie fast das Leben gekostet hätte, wirft sie mit aller Härte zurück. Das tiefste Leid, das sie hier ereilt, am »äußersten westlichen Punkt, an den ich jemals auf Erden geraten war«, ist der Verlust der Mutter. Noch 1943 erfährt sie, daß ein Visum, mit dem sie ihre Mutter Hedwig Reiling retten wollte, zu spät kam. Es hat die Mutter nicht mehr rechtzeitig erreicht, die 1942 in ein KZ bei Lublin deportiert wurde, was gleichbedeutend war mit ihrem Tod.
In ihrer vielleicht schönsten Erzählung »Der Ausflug der toten Mädchen« verarbeitet Anna Seghers 1943/44 das Trauma dieser Schrecken. Die Nachricht von den zerstörerischen Bombardements auf Mainz und vom Tod vieler ihrer Jugendfreundinnen hatte sie hier erreicht. Die Geschichte über ihre glückliche Jugend in Mainz, den Dampferausflug der Mädchenklasse auf dem Rhein und über ihre Eltern ist die einzige autobiografische Erzählung der Schriftstellerin. Und sie nimmt die Entscheidung literarisch vorweg: »Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt.« Die Sehnsucht nach der Muttersprache ist übermächtig. Ihr Mann Laszlo Radvanyi allerdings will vorerst in Mexiko bleiben, wo er eine Professur an der Universität hat.
Nach 14jährigem Exil kehrt die Schriftstellerin im Frühjahr 1947 nach Berlin zurück. Für den Neuaufbau Deutschlands will sie ihre ganze Kraft einsetzen. 1950 zieht sie in den Ortsteil Adlershof. Hier lebt die Freundin Berta Waterstradt, hierher zieht bald auch die Exilgefährtin Steffie Spira. Die Volkswohlstraße, in der sie später zusammen mit Laszlo Radvanyi eine Mietwohnung im Haus Nr. 81 bewohnt, wird nach ihrem Tod in Anna-Seghers-Straße umbenannt: »Zwei Plätze«, so schreibt sie 1972 an eine Freundin, »gibt es in dieser mir gleichgültigen Wohnung, die mich freuen, ein Eck im Fenster meines kleinen Schlafzimmers – Ruth sagt Kajüte –, ein Fenstereck, aus dem man weit raus sehn kann und sich einbilden, dahinter läge das Meer und die Schiffe oder sonst was. Und gut ist auch, auf dem kleinwinzigen Balkon zu liegen, und ich gucke mir abends die Vögel an und frage mich, warum sie herumfliegen, und ich denke auch, daß so einen Flug die Menschen noch nicht erfunden haben ... Und vor allem: ich kann viel und hoffentlich zum Teil auch gut schreiben.«
Wenn die Anwohner unter diesem Balkon entlanggingen, konnten sie bei gutem Wetter oft das Klappern ihrer Schreibmaschine hören – der Platz, vor dem die hohen Linden rauschten, war ihr ein wenig Ersatz für das Schreiben an Bord von Schiffen auf den Atlantiküberfahrten. Sie nennt den Balkon ihren »Mastkorb«. Mehrmals reist sie zwischen Europa und Südamerika hin und her. Dabei entsteht unter anderem die eindrucksvolle Erzählung »Überfahrt. Eine Liebesgeschichte« (1971), die in Brasilien spielt. Jorge Amado, der berühmte brasilianische Erzähler und Freund von Anna Seghers, schreibt über sie in seinen Lebenserinnerungen: »Sie wurde geboren, um treu zu sein, sie war korrekt, wie unbesonnen sie auch scheinen mochte, eine Bewohnerin der Welt des Mondes – warum denke ich an den Mond, wenn ich an Anna denke? Wegen ihrer Schönheit sicherlich, ich habe keine schönere Frau gekannt, kein verehrungswürdigeres Wesen, meine Schwester Anna. Als sie starb, fühlte ich mich einsam, schwach, mir fehlte ein Stück meines Herzens.«
In dieser Wohnung, an einem einfachen Schreibtisch mit großer, stabiler Holzplatte, arbeitet sie mit nie nachlassender Intensität – obgleich ihr die alte Malaise, der schwere Unfall in Mexiko, oft arg zusetzt und ihre Kräfte einschränkt. Doch von diesem Vorort Adlershof aus holt sie immer wieder die weite Welt in den kleinen Kreis ihres Lebens in der DDR. Gerade hier entstehen viele der in Mexiko, auf den karibischen Inseln und anderswo in Südamerika spielenden Erzählungen – Ausdruck ihres immensen historischen Interesses an der Geschichte anderer Völker, aber auch ihrer Sehnsucht nach dem Meer und den Tropen: Mexiko, das, so sagt Anna Seghers einmal, wie eine Mutter für sie war, als dieses Land den verfolgten Emigranten aus Hitlerdeutschland Zuflucht und eine neue Heimat bot. So schreibt sie hier etwa die Erzählung »Heimkehr des verlorenen Volkes« über die Wiedergewinnung des ureigenen Landes eines Stammes aus dem Volk der Maya, oder die Künstlergeschichte »Das wirkliche Blau«. Darin gibt sie ihrer Überzeugung Ausdruck, daß nur die Gestaltung des eigenen, aus der inneren Überzeugung des Künstlers selbst kommenden Themas und Stoffes wirklich Kunst hervorbringen kann; fremde, von außen an den Schaffenden herangetragene Aufträge dagegen fast immer zum Scheitern führen.
Die Wohn- und Arbeitsräume der Dichterin wurden nach ihrem Tod zur Gedenkstätte. Hier kann man seit 1985 alles im Originalzustand betrachten, liebevoll erhalten und betreut von der Akademie der Künste. Neben den authentischen Möbeln und Reisemitbringseln aus aller Welt, ihrer Sammlung von Muscheln, Steinen und Meeresschnecken, den Keramiken und Musikinstrumenten aus Mexiko, beeindruckt vor allem die Bibliothek von Anna Seghers: Fast 10.000 Bände, die sie ein Leben lang gesammelt und gehütet hat, darunter wertvolle Erstausgaben von Kafka, einem ihrer Favoriten, und Bücher mit Widmungen von Schriftstellerfreunden aus vielen Ländern, verteilen sich über vier Zimmer und den langen Flur. Das Literaturmuseum birgt auch eine kleine ständige Ausstellung mit Fotos und Dokumenten aus dem Leben von Anna Seghers und ihrer Familie. Darin findet man etwa ihr holzgeschnitztes Reisealtärchen, einst erstanden auf einem mexikanischen Bauernmarkt, das sie stets auf Reisen begleitete. Auf alten Fotos sieht man eine zarte junge Frau von beinahe fremdländischer Schönheit in altchinesischer Tracht, wie sie die Mandarine am chinesischen Kaiserhof trugen: Netty Reiling, Studentin der Kunstgeschichte und Sinologie an der Universität Heidelberg, während eines Praktikums 1923 am Ostasiatischen Museum Köln. Man findet alle Buchausgaben der Schriftstellerin aus ost- und westdeutschen Verlagen, dazu die Übersetzungen ihrer Bücher in 42 Sprachen – darunter »Das siebte Kreuz« in Chinesisch, Japanisch, Hebräisch.
1952 kehrt ihr Mann Laszlo Radvanyi, nach langem Zögern, doch noch nach Deutschland zurück. Fünf Jahre hat sie allein im zerstörten Nachkriegsberlin ausgehalten und der Versuchung getrotzt, zu den Kindern nach Paris zu gehen oder gar nach Mexiko zurückzukehren. Ein Interregnum geht für sie zu Ende, an dessen Anfang sie sich allein in die Heimat zurückgewagt hatte. Vor ihr liegen noch drei Jahrzehnte Leben und Schreiben. Es entsteht ein eindrucksvolles, zum Teil unterschätztes Alterswerk. Zwischen 1970 und 1980 wird sie Erzählungen wie die »Sonderbaren Begegnungen«, »Steinzeit«, »Wiederbegegnung« schreiben, kostbare Stücke deutscher Erzählkunst. Ganz am Ende kehrt sie noch einmal in die Karibik zurück, »Drei Frauen aus Haiti« entsteht, ein Zyklus dreier kleiner Erzählungen, Liebesgeschichten alle drei, Schicksale von Frauen in drei Epochen. Große Lebensbögen in kurzen, hochkonzentrierten Prosastücken. Einige der Gestalten, die sie jahrzehntelang beschäftigt haben, tauchen nun noch einmal auf: Franz Kafka etwa wird zur literarischen Figur, auch Toussaint L’Ouverture gehört dazu. Es ist wie ein Abschiednehmen. Wenn sie den Blick zurückwendet, schaut sie auf das Werk eines halben Jahrhunderts, eines ganzen Lebens. Ihre Kräfte nehmen ab, Krankheiten und Krankenhausaufenthalte mehren sich. Verluste von Freunden, der schlimmste: der Tod ihres Mannes. Aber sie schreibt bis fast zuletzt. Den Traum von einer veränderbaren Welt gibt sie nicht auf.
Anna-Seghers-Gedenkstätte, Anna-Seghers-Straße 81, 12489 Berlin-Adlershof, Di. und Do. 10 bis 16 Uhr, Telefon 030-6774725, www.seghers-museum.de
Monika Melchert: »Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis 1952«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 172 Seiten, 19,95 €.
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