Sonntag, 16. Juni 2013
Kurt Tucholsky: Bettschnüffler
Es scheint mir ein Erbfehler der Deut-
schen, ihre Gemeinheiten immer ethisch
rechtfertigen zu wollen.
Otto Braun
Grzesinski ist gefallen, weil es Herr Grützner mit der Sittlichkeit hatte. Die SPD hat sich ausnahmsweise einmal zu einem entscheidenden Schritt aufgeschwungen und will den Denunzianten wegen ehrlosen Verhaltens aus ihren Reihen ausstoßen, was hoffentlich geschehen wird. Aber Herr Grützner ist nicht allein. Was ist vorgegangen –?
Der Minister war verheiratet und darf sich beim Zentrum bedanken, daß eine Scheidung, wie sie unter sauber und anständig denkenden Menschen mitunter nötig und nützlich ist, nicht durchzuführen war. Die Katholiken terrorisieren das Land mit einer Auffassung vom Wesen der Ehe, die die ihre ist und die uns nichts angeht. Die Frau des Ministers verhinderte die Scheidung. Der Minister lebt mit einer Frau, der er nicht angetraut ist. Gezischel. Klatsch. Hämische Blicke. Briefe. Radau. Krach. Sturz.
Es ist eine gute Gelegenheit, einmal auf die maßlose Verlogenheit des deutschen öffentlichen Lebens hinzuweisen. Bei uns verlangen die Leute von ihren politischen Gegnern, die im öffentlichen Leben stehen – und nur von ihren Gegnern – eine Lebensführung aus dem Bilderbuch. Der Politiker hat ein braver Ehemann zu sein, er hat ein ›vorbildliches Familienleben‹
zu führen, er hat um keinen Deut anders zu essen, zu trinken, zu lieben und zu arbeiten als ein Buchbinder aus Eberswalde. Weicht er von dieser Linie ab, dann geht es los. Die Sache ist um so verlogener, als der brave Mittelbürger den ›großen Herren‹, bei deren Anblick er in den hinteren Teilen in Erwartung vor einem kommenden Fußtritt einen leichten Kitzel nicht los wird, alles, aber auch alles nachsieht. Man erinnert sich an die widerwärtigen Saufereien in den früheren Offizierskasinos und der jetzigen Studenten, an das, was das deutsche Offizierkorps im Kriege getrieben hat … der Bürger bleibt still. Wenn aber ein sozialdemokratischer Minister eine Portion Schlagsahne nachbestellt, dann können sie sich nicht lassen.
Es ist mir ein Herzensbedürfnis, zu einem Sozialdemokraten zu stehen, dessen Politik wir hier, besonders in der letzten Zeit, nicht gutgeheißen haben. Herr Grzesinski ist zwar um tausend Teile besser als viele seiner Parteigenossen … aber auf dem Kerbholz hat er neben Zörgiebeln noch genug. Daß er in einer Koalitionsregierung gesessen hat, ist uns bekannt; daß er seinen Herrn Klausener derart hat wirtschaften lassen, ist unentschuldbar. Auch ihm ist es nicht gelungen, die Militarisierung der Schutzpolizei zu verhindern, die heute nach Ausbildung und Organisation ein zweites Heer ist. Gehts gegen die Arbeiter, ist diese Polizei eine scharfe Waffe; ginge es eines Tages gegen die Nazis, so sind viele Mannschaften durchaus
zuverlässig und die meisten Offiziere ebenso unzuverlässig. Niemand, der den Betrieb auf den Polizeischulen kennt, wird sich darüber wundern. Das alles geht auf Grzesinskis Konto. Aber sein Sturz ist ein Skandal – der Skandal des muffigsten deutschen Spießertums.
Daß die Bürgerfrau der mittlern Provinzstadt einen tödlichen Haß gegen unverheiratete Frauen hat, die dennoch einen Mann gefunden haben, ist bekannt. Es ist die Verachtung des pensionierten Beamten gegenüber den freien Berufen, Angst um die eigene Position, die klare Erkenntnis, daß die langweilige Versorgung durch eine graue Ehe nicht immer den Verzicht auf ein buntes Leben lohnt. Unterstützt werden solche Frauen von den Pfaffen beider christlicher Religionen, von Naturen, wie Herr Grützner eine ist, und von Sittlichkeitsonkeln aller Richtungen. Und dem gegenüber ist zu sagen:
Warum hat kein bedeutender Politiker den Mut, einmal gegen diesen Muff aufzustehen? Das geht nicht? Das geht schon; es gehört Mut dazu. Warum sagt keiner, wie es wirklich ist?
»Ich habe keine Zeit, mich jeden Abend zu besaufen, weil das meine Gesundheit schädigt und weil ich das nicht mag. Aber alle zwei, drei Monate bin ich bei mir mit Freunden zusammen, und da kann es denn vorkommen, daß ich ein Glas zu viel trinke und einen kleinen sitzen habe. Und ihr –?
Ich bin verheiratet, und ich bin meiner Frau natürlich nicht treu. Ihr seids auch nicht. Fast niemand von euch, der ein bewegtes Leben führt, ist es. Ich treibe keine übeln Schweinereien, ich halte mir keinen Stall von Mätressen, und ich beschäftige keine Kupplerin. Aber denkt nur: es ist vorgekommen, daß ich auf Reisen oder nach einem Ball mit einer Frau geschlafen
habe, die nicht die meine war. Und das geht euch einen Schmarren an. Und wenns euch nicht paßt, dann seht nicht hin. Und kümmert euch um eure eignen Angelegenheiten.
Ich führe ein Leben, das von Besprechungen, Vorträgen, Aktenbearbeitung, Reden, Versammlungen, Repräsentation bis an den Rand gefüllt ist – ich bin kein Fresser, aber ich verachte keinen guten Happenpappen. Und ihr –?
Ich bin wie ihr, wie die Mehrzahl von euch – nicht besser, nicht schlechter. Lügt nicht, Pharisäer, lügt nicht.«
Warum sagt das keiner –?
Weil das öffentliche Deutschland ein Fibelland ist, ein Land ohne Humor, ein Land für Kinder, für die Dummen, angefüllt mit Unwahrheit bis oben hin. Ein Blick nach Frankreich wird uns darüber belehren, daß es auch anders geht.
Das öffentliche Leben Frankreichs ist keineswegs hehrer als das deutsche. Die französischen Politiker sind korrumpierter, aber wenigstens im weitaus größern Stil als bei uns, wo sie für eine Einladung zum Abendbrot manches, für eine Pelzjacke vieles und für eine geklopfte Schulter alles tun. Wenn die Franzosen Schweinehunde sind, dann haben sie wenigstens etwas davon. Und von Zeit zu Zeit platzt dann eine Bombe, es gibt ein großes Geschrei, die Zeitungen der Gegenseite ›enthüllen‹ … und wenn es nicht sehr bösartige Finanzskandale sind, die natürlich hauptsächlich den kleinen Politiker treffen, weil der die Zeitungen nicht kaufen kann, wenn es nicht bedeutende Vergehen gegen das Strafgesetz sind – dann fällt der Mann nicht! Und wenn eine ganze Presse aufheult –: er fällt nicht! Bei uns fällt er, denn
sie lassen ihn fallen. Und der Denunziant, die saure Ehefrau, der Pfaffe und der sittlich entrüstete Stammtisch – sie haben ihr Ziel erreicht. Und nur darauf kommt es an.
Einmal habe ich hier davon berichtet, was Léon Daudet mit einem französischen Minister getrieben hat. Der ließ sich in einem kleinen Häuschen von kleinen Mädchen prügeln, ein Vergnügen, das schließlich das seine (und nicht nur das seine) ist. Daudet wußte das, wie er durch seine Spezialpolizei so ziemlich von allen Schmutzereien, mit Ausnahme der eignen, unter-
richtet wird … er wußte es, und weil er ein Gemütsmensch ist, so veröffentlichte er das auch. Es war eine beispiellose Sauerei. Viele gute Freunde des Ministers schickten der Frau Minister die Zeitungsnummer, hübsch rot angestrichen, zu; da fanden sich die Adresse des Hauses und auch sonst allerlei appetitanregende Einzelheiten. Ich hätte in jenen Tagen nicht der Minister sein mögen. Aber der Mann blieb! Er blieb Minister, er blieb Mitglied der Académie Française … er blieb. Sie haben es nicht geschafft.
Und das ist richtig so.
Denn solange der Mann diese seine Neigung, die ja viel, viel verbreiteter ist, als man glaubt, nicht in sein Amt hineinspielen läßt, was er nie getan hat, solange besteht auch nicht der leiseste Grund, ihn gehen zu heißen. Wie! Nur, weil einer Minister ist, was heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie früher, deshalb soll man an ihn sittliche Forderungen stellen, die auch
nicht einer der Schreier erfüllt? Denn es kommt doch nicht auf das Ausmaß dessen an, was da geschieht, sondern auf die Gesinnung. Die lautesten Brüller kneifen ihrerseits der Kellnerin ins Bein, und wenn sie es erlaubt, schlafen sie auch einmal mit ihr (aber so, daß Mutter es nicht merkt); sie saufen sich auf den Vereinsfestlichkeiten voll wie die Radehacken; sie
nehmen gern eine Einladung an, bei der sie ein Stück vom Tisch fortrücken, damit sie sich nachher wieder heranfressen können … und dann gehen sie hin und können sich vor sittlicher Entrüstung nicht lassen. »Der Minister! Haben Sie das gehört! Der Minister lebt mit einer Frau, und es ist nicht seine Frau! Hat man je so etwas …!«
Man hat je so etwas gehört. Die tiefe Lüge, die durch diese Proteste geht, sollte man den Herren ins Gesicht sagen. Die Bekleidung eines öffentlichen Amtes legt dem Beamten gewisse Schranken seiner Lebensführung auf, die wir nur bei einem Alkibiades nicht vermissen, und - ach! – wir haben keinen Alkibiades unter unsern Politikern, wenigstens sieht keiner so aus. Ein Staatssekretär soll sich nicht besoffen in Kaschemmen herumtreiben, nicht mit betrunkenen Frauen die Straßen heruntertoben, nicht den Kaviar schmatzend mit Eßlöffeln fressen … davon ist nicht die Rede.
Jeder dieser Männer aber hat das volle Recht, so zu leben, wie es jeder seines Standes tut!
Wenn er sich einmal im kleinen Kreise betrinkt, so fällt davon die Welt nicht um; wenn er einmal mit einer fremden Frau schläft, so wünschen wir ihm viel Vergnügen, und wenn er gar mit zweien schläft, so kann man ihm nur gratulieren. Geschlechtsneid ist noch keine Moral.
Die sittlichen Begriffe, die besonders in der deutschen Provinz von ältern Ehefrauen, Pastören und – last and least – von den Richtern aufgestellt werden, sind nicht maßgebend und nicht jene, nach denen sich das Volk richtet. Das Bürgertum mag dergleichen für seine Kaste fordern und für die Zugehörigkeit zum Klub »Harmonie 1898«. Ein Minister aber gehört allen. Er hat so zu leben, daß er die Gesetze nicht verletzt, die einzuhalten moralische Pflicht ist; er hat in seiner Lebensführung daran zu denken, daß Deutschland drei Millionen Arbeitslose hat – wenn aber die Welt des Herrn Grützner an ihn herantritt, dann drehe er ihr seine ganze, volle Kehrseite zu und blase ihr etwas.
(Ignaz Wrobel, in: Die Weltbühne, 11.03.1930, Nr. 11, S. 388; Nachdruck: GW [8] 66-69)
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