Freitag, 28. Juni 2013

Ein lupenreiner Demokrat: Tayyip Erdogan

Der türkische Premier Tayyip Erdogan setzt den Krieg gegen die eigene Bevölkerung fort und die Europäische Union führt die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiter. Warum auch nicht? - Noch vor einer Woche war die Empörung groß. Bundeskanzlerin Angela Merkel entdeckte, kurz nachdem die völlig friedliche Frankfurter Blockupy Demonstration polizeilich auseinandergeprügelt worden war, ihr Herz für Protestbewegungen: „Viel zu hart“, sei der Umgang mit den Menschen am Taksim-Platz. Auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton wehklagte vor dem Europaparlament Straßburg: „Wir haben in den vergangenen zwei Wochen zu viele Beispiele exzessiver Polizeigewalt gesehen: den Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern, Pfefferspray, Plastikgeschossen aus nächster Nähe gegen Demonstranten, die ganz überwiegend friedlich waren.“ Nun, wenige Tage später und um die Gewissheit reicher, dass der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan zumindest nicht in unmittelbarer Zukunft gestürzt wird, sind die Tränen, auch die Claudia Roths, getrocknet und wie ein Ehepaar nach einem kurzen, aber heftigen Streit sieht man umso glücklicher der Zukunft entgegen. Am Dienstag, bei Beratungen der Außen- und Europaminister der EU in Luxemburg, verkündete man sodann auch die Weiterführung der EU-Beitrittsverhandlungen. Ein neues „Kapitel“ solle schon im Herbst, pünktlich nach den Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag, geöffnet werden. Außenminister Guido Westerwelle kommentierte salomonisch: „Bei allem, was wir auch an verständlichen Reaktionen empfinden und sehen in Anbetracht der Ereignisse der letzten Tage, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass wir ja auch strategische langfristige Interessen haben.“ 130 000 Gasgranaten Auch Tayyip Erdogan hat strategische Interessen. Diese lassen sich auch sehr leicht auf den Punkt bringen: Die Protestbewegung mit Gewalt und Repression niederschlagen. Sein Krieg gegen die Bevölkerung geht ohne Unterbrechung weiter, das volle Ausmaß der Polizeibrutalität wird nur langsam deutlich. Von 130 000 eingesetzten Gasgranaten in den ersten zwanzig Tagen nach dem 31. Mai 2013 ist die Rede, am Taksim-Platz gingen gleichzeitig mehr als fünf Wasserwerfer gegen alle vor, die es wagten sich hier aufzuhalten. Blend- und Schockgranaten kamen ebenso exzessiv zum Einsatz, eine verletzte im Istanbuler Stadtteil Okmeidani einen 14-jährigen Jungen so schwer, dass dieser immer noch im Koma liegt. Wie viele Verletzte und Tote es letztendlich gibt, kann nur schwer geschätzt werden. Eine – unvollständige – Aufstellung der Turkish Medical Association (ttb) gibt einen Überblick bis zum 17. Juni: Allein in Istanbul mussten 4 477 Menschen behandelt werden, ein Demonstrant starb, zu diesem Zeitpunkt befanden sich vier in lebensbedrohlichem Zustand, 6 Personen haben ihre Sehkraft verloren, weitere 6 erlitten schwere Schädelhirntraumata. Türkeiweit verzeichnete die ttb bis dahin 7 822 Verletzte und drei tote Demonstranten. (1) Wie die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung mit der Forderung, die Verantwortlichen für diesen Exzess zu bestrafen, umzugehen gedenkt, zeigt der Fall des von einem Polizisten erschossenen Ethem Sarısülük (video hier). Der Täter befindet sich seit Anfang dieser Woche wieder auf freiem Fuß. Gleichzeitig beginnt eine massive Repressionswelle gegen linke Aktivisten. Büros der sozialistischen Parteien ESP und SDP, der Tageszeitung Atilim und eines Radiosenders wurden gestürmt, etwa hundert Personen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden während der Proteste Tausende, wenn nicht Zehntausende verhaftet, geschlagen, und wieder auf freien Fuß gesetzt. Wie viele derzeit weiter in den Gefängnissen sitzen, ist unklar. Erdogan hat recht Diejenigen, die nun aber so tun, als sei die EU die moralische Instanz, die es sich erlauben könne, den vorderasiatischen Despoten zurechtzuweisen, sehen den Balken im eigenen Auge nicht. Volker Beck von den Grünen: „Der Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit ist immer lang. Wir Europäer sollten die Türkei auf diesem Weg unterstützen. Klar ist aber: Bei den Fragen nach Bürgerrechten darf es für Erdogan keinen Rabatt geben.“ Der türkische Ministerpräsident sieht das selbstredend anders. Er bedankte sich bei seinen Truppen für die gelungene Aufstandsbekämpfung: „Unsere Polizei hat einen sehr wichtigen, sehr schwierigen Demokratietest bestanden.“ Schon nach dem Demonstrationsverbot am Taksim-Platz für die traditionelle 1.-Mai-Demonstration 2013 hatte Erdogan verkündet: „Wir leben in einem Rechtsstaat. Ihr müsst euch an die Gesetze halten.“ Man könne nicht überall demonstrieren, wo man will, wo komme man denn da hin. Warum soll dieses Verhalten einem EU-Beitritt im Wege stehen? Derselbe Satz hätte vor den Blockupy-Demonstrationen in Frankfurt am Main fallen können, die in den vergangenen zwei Jahren mit polizeilichen Großeinsätzen unmöglich gemacht wurden. Und die Bilder vom Taksim-Platz ähneln nicht unwesentlich jenen, die wir mitbekamen, als der konservative griechische Premier Antonis Samaras seinem Volk die aus Berlin und Brüssel diktierten Austeritätsmaßnahmen einprügeln ließ. In den Erläuterungen der Grundrechte-Charta der Europäischen Union steht, dass eine Tötung nicht den Artikel 2 (Recht auf Leben) verletzt, wenn sie dazu dient, „einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“. (2) „Demokratie“, das heißt in der europäischen Union eben „marktkonforme Demokratie“ (Angela Merkel). Und diese Form der Demokratie schließt brutale Gewalt gegen antikapitalistische Proteste eben nicht aus, sondern notwendig ein. In diesem Sinne ist Erdogan, da muss man ihm recht geben, ein lupenreiner Demokrat – was viel über den gegenwärtigen Zustand der „Demokratie“, nämlich der kapitalistischer Nationalstaaten, aussagt. Anmerkungen (1)http://www.ttb.org.tr/en/index.php/tuem-haberler-blog/179-ttb/1214-health (2)http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:DE:PDF

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