Sonntag, 16. Juni 2013

An meine Gewerkschaftskollegen (1) (Eckart Spoo)

In diesem Jahr sind wieder in mehreren deutschen Städten Nazis aufmarschiert. Die Polizei hat sie nicht nur gewähren lassen, sondern Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt, um Gegendemonstranten aufzuhalten. In einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat, wie ihn das Grundgesetz proklamiert (speziell Artikel 9, Absatz 3), hätte die Polizei die Aufgabe, die antigewerkschaftlichen Aufmärsche zu verhindern, mit denen die Nazis uns den 1. Mai wegnehmen wollen. Wie blind, wie geschichtsvergessen muß man sein, um diese verfassungswidrige Absicht zu verkennen! Aber der demokratische und soziale Rechtsstaat steht im Grundgesetz nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als Zielangabe. Wir werden noch viel zu tun haben, diesem Ziel näherzukommen. Als die Nazis 1933 scheinbar großzügig den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärten und den internationalen Kampftag für die Interessen der Lohnabhängigen, für die Humanisierung der Arbeit, vor allem für die Verkürzung der Arbeitszeit zum »Tag der nationalen Arbeit« umbenannten, da war das kein Zugeständnis an die Gewerkschaften, kein Beitrag zur Stärkung der Gewerkschaften, im Gegenteil, diese martialische Inszenierung des 1. Mai war das Vorspiel zur Zerschlagung der Gewerkschaften gleich am folgenden Tag mit Besetzung der Gewerkschaftshäuser, Einziehung der gewerkschaftlichen Vermögen (sprich Streikkassen), Verhaftung vieler Gewerkschaftsfunktionäre, vor allem der besten, klarsichtigsten, verläßlichsten. Hitler erfüllte damit ein Hauptversprechen, das er Anfang des Jahres 1933 dem Großkapital und auch der Reichswehrführung gegeben hatte: kein Streik mehr, kein Klassenkampf mehr, das heißt kein Klassenkampf von unten mehr, nur noch von oben. Der Unternehmer wurde zum Führer der Betriebsgemeinschaft ernannt, die Beschäftigten zur Gefolgschaft, Hitler ernannte sich selber zum Führer der Volksgemeinschaft. Die Parole »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« bedeutete Militarisierung der Arbeit und der ganzen Gesellschaft, Vorbereitung der geplanten Angriffskriege. Das Großkapital jubelte – nicht nur in Deutschland. Es war begeistert von dem deutschen »Führer«, der den lohnabhängigen Massen ihre politischen und gewerkschaftlichen Organisationen nahm, der sie enteignete und entrechtete. Kapitalisten aller Länder fanden die Zustände, die Hitler mit diesen Gewaltakten schuf, mustergültig, beneidenswert. Es ist kaum bekannt, was mit dem geraubten Gewerkschaftsvermögen geschah. Es diente dem Nazi-Regime dazu, in der Nähe von Braunschweig eine riesige Rüstungsfabrik mitsamt Wohnsiedlungen zu errichten: das Volkswagenwerk Wolfsburg. Zum Chef des Unternehmens wurde der Ingenieur Ferdinand Porsche ernannt. Er bekam so viele Fremdarbeiter, Arbeitssklaven, auch KZ-Häftlinge, wie er haben wollte. Total entrechtete, billigste Arbeitskräfte. Porsche war Wehrwirtschaftsführer, Träger des Totenkopfrings der SS, Vorsitzender der Reichspanzerkommission, ein hoher Funktionär des Regimes. Seine rechte Hand war der stramme Nazi Anton Piëch, der Porsches Tochter Ursula heiratete. Ferdinand Piëch, der jetzige Aufsichtsratsvorsitzende des VW-Konzerns, ist der Sohn von Anton und Ursula Piëch, Enkel von Ferdinand Porsche. Er und sein Clan, zu dem auch der zeitweilige Vorstandsvorsitzende Heinrich Nordhoff gehörte, gebieten heute über ein Milliardenvermögen, das zu einem großen Teil ihr Privatvermögen ist. Auch Ferdinand Piëchs Ehefrau sitzt im Aufsichtsrat. Piëchs erklärtes Ziel, VW zum größten Automobilkonzern der Welt aufsteigen zulassen, ist nicht mehr fern. Basis des Erfolgs waren die geklauten Gewerkschaftsgelder, die Zwangsarbeit und die staatlichen Rüstungsaufträge. Wie können wir das eigentlich aushalten, daß VW nach 1945 nicht an die Gewerkschaften rückübereignet wurde, daß es nicht denen übergeben wurde, deren Arbeitskraft Porsche und sein Schwiegersohn Piëch ausgebeutet hatten bis aufs Blut, sondern daß der Konzern heute großenteils Privatbesitz der Familie Porsche/Piëch ist, der Nachkommen von Hitlers Bevollmächtigtem Ferdinand Porsche? Nach Ferdinand Porsche ist übrigens kraft Beschlusses des braven Stadtrats bis heute die Wolfsburger Hauptgeschäftsstraße benannt und eine Schule und das Stadion und so weiter, als wären die Einwohner des inzwischen zur Großstadt gediehenen Ortes dem Mann zu ewigem Dank verpflichtet. Vor 75 Jahren, am 26. Mai 1938, hatte Hitler den ersten Spatenstich getan. Ende Juni 2013 werden Stadt und Werk ihr Jubiläum feiern. Den Blick zurück wollen sie aber vermeiden; Hauptthemen sind vielmehr »Zukunft« und »Identifikation«. Vor einigen Wochen ist im Verlag Ossietzky ein Buch über Wolfsburg erschienen (»Volksburg, Wolfswagen«, herausgegeben von Stephan Krull, mit Beiträgen von Hartwig Hohnsbein, Otto Köhler und anderen, 164 Seiten, 14,95 €), das unter anderem detailliert schildert, was die Zwangsarbeiter leisteten und wie es ihnen erging, wie die neugeborenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen ermordet wurden, wie sich der Konzern jahrzehntelang erfolgreich allen Forderungen nach Entschädigung der Überlebenden verweigerte, wie Gerhard Schröder als niedersächsischer Ministerpräsident und VW-Aufsichtsratsmitglied enge Freundschaft mit Ferdinand Piëch pflegte (unvergessen sind die Bilder des stolzen Sozialdemokraten in Piëchs Loge beim Wiener Opernball), wie Schröders Vertrauter Peter Hartz als VW-Arbeitsdirektor an der Demoralisierung des Betriebsrates mitwirkte, wie der langjährige Betriebsratsvorsitzende Klaus Volkert mit Ehrendoktor- und sonstigen Würden dekoriert wurde, bevor sich das Ausmaß der Korruption herumsprach. Sogar Hartz mußte sich dann mal zum Gericht bemühen, aber er darf sich weiterhin Professor nennen, die von ihm ersonnenen Gesetze für den Sozialabbau gelten immer noch. Wie hat eigentlich unsere IG Metall diese Skandale verarbeitet? Die Nazi-Vergangenheit ragt auf manche Weise in die Gegenwart hinein. Die Zerschlagung der Gewerkschaften 1933 war ein Verbrechen der herrschenden Klasse, die sich für Hitler als Reichskanzler entschieden hatte, weil sein Programm ihr Programm war: Verbilligung der Arbeit, Unterdrückung der Opposition, antidemokratische Gleichschaltung der Medien und der Kunst, Aufrüstung und Eroberungskrieg. Von dieser klaren Schuldzuweisung dürfen wir uns nicht abbringen lassen, auch wenn das Großkapital und seine Propagandisten es immer wieder versuchen. Doch die Gewerkschaften wie auch die politischen Parteien und andere nach ihrem Selbstverständnis demokratische Organisationen dürfen sich nicht davor drücken, auch ihr eigenes damaliges Verhalten kritisch zu prüfen. Nicht jede Organisation, die früher oder später von den Nazis verboten wurde, kann sich deswegen einer unbefleckten antifaschistischen Vergangenheit rühmen. Die Geschichte ist reich an Versäumnissen, auch und gerade Versäumnissen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Gründe liegen vielfach in personellen Kontinuitäten. Alte Nazis waren auch am gewerkschaftlichen Aufbau in Wolfsburg nach dem Krieg beteiligt. Ferdinand Piëch schreibt biographisch über Ferdinand Porsche: »Natürlich bin ich stolz auf meinen Großvater [...] Die ganze Geschichte hat mich nicht eine Sekunde lang belastet – warum auch?« Durch die Mitwirkung an der Nazi-Inszenierung des 1. Mai 1933 hatten sich die Gewerkschaftsvorstände entwaffnet, schon vorher hatten sie viel von ihrer Autorität eingebüßt. Längst hätten sie all ihre Kräfte zum Widerstand mobilisieren müssen. Mit dem Generalstreik gegen den Kapp/Lüttwitz-Putsch hatten sie in der Frühzeit der Weimarer Republik immerhin einmal nicht nur der Reaktion, sondern sich selber ihre Machtmöglichkeiten bewiesen. Über ihr späteres Versagen berichtete neulich Jörg Wollenberg in der Sozialistischen Zeitung, wo er Einzelheiten wie diese in Erinnerung rief: Der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes hatte die Arbeiter aufgerufen, sich als »ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft« an den Nazi-Demonstrationen zum 1. Mai 1933 zu beteiligen. Die Gewerkschaftsleitungen hatten jegliche Widerstandshandlungen gegen den SA-Terror untersagt. Ähnlich kapitulierte die SPD-Fraktion im Reichstag. Am 17. Mai stimmte sie der »Friedensresolution« Hitlers zu und sang gemeinsam mit den Nazis »Deutschland, Deutschland über alles« – abgesehen von den 27 Fraktionsmitgliedern, die schon verhaftet waren, und von Antonie Pfüll, die als einzige ihre Zustimmung verweigerte und kurz danach Selbstmord beging. »Den Weg, den die Partei heute geht, kann ich nicht mitgehen«, schrieb sie zum Abschied. Am 19. Juni faßte eine Gruppe des SPD-Vorstands um Paul Löbe den Beschluß, die Vorstandsmitglieder im Exil auszugrenzen und die Juden aus dem Vorstand zu entfernen. Drei Tage später wurde die SPD verboten. Nach wem sind heute Gebäude im Berliner Parlamentsviertel benannt? Nach Antonie Pfüll? Nein. Aber nach Paul Löbe. Sage keiner, die führenden Sozialdemokraten und Gewerkschafter hätten damals noch nicht ahnen können, was den ihnen vertrauenden Menschen, was der Menschheit drohte. Der Terror von rechts, der Demokratieabbau, der Sozialabbau, der Rechtsabbau – all das hatte ja nicht eben erst begonnen. Sie hatten schon den »Preußenschlag« nahezu widerstandslos hingenommen: den Staatsstreich in Preußen, dem größten Land des damaligen Deutschen Reiches, durch den die sozialdemokratische Landesregierung verdrängt worden war. Sie hatten auch das Verbot der KPD gleich nach Hitlers Amtsantritt als Reichskanzler und die Inhaftierung der KPD-Abgeordneten hingenommen – mit der Folge, daß im Reichstag die erforderliche Stimmenzahl fehlte, um Hitlers Ermächtigungsgesetz zu verhindern. Schon Jahre zuvor hatte Hitler in seinem Buch »Mein Kampf« seine Absichten deutlich bekundet. Und noch einige Jahre früher, 1921, zwölf Jahre vor dem Tausendjährigen Reich, hatte der Publizist Carl von Ossietzky seinen scharfen Blick auf Hitler gerichtet und seitdem permanent vor ihm und seinen Hintermännern aus Polizei, Militär, Industrie gewarnt. Am 1. Mai 1933, als sich der Vorstand des ADGB der Regie der Nazis unterwarf, war Ossietzky im KZ Sonnenburg inhaftiert, gemeinsam mit dem großen anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam, mit dem blitzgescheiten jungen Rechtsanwalt Hans Litten, mit dem kommunistischen Abgeordneten Ernst Schneller und vielen guten Arbeiterfunktionären, die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand – nach längst vorbereiteten Listen der politischen Polizei – in sogenannte Schutzhaft genommen worden waren. Gleich an ihren ersten Tagen im KZ wurden sie von SA-Männern dermaßen brutal verprügelt, daß sie selbst für ihre Angehörigen kaum mehr zu erkennen waren. Wenn wir aus der Geschichte Lehren ziehen wollen, die uns heute und morgen helfen können, dann dürfen wir das Nazi-Regime nicht wie einen Tsunami erklären, der Deutschland urplötzlich überschwemmt hat. Wir müssen die Vorgeschichte studieren, zum Beispiel 1914 den »Burgfrieden«, auf den sich die Gewerkschaften verpflichten ließen, 1918/19 die Niederschlagung des Matrosenaufstands und der Räterepubliken durch Ebert und Noske, den Mord an Liebknecht und Luxemburg, 1923 die Beseitigung der gewählten Linksregierungen in Thüringen und Sachsen, die verfassungswidrige heimliche Aufrüstung, das Blutbad am 1. Mai 1929 in Berlin unter der Verantwortung des Polizeipräsidenten Zörgiebel (SPD) oder die vom Innenminister Sewering (SPD) eingerichteten Konzentrationslager (von ihm so genannt) für unerwünschte Ausländer. Besonders lehrreich scheinen mir die Erfahrungen mit Brünings Austeritätspolitik zu sein. Das sind ergiebige Themen – anders als der Versailler Vertrag, dem immer mal wieder die Schuld am Aufkommen der Nazis gegeben wird. Das Ausland ist schuld – eine bequeme, falsche, gefährliche Vorstellung. Am Reichstagsbrand soll entweder der Bulgare Dimitroff oder der Holländer van der Lubbe schuld sein. Ausländer. Und Kommunisten. Die sind sowieso immer schuld, an allem.

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