Dienstag, 19. August 2014
Mut zum Genuß (Jochanan Trilse-Finkelstein)
Vor mir liegt ein Buch in rotem Umschlag mit weißen Buchstaben, die einen Titel bilden: »Mut zum Genuß: Ein Brecht-Handbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter«, 2009 bereits erschienen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich es erst recht spät zur Kenntnis bekommen habe, noch dazu als Theaterkritiker. Ist man im Alter erst außerhalb von Institutionen, geht manches an einem vorüber. Zum Glück kam es doch noch rechtzeitig, so daß ich mich mit seinem Autor noch unterhalten konnte – nicht nur darüber, aber auch. Es waren gute Gespräche, mit einem geistig hellwachen Menschen, der ein aufschlußreiches Werk geschaffen und nun hinterlassen hat. Und plötzlich ist er nicht mehr da, das Gespräch ist abgebrochen.
Doch nicht völlig. Der Dialogpartner ist nun dieses Buch mit dem herausfordernden Titel, Titel eines Mutmachers, Künstlers, Spielers und Leiters des Spieles – auf der Bühne, die für ihn Leben und Welt war. Als Kunst, in Kunstgestalt! Auch in Formen des Erinnerns! Gelernt hatte er das vom großen Lehrmeister, und der hieß Bertolt Brecht. Angeregt schon, ohne den Meister zu kennen! In den frühen Fünfzigern etwa hatte es begonnen.
1950 war ich anläßlich eines Deutschlandtreffens der Freien Deutschen Jugend (einer Exilgründung) mit einer kleinen Künstlergruppe der Freien Österreichischen Jugend in Berlin, der Hauptstadt der noch jungen DDR, damals die große Hoffnung eines neuen, besseren, nicht mehr faschistischen, militaristischen, sondern eines antifaschistischen, demokratischen, vielleicht sozialistischen Deutschlands. Damals war ich das erste Mal im Berliner Ensemble (BE), sah den von Brecht bearbeiteten und inszenierten »Hofmeister« von Jakob Michael Reinhold Lenz und die »Wassa Schelesnowa« von Maxim Gorki (mit der unvergeßlichen Therese Giehse). Da hätte ich eigentlich Manfred Wekwerth schon treffen können, er war nämlich ebenfalls in der Vorstellung. Sicher noch ohne zu wissen, was er, der Neulehrer, für jenes Haus einst bedeuten würde. Ich wußte noch viel weniger, ahnte doch ein wenig, daß hier ein völlig anderes, sehr neues und politisches Theater mit humanem Antlitz im Entstehen begriffen war.
Ich ahnte weiter: Bereits 1953 sah ich eine Wiener Arbeit des jungen Wekwerth (an der Neuen Scala zum ersten Mal »Die Mutter« mit der Helene Weigel) und spürte, da wird noch was kommen. Es kam: Daß mir jener »Kaukasische Kreidekreis« von 1954 von BB und Karl von Appen und mit Angelika Hurwicz und Ernst Busch so unvergeßlich bis in einzelne Bilder im Gedächtnis geblieben ist (ich sah die Aufführung 1955 anläßlich eines Deutschlandbesuches zur Schillerehrung mit Thomas Mann), hatte auch schon mit der Regie-Hand jenes Assistenten zu tun, der als Meister unser Gegenstand ist. Dann ging es fort und fort; dieser Mut zu Arbeit als Genuß trieb Manfred Wekwerth zu Becher »Winterschlacht« (Co-Regie 1955) und Synge/Hacks »Der Held der westlichen Welt« (1956 zusammen mit Peter Palitzsch).
Als sich der Meister 1956 zum Dorotheenstädtischen Fried[ens]hof verabschiedet hatte, wuchs der Mitdreißiger selbst zum Meister. Es folgten die »Optimistische Tragödie«, 1959 das Weltereignis des »Aufhaltsamen Aufstiegs des Arturo Ui« (mit Ekkehard Schall), meist mit Peter Palitzsch zusammen; »Die Tage der Commune« 1962, nun mit Joachim Tenschert. Ein gewaltiger Höhepunkt war der Shakespeare/Brecht »Coriolan« (1964, auch 1973 London), den Schall so unvergleichlich spielte. Die Kampfszene zwischen Coriolan und Aufidius (Hilmar Thate) gehört zu den Sternstunden des Theaters überhaupt. Das Aufzählen könnte weitergehen, das hält ein Nachruf nicht aus. Hier ist neben benannter Qualität auch Quantität auffällig erregend.
Doch müssen wenigstens noch weitere Shakespeare-Anstrengungen Wekwerths erwähnt werden: »König Richard III.« (zweimal) und »Troilus und Cressida«. Im Gegenwartsdrama machte sich Manfred Wekwerth um Helmut Baierl und Heiner Müller (»Fatzer« nach Brecht) verdient. Als letzte Bühnenarbeit steht Hofmannsthals »Jedermann« – zumindest für den ehemaligen BE-Chef ein außerhalb seiner Geistesordnung stehendes Kunstopus! Dieser Mann hat Theatergeschichte gemacht, die eines auf Handeln und Verändern gerichteten dialektisch-epischen Theaters.
Wekwerths zahlreiche Bücher (»Erinnern ist Leben«, zuletzt »Mut zum Genuß«) seien nicht vergessen. Ebensowenig der Film über die »Mutter Courage«. Präsident der Akademie der Künste war er (1982 bis 1990) und ab 1975 Direktor des Instituts für Schauspielregie. Was für ein Pensum an Arbeit, wie hat er das nur geschafft? Wohl weil seine Arbeit eben Genuß für ihn war!
Wir kannten uns lange offiziell, der Kritiker den Regisseur und Theaterleiter, der Künstler den Verleger und Kritiker. Sehr spät persönlich, über den »Mut zum Genuß«. Wir hatten gute Gespräche, der Tod brach sie ab. Sein Erbe? Gewiß die enorme Theaterleistung, die – anders als Literatur – so schwer zu bewahren ist. Heute ist uns neben unserm Gedächtnis einige Technik zur Hilfe gekommen, einiges kann dokumentiert werden, und wir haben die Schriften, für Teile des Frühwerks die »Theaterarbeit«, jenes profunde Grundlagenwerk mehrerer Brechtmitarbeiter unter Leitung von Helene Weigel.
An seinem Ruheort in der Chausseestraße liegt Manfred Wekwerth in bester Gesellschaft, nahe seinem Lehrer und Meister. So kann dieser Ort uns zusätzlichen Mut geben, zum Genuß und zum Weiterleben.
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