Dienstag, 19. August 2014
Politische Bedingungen des palästinensischen Befreiungskampfes
Interview eines Journalisten aus Gaza-Stadt mit Emad Abu Rahma am 7. August 2014
von Martin Lejeune
Emad Abu Rahma ist Mitglied des Zentralkomitees der Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine - PFLP). Die PFLP ist eine palästinensische marxistisch-leninistische und revolutionäre Organisation, die 1967 gegründet wurde.
Der Bewegung gehören Tausende Aktivisten an, von denen einige Hundert in israelischen Gefängnissen sitzen. Im Dezember 2009 demonstrierten rund 70.000 Unterstützer in Gaza, um den 42. Jahrestag der Gründung der PFLP zu feiern. Führer der PFLP in Gaza ist Rabah Muhanna, der bewaffnete Flügel der PFLP sind die Abu-Ali-Mustafa-Brigaden.
Die Fragen des Interviews wurden in englischer Sprache gestellt und von einem Dolmetscher ins Arabische übersetzt, der die Antworten wiederum ins Englische übertrug.
Martin Lejeune: Wie schätzen Sie den aktuellen israelischen An-
griff auf den Gazastreifen ein?
Emad Abu Rahma: Die israelische Aggression gegen Gaza hat nicht mit der aktuellen Krise und dem derzeitigen Angriff auf den Gazastreifen begonnen. Die israelische Besetzung Palästinas als solche ist ein fortgesetztes Kriegsverbrechen und eine anhaltende Aggression gegen Gaza wie auch das gesamte Palästina. Diese Besetzung und ihre Auswirkungen auf die palästinensische Bevölkerung sind die Wurzel aller Konflikte und Kämpfe. Die Aggression setzt sich unablässig fort und hat verschiedene Aspekte wie zum Beispiel die Kontrolle Jerusalems, die Massenverhaftungen, die Siedlungen, die Blockade des Gazastreifens, die Konfiszierung von Grund und Boden im Westjordanland und die Okkupation immer größerer Flächen in Jerusalem, um weiteren Wohnraum für Juden in der ganzen Stadt zu schaffen.
Der aktuelle Konflikt begann nicht in Gaza, sondern im Westjordanland. Es war zu einer Entführung dreier Israelis gekommen, die einen kriminellen Hintergrund hatte. Sie hatte keinen nationalen und somit keinen politischen Hintergrund, wie sie auch nicht vom Widerstand verübt worden war. Nach dieser Entführung drang die israelische Armee (Israeli Defence Forces - IDF) in das Westjordanland ein, das als Ganzes wiederbesetzt wurde. Die israelischen rassistischen Übergriffe auf Araber führten schließlich dazu, daß israelische Terroristen den Jungen Mohammed Abu Khodeir in Sho'afat nahe Ostjerusalem entführten und verbrannten.
All diese Praktiken der Israelis im Westjordanland und Gazastreifen haben politische Motive und Gründe. Seit mehr als 20 Jahren werden Friedensverhandlungen ohne jedes Ergebnis geführt, während zugleich in Israel rechtsgerichtete Stimmen und Parteien auf dem Vormarsch sind. Die Friedensverhandlungen, welche die PFLP als solche ablehnt, waren für die Palästinenser bislang ohne jeden Wert. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu hat nicht die Absicht, eine Lösung mit den Palästinensern im Rahmen der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats herbeizuführen. Die Friedensverhandlungen waren nichts weiter als ein Deckmantel für die israelische Vorgehensweise in den besetzten Gebieten. Die Israelis benutzen sie, um die internationale Gemeinschaft hinzuhalten, während sie heftige Angriffe gegen uns durchführen.
Die israelische Regierung instrumentalisiert nun die Entführung, um die langfristige Agenda ihrer Lösung im Westjordanland durchzutragen, das in isolierte Kantone fragmentiert wird, die es den Palästinensern unmöglich machen, einen unabhängigen Staat zu errichten. Hinsichtlich des Gazastreifens läuft die israelische Perspektive darauf hinaus, ihn an Ägypten loszuwerden. Dies würde es den Israelis erlauben, sich ausschließlich mit den Verhältnissen im Westjordanland und in den Territorien von 1948 zu befassen.
Die aktuelle Situation im Gazastreifen ist ein Glied einer langen Kette, an deren Ende sich seine Bewohner darein fügen sollen, daß die Palästinenser machtlos angesichts der israelischen Stärke sind. Dies ist der dritte Krieg seit dem Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und dessen fortgesetzter Blockade. Durch militärische Aggression und die andauernde Blockade haben die Israelis eine Situation geschaffen, die uns die Überzeugung aufzwingen soll, daß wir den israelischen Maßnahmen nichts entgegenzusetzen haben. Als die Israelis aus Gaza abzogen, spalteten sie den palästinensischen Konflikt in zwei Teile auf: Sie wollen das Westjordanland haben, aber Gaza loswerden und sich damit den dort existierenden Widerstand vom Hals schaffen.
Das wird jedoch nicht funktionieren, da sich die Menschen in Gaza nicht von Palästina als Ganzem und der Lösung dieses Konflikt abspalten lassen, sondern darauf bestehen, Teil des Kampfes der Palästinenser zu sein. Gaza gehört nach wie vor zu den besetzten Gebieten, weshalb der dort geleistete Widerstand nicht vom gesamten Streben der Palästinenser nach einer Beendigung der israelischen Okkupation zu trennen ist. ML: Können Sie noch etwas näher auf die aktuelle Situation des Kampfs des palästinensischen Volkes für seine Freiheit eingehen? Welche Probleme und Herausforderungen stellen sich insbesondere im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland?
Dolmetscher: Sie würden gerne wissen, wie die PFLP die Stärken und Schwächen der Palästinenser in diesem Kampf und die Erfolgsaussichten und Handlungsmöglichkeiten einschätzt?
ML: Ja, denn das ist eine sehr wichtige Frage.
EAR: Lassen Sie uns zuerst über die Schwächen sprechen. In dieser Hinsicht sind zwei Gesichtspunkte zu nennen. Zum einen haben wir es nach wie vor mit den negativen Folgen des Oslo-Abkommens zu tun, das in der PLO nur von der Fatah mit den Israelis unterzeichnet wurde. Das Oslo-Abkommen war mit dem Ziel geschlossen worden, letztendlich einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1947 zu schaffen, das Selbstbestimmungsrecht zu erlangen und das Rückkehrrecht in Kraft zu setzen. Man ging davon aus, daß am Ende der Verhandlungen ein Abkommen geschlossen würde, das diese drei Kernforderungen berücksichtigt. Diese Lösung würde uns jedoch nur einen Staat auf 22 Prozent des palästinensischen Landes zugestehen. Doch selbst nach 20jährigen Verhandlungen bekamen wir nichts von dem, was wir wollten. Gaza blieb isoliert, und im Westjordanland verfügten die Palästinenser lediglich über 17 Prozent des besiedelbaren Bodens, während die Israelis den Rest besetzten, so daß sich die palästinensische Bevölkerung in den größeren Städten des Westjordanlands konzentrierte.
Ungeachtet der Friedfertigkeit der Palästinenser, dem Oslo-Abkommen zuzustimmen und damit zu akzeptieren, daß nur 22 Prozent der Rest sind, den wir von unserem ursprünglichen Land beanspruchen, war das den Israelis nicht genug, um ein endgültiges Abkommen über die Gründung eines unabhängigen Staats in diesen Grenzen zu schließen. Das Oslo-Abkommen als solches enthält keinerlei Garantien, daß Frieden und ein unabhängiger Staat daraus hervorgehen werden. Die Vereinigten Staaten setzten ihre Position gegen die Vereinten Nationen und international legitimier-
ten Resolutionen durch. Wir gingen von vornherein davon aus, daß das falsch ist, doch letzten Endes bestätigte die israelische Regierung durch ihr Handeln unsere Einwände. Arafat erkannte das Existenzrecht Israels an, stimmte einer Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen zu und machte so Zugeständnisse, ohne daß Gegenleistungen erbracht worden wären.
Was können wir tun? Die einzige Option besteht darin, Widerstand zu leisten. Die internationale Gemeinschaft bestätigt in Gesetzgebung und Resolutionen, daß jede Bevölkerung unter einer Besatzungsmacht das Recht hat, mit allen Mitteln des Kampfes umfassenden Widerstand zu leisten - politisch und selbst gewaltsam -, um die Besatzungsarmee aus dem Land zu vertreiben. Alle Völker, die unter Okkupation standen, haben so gehandelt und sich mit gewaltsamen Mitteln befreit. Warum gestattet man uns nicht, dasselbe zu tun, obwohl es von der internationalen Gemeinschaft und dem Völkerrecht legitimiert wird?
Die zweite Schwäche ist die politische Spaltung der palästinensischen Führung. Übrigens ist auch das ein Ergebnis der Oslo-Abkommen und divergierender Perspektiven hinsichtlich dieser Vereinbarungen. Israel ließ nichts unversucht, um die fortgesetzte Spaltung innerhalb der palästinensischen Führung sicherzustellen und die gegenwärtige Situation herbeizuführen, in der es eine vollständige Trennung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland, zwischen Hamas und PLO gibt. Die aktuelle Eskalation durch Netanjahu und seine Regierung wurde genau in dem Augenblick betrieben, in dem die palästinensischen Fraktionen eine Versöhnung einleiteten und wieder eine Einheitsregierung bildeten, die alle Herausforderungen der Palästinenser in ein Ende der Spaltung überführen könnte.
Was müssen wir tun? Wir müssen die Kontinuität dieses tragenden Pfeilers sicherstellen und eine vollständige Versöhnung unter den Palästinensern herbeiführen. Der Zusammenschluß aller Fraktionen unter einem Schirm ist eine unverzichtbare Voraussetzung, den Kampf um Selbstbestimmung und gegen die Okkupation weiterzuführen. Eingedenk des Oslo-Abkommens und der langjährigen ergebnislosen Verhandlungen brauchen wir einen Konsens und ein Abkommen über eine neue palästinensische Agenda, die unter Zustimmung aller Fraktionen beschlossen wird.
Die nationale Agenda oder das nationale Programm muß auf drei zentrale Elemente gegründet werden: Erstens das Rückkehrrecht aller Flüchtlinge, zweitens ein unabhängiger Palästinenserstaat und drittens die Erfüllung der internationalen Resolutionen der UNO, die nicht verhandelbar oder fragmentierbar sind. Wir sprechen von den UN-Resolutionen als einem Paket, also nicht nur der Resolution 242 zu den Grenzen von 1967, sondern auch über die anderen Resolutionen, darunter 181, in der von der Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1947 die Rede ist.
Die aktuelle Krise zeigt, daß Gaza ein Teil des palästinensischen Volkes ist, das als Ganzes gegen die Okkupation und für die palästinensische Agenda kämpft, sich von dem Besatzungsregime zu befreien. Die Einheit Palästinas und der Zusammenhalt aller Palästinenser auf Grundlage unserer legitimen Rechte wird uns mit Sicherheit in die Lage versetzen, unser gemeinsames Ziel zu erreichen, nämlich die Besatzer hinauszuwerfen, da wir historisch gesehen das letzte Volk sind, das noch unter Okkupation steht.
Wir gehen davon aus, daß die derzeitige internationale Situation aus mehreren Gründen kontraproduktiv hinsichtlich unseres Kampfes ist. Vor allem die volle Unterstützung Israels durch die Vereinigten Staaten in einer monopolaren Welt, in der es seit dem Fall der Sowjetunion kein Gleichgewicht der Kräfte mehr gibt, steht unseren Interessen entgegen. Hinzu kommt dieselbe Position seitens der europäischen Staaten, wobei ich nicht über deren Bevölkerungen, sondern die Interessen der Regierungen spreche, Israel uneingeschränkt zu unterstützen. Wir ziehen das alles sorgsam in Betracht und vertrauen auf die Unterstützung durch die Bevölkerungen der freien Welt, der internationalen Gemeinschaft wie auch der arabischen Staaten. Diese Unterstützung wird Ergebnisse zeitigen, wenn es uns gelingt, die Einheit wiederherzustellen, und wir unsere Mission konsequent verfolgen. Werden wir als Volk anerkannt, das für seine Unabhängigkeit kämpft, können wir früher oder später der Unterstützung sicher sein, während umgekehrt der Rückhalt Israels schwindet. Es kommt also darauf an, daß wir unseren Kampf auf die bestmögliche Weise fortsetzen.
Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß alle Konfliktparteien internationalen Gesetzen unterliegen sollten, dieser Krieg jedoch einmal mehr zeigt, daß schwächere Völker nicht respektiert werden. Um diese Situation zu ändern und Stärke zu erlangen, kommt es auf zweierlei an: Erstens dürfen wir unsere Ziele keinesfalls preisgeben und müssen an unseren Rechten festhalten. Zweitens sollten uns andere Völker respektieren und unterstützen, weil unsere Worte und Taten in Einklang stehen. Die Völker der freien Welt sollten unseren legitimen Kampf unterstützen, weil wir unsere Freiheit verteidigen.
Die Medien stellen die Verhältnisse auf den Kopf und zeichnen das Bild, daß Israel das Opfer und wir der Aggressor sind. Wir sind jedoch schon tausend Jahre hier, und Juden lebten als Zivilisten unter uns, ohne daß es Probleme gegeben hätte. Die Zionisten sammelten jedoch Juden aus aller Welt und kamen, um unser Land zu besetzen und seine legitimen Bewohner zu vertreiben. Daß sie in der Nazizeit in Europa verfolgt wurden, berechtigt sie nicht dazu, das durch die Vertreibung der Palästinenser zu kompensieren. Daß sie unterdrückt wurden, darf nicht dazu führen, daß sie uns die Rechte nehmen. Die Lösung können nicht Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung sein. Die Palästinenser sprechen nicht davon, die Israelis zu vertreiben oder zu vernichten, wir sprechen vielmehr von Lösungen. Wir sprechen über eine Lösung, die den Palästinensern einen Staat auf 22 Prozent ihres ursprünglichen Landes zugesteht.
Die PFLP sieht die Lösung in der Schaffung eines unabhängigen demokratischen Staats im gesamten historischen Palästina auf Grundlage einer Staatsbürgerschaft, der zufolge jeder das gleiche Recht hat, in einem demokratischen säkularen Staat zu leben. Ein Staat für alle Bürger, in dem niemand wegen seiner Religion oder seines Geschlechts diskriminiert wird. Das historische Palästina gehört den Palästinensern. Doch obgleich wir der Auffassung sind, daß dies unser Land ist und die Juden als Kolonialisten kamen, um es zu besetzen, erkennen wir doch an, daß es ein jüdisches Problem auf unserem Land gibt. Wir sehen die Lösung darin, daß entweder die internationalen Resolutionen durch eine Zwei-Staaten-Lösung umgesetzt werden oder ein unabhängiger Staat für alle Bürger geschaffen wird, so daß Juden, Christen und Palästinenser zusammenleben. Israel lehnt derzeit beide Lösungen ab. Es besteht darauf, auf Grundlage seiner militärischen Macht weiterhin ein Besatzungsregime aufrechtzuerhalten, und akzeptiert keine Lösung, die eine Autonomie der Palästinenser vorsieht. Gaza ist vom Westjordanland getrennt, in dem wiederum einzelne Kantone voneinander isoliert werden, da Straßen zwischen den Siedlungen das Land zerschneiden und die Palästinenser voneinander trennen, so daß ein zusammenhängender Staat verhindert wird. Ohne Souveränität zu Lande, zur See und im Luftraum ähnelt die palästinensische Regierung bestenfalls einer Stadtverwaltung.
ML: Wie ist das Verhältnis zwischen der PFLP und den anderen Parteien insbesondere der regierenden Hamas in diesem Krieg wie auch generell und unabhängig von der aktuellen Lage? Wo gibt es Gemeinsamkeiten im Widerstand, wo bestehen Differenzen und wie gravierend sind letztere?
EAR: Die Situation der Palästinenser zeichnet sich durch Besonderheiten aus, wie sie in keinem freien und unabhängigen Staat anzutreffen sind. Die verschiedenen Parteien konkurrieren nicht miteinander darum, wer die Regierung stellt und wer in die Opposition geht. Eine Folge des Oslo-Prozesses ist es, daß wir Wahlen unter einem Besatzungsregime mit allen daraus resultierenden Folgen abhalten. Solange die Okkupation fortbesteht und von der palästinensischen Führung akzeptiert wird, wird sich die grundlegende Situation nicht verbessern. Aus diesem Grund sehen wir unser Ziel nach wie vor darin, die israelische Okkupation zu beseitigen und die nationale Unabhängigkeit der Palästinenser herbeizuführen. Deshalb bemessen sich Koalitionen mit anderen politischen Fraktionen für uns als PFLP daran, ob man für oder gegen diese beiden Kernforderungen ist. Der politische Faktor ist also die wesentliche Bedingung zur Einschätzung der Positionen anderer Parteien oder Koalitionen mit ihnen. Wir sind gegenwärtig Teil der nationalen Bewegung für die Befreiung, während demgegenüber ideologische Programme in den Hintergrund treten. Wie Sie wissen, ist die Fatah eine säkulare Partei. Es gibt auch andere linke säkulare Regierungsparteien, die jedoch mit dem Oslo-Abkommen übereinstimmen. Wir teilen den ideologischen Hintergrund, sind aber dennoch gegen ihre Position in dieser Frage. Wir haben eine Koalition mit anderen Gruppierungen wie der Hamas oder dem Islamischen Dschihad geschlossen, die ideologisch nicht mit uns übereinstimmen, jedoch wie wir Widerstand gegen die Okkupation leisten und für die Befreiung Palästinas kämpfen. Die Abgeschlossenheit der Palästinenser macht die Situation also kompliziert.
Wir gehen indessen davon aus, daß die Frage der Demokratie nach wie vor lebendig und der soziale Aspekt Teil des Prozesses selbst ist. In der herrschenden Situation gibt es soziale Beziehungen zwischen den verschiedenen Fraktionen. Wir stehen in einer Koalition mit der Hamas gegen die Israelis, da wir das Ziel der Befreiung Palästinas und der Erlangung der Unabhängigkeit teilen. Wir haben jedoch keinen Konsens mit der Hamas, was das soziale, demokratische Programm und die säkulare Position gegenüber der Religion betrifft. Zugleich sind wir gegen die Fatah und koalieren nicht mit ihr wegen des Oslo-Prozesses und ihres Verhandlungswegs, teilen aber ihre Auffassungen, wie man mit dem Volk umzugehen und die Gemeinschaft auf demokratische Weise zu gestalten hat.
Unter der Besatzung hat die Palästinensische Autonomiebehörde nur eingeschränkte souveräne Befugnisse in eingegrenzten Teilen der besetzten Palästinensergebiete. Wenn es um die Regierung und eine säkulare Ordnung für die Palästinenser geht, befindet sich die PFLP nicht weit von der Fatah entfernt. Da die Hamas eine islamische Ideologie vertritt, stimmen wir hinsichtlich persönlicher Freiheiten, säkularem Recht, den Frauenrechten und vielen anderen Fragen nicht mit ihr überein. In diesen Punkten gibt es mit der Hamas mehr Konflikte als Übereinkünfte. Was aber die Befreiung der Palästinenser betrifft, steht die PFLP der Hamas näher als der Fatah, die es vorzieht, den Verhandlungsweg zu gehen.
Zudem gibt es weitere taktische oder strategische Gesichtspunkte auf der politischen Ebene. Beispielsweise geht die Hamas interna-
tionale Koalitionen ein, die nach Auffassung der PFLP schädlich sind. So unterstützt diese die Zusammenarbeit mit Syrien, nicht jedoch jene mit dem Iran. Auch die internationale Bewegung der Muslimbruderschaft, die Beziehungen zu Katar und der Türkei lehnt die PFLP ab. Die Position der PFLP ist keine absolute: Sie teilt das Lager der Hamas in politischen Fragen nicht und stimmt mit der Fatah in Fragen des Kampfes nicht überein. Die PFLP steht der Fatah mit Blick auf eine demokratische Regierungsweise nahe, kritisiert aber deren Korruption und Anpassungsbereitschaft. Was den entschiedenen Widerstand betrifft, sieht sich die PFLP an der Seite der Hamas.
Die entscheidende Herausforderung für eine nationale Befreiungsbewegung ist die israelische Okkupation. Dem sind alle anderen Erwägungen der Zusammenarbeit mit anderen Parteien und Fraktionen nachgeordnet. Verschiedene Formen des Widerstands einschließlich des bewaffneten sind erforderlich, worin die meisten Fraktionen übereinstimmen. Wie wir demokratisch regieren und welche Gesellschaft wir schaffen wollen, ist demgegenüber vorerst ein Nebenwiderspruch.
Der Oslo-Prozeß ist gescheitert, da Netanjahu und seine rechtsgerichtete Regierungskoalition darauf bestehen, den Siedlungsbau weiter voranzutreiben und damit tagtäglich palästinensisches Land und palästinensisches Recht auf Selbstbestimmung zu rauben. Die PFLP ist der Auffassung, daß es genug Raum für eine Einheit der Palästinenser gibt, sich auf eine Plattform zu einigen, die sich der Okkupation widersetzt. Das Hauptanliegen der PFLP ist die Beendigung der Okkupation, ohne daß sie deshalb die Frage unterbewertet, wie ein Palästinenserstaat aussehen sollte, wie die Palästinenser regiert werden, welche Sicht auf die Welt Palästinenser künftig haben sollten.
Die PFLP strebt einen sozialistischen demokratischen Staat an, die Hamas will einen religiösen Staat, die Fatah will einen säkularen quasi-demokratischen Staat, aber das ist gegenwärtig nicht die zentrale Frage. Zunächst müssen wir darin übereinstimmen und uns darauf fokussieren, Palästina zu befreien. Später können die Palästinenser demokratisch darüber bestimmen, wie ihr Staat und ihre Gesellschaft aussehen sollen. Dann wird die PFLP danach streben, einen demokratischen und sozialistischen Staat zu errichten.
Unglücklicherweise setzen viele Linke in Europa die PFLP mit der Hamas gleich, indem sie sagen, es handle sich um terroristische Gruppierungen. Die PFLP stimmt mit der Hamas darin überein, daß die Okkupation beendet werden muß und man zu diesem Zweck eine vereinigte palästinensische Befreiungsbewegung schaffen will. Der nachgeordnete Widerspruch von heute wird später der entscheidende sein, wenn die Zeit gekommen ist. Dann wird die PFLP keine Kompromisse machen und weiterhin eine wirksame politische Partei bleiben, die sich für Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Palästina einsetzt. Dann wird es höchstwahrscheinlich zu einem Widerspruch mit der Hamas kommen.
Das gegenwärtige Hauptproblem ist die von den Israelis, US-Amerikanern und Europäern in die Welt gesetzte Täuschung, den Eindruck zu erwecken, daß es bereits eine palästinensische Regierung und ein Palästina gibt. Sie machen einen großen Wirbel darum, ob die Hamas die Regierung verläßt oder nicht. Das ist jedoch nicht entscheidende Frage. Die Palästinenserregierung hat die Besatzung nicht beendet und keinen Palästinenserstaat errichtet. Wir hoffen, daß die europäische Linke das versteht. Im Augenblick ist Selbstbestimmung am wichtigsten für die Palästinenser. Danach können wir über palästinensische Regierungen reden.
ML: Ich möchte Ihnen gerne noch einige Fragen zur PFLP selbst stellen. Wie viele Menschen unterstützen die PFLP in Gaza und aus welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen kommen sie? Ist die PFLP derzeit im Widerstand aktiv?
EAR: Historisch gesehen ist die PFLP seit Beginn der palästinensischen Frage in den 1940er Jahren präsent, wenngleich sie damals noch einen anderen Namen trug. Sie ist im Denken und Bewußtsein der Menschen wegen ihres Kampfs gegen die israelische Okkupation, die Tausende ihrer Kämpfer das Leben kostete, fest verankert. Sie ist in der palästinensischen Bevölkerung durch Organisationen der Zivilgesellschaft präsent. Sie ist eine sehr akti-
ve Gruppierung. Das Ausmaß der Unterstützung der PFLP durch die Palästinenser hängt von einer Reihe politischer Faktoren ab. So war die PFLP in den 1970er Jahren die führende Organisation im Gazastreifen. In den 1980er Jahren war sie dann die zweitgrößte Gruppierung in der PLO, doch in den 1990ern mußte die gesamte Linke im Zuge des Oslo-Prozesses schwere Rückschläge hinnehmen, während religiöse Fraktionen auf dem Vormarsch waren. Die PFLP ist jedoch nach wie vor politisch, sozial und militärisch aktiv und wird das auch künftig sein. Wir können hier nicht über Zahlen sprechen, doch die PFLP baut auf ihre Geschichte und Präsenz tief in der nationalen Bewegung der Palästinenser, in der sie lebendig ist und für ihre Vision einer künftigen Gesellschaft kämpft.
Die PFLP hat einen militärischen Flügel, die Abu-Ali-Mustafa-Brigaden, die in diesem Augenblick auf dem Feld präsent sind. Sie ist Teil des palästinensischen Widerstands gegen den israelischen Angriff in Gaza und steht in Koordination und Übereinkunft mit den anderen Gruppierungen des Widerstands. Es gibt derzeit eine Polarisierung in der palästinensischen Politik mit der Fatah auf der einen und der Hamas mit ihren regionalen und internationalen Verbündeten auf der anderen Seite. Die fast vollständige Polarisierung in diese beiden Gruppen hat zwangsläufig Implikationen für alle anderen Parteien und Organisationen.
Die PFLP steht dieser Polarisierung ebenso kritisch gegenüber wie dem Monopol von Fatah und Hamas in der palästinensischen Politik. Sie versucht, einen dritten Weg, eine Koalition der säkularen, demokratischen und sozialistischen Kräfte zu schaffen, der dieses Monopol in der palästinensischen Politik brechen könnte. Dieser Ansatz war bislang nicht sehr erfolgreich, und so arbeiten wir weiter an diesem strategischen Zukunftsentwurf. Die PFLP glaubt, daß dieser dritte Weg die Kontroversen eindämmen und zu einer vernünftigen gemeinsamen Plattform für die Befreiung der Palästinenser führen könnte.
Angesichts der Polarisierung erhalten die PFLP und andere Kräfte des politischen Lebens nicht dieselbe Beachtung seitens der Medien auf nationaler oder internationaler Ebene wie die Fatah und die Hamas, die über umfangreiche Ressourcen zur Öffentlichkeitsarbeit verfügen. Unter dieser Dominanz leiden die kleineren palästinensischen Gruppierungen. Beispielsweise berichten Al Jazeera für die Hamas und Al Arabija, die Ägypter und die Amerikaner für die Fatah. Da ist einer der Gründe, warum die PFLP keinen angemessenen Anteil an der Resonanz in den Medien hat, was sich natürlich negativ auf ihre Popularität auswirkt. Viele Leute wissen einfach nicht genug über sie.
Politische Opposition gegen den Oslo-Prozeß oder bewaffneter Widerstand gegen die israelische Okkupation wird weitgehend mit der Hamas assoziiert. Hätte Al Jazeera eine Liste der militärischen Aktivitäten der Abu-Ali-Mustafa-Brigaden in der aktuellen Auseinandersetzung, würden den Verantwortlichen im Sender die Augen übergehen. Sie haben diesbezüglich nur die Hamas im Blick, und wenn es um Politik, Diplomatie oder soziale Arbeit geht, die Fatah. Andererseits räumt die PFLP durchaus eigene Probleme und Versäumnisse ein. Auch ist es ihren Unterstützern und Freunden auf internationaler Ebene nicht gelungen, für eine stärkere Medienpräsenz zu sorgen, die Aufklärung leistet, wofür die PFLP steht und was sie leistet. Wir müssen insofern selbstkritisch feststellen, daß die Hamas und die Fatah in dieser Hinsicht viel erfolgreicher agieren.
Was den Rückhalt in der Bevölkerung betrifft, stehen traditionelle Gruppierungen dem Denken und dem politischen Programm der PFLP nicht allzu nahe, sondern neigen religiösen Kräften oder der Fatah zu. Die PFLP findet unter jungen Leuten, in demokratischen säkularen Gruppierungen, an Universitäten wie auch bei Frauen größeren Anklang. Nach 20 Jahren der Stabilisierung einer Palästinenserregierung, die sich aus den einflußreichsten Kreisen zusammensetzte, geht diese Entwicklung ihrem Ende entgegen. Immer mehr Menschen neigen Strömungen zu, die etwas mit ihrem persönlichen Leben und ihren eigenen Visionen zu tun haben.
Auch unabhängig von ihrem nach wie vor marxistisch-leninistischen Hintergrund wird die PFLP künftig wieder an Popularität gewinnen, weil sie der Mehrheit der Menschen am nächsten steht.
Wenngleich viele Menschen in Glaubensfragen der Hamas nahestehen, haben inzwischen doch Fragen einer freiheitlichen Lebensführung für sie an Bedeutung gewonnen. Nach 20 Jahren der Manipulation und Täuschung wird es dazu kommen, daß man die alten Kräfte bei den nächsten Wahlen zur Hölle schickt.
Die PFLP wird als revolutionäre Partei nie mehr als 10 oder 15 Prozent der Wählerschaft für sich gewinnen, denn käme sie auf ein höheres Ergebnis, würde das bedeuten, daß sie wie die Fatah und Hamas nur um der Stimmen willen auch Wählerinnen und Wähler gewänne, die mit ihren sozialistischen Zielen nicht übereinstimmen. Sie kann sich jedoch als Interessenvertretung einer politischen Avantgarde verstehen und zugleich zahlreiche Anhänger und Unterstützer aus anderen Sphären der Gesellschaft gewinnen, die nicht notwendigerweise ihre Ideologie teilen, aber der Überzeugung sind, daß sie von der PFLP in Richtung sozialer Gerechtigkeit angeführt werden.
ML: Herr Abu Rahma, vielen Dank für dieses Gespräch.
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