Dienstag, 19. August 2014
Die Antideutschen. Rückblick und Kritik
Dies ist ein Text zu den sogenannten Antideutschen. Genau genommen über die zunehmend identitäre, sich selbst genügende Praxis der verbliebenen Reste dessen, was einmal die Antideutschen waren. Ach je, tönt es jetzt aus den Ecken, das schon wieder – innerlinke Debatte um Grenzen der Israelsolidarität, die fernab linker Szenetreffs wirklich niemanden interessieren. Aber doch: Es geht darum, wie angesichts einer sich wandelnden Weltlage auch die Linke versuchen muss, konsequente, kohärente und zeitgemäße Antworten und Positionen zu finden. Und dass sie jene begraben muss, die das nicht mehr leisten können – unabhängig von längst tradierten und reflexhaften Verhaltensmustern, die sich an linken Stammtischen, Szeneblättern und gelegentlich auch auf der Straße zeigen.
Die Antideutschen also. Zur Erinnerung: Entstanden sind sie als Teil und spätere Abspaltung einer eigentlich antinationalen Bewegung zur Zeit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Von dieser Seite wurde befürchtet, Deutschland könne einen wiedererstarkten Machtblock bilden, seine Nachbarländer gefährden, der deutsche Nationalismus könne erstarken und der von den Antideutschen behauptete spezifische deutsche Antisemitismus könne nach Ende der Besatzung durch die alliierten Mächte des Zweiten Weltkriegs wieder ungeahnte Ausmaße annehmen. Dagegen galt es zu protestieren. »Nie wieder Deutschland« wurde der in Zeiten neuer deutscher Heimateuphorie ebenso freche wie nachhaltige Schlachtruf jener, die gegen das eigene Land und für Israel – das Zufluchtsland für alle Holocaustüberlebende und von Antisemitismus betroffene Jüd*innen – auf die Straße gingen. Das war der Ursprung der antideutschen Strömung.
Für die innerlinke Debatte waren die Antideutschen prägend. Seit den 90er Jahren konfrontierten sie ihre linken Genoss*innen mit dem eigenen Antisemitismus und Antiamerikanismus. Theoretisch versiert und hart in der Debatte. Kaum eine andere europäische Linke machte diesen Prozess der Selbstreflexion durch, konfrontierte sich selbst mit Vorurteilsmustern, die »die Juden« oder »die Amerikaner« betrafen. Vielen anderen europäischen Bewegungen hätte eine solche Form des Spiegelvorhaltens bis heute gut getan.
Es folgte in den 90ern ein Jahrzehnt der Kriege durch die Staatengemeinschaft. »Humanitär« hießen plötzlich die kriegerischen Interventionen. Und sie wurden nun von Teilen der antideutschen Linken begrüßt.
Am 11. September 2001 wurde mit den islamistischen Anschlägen gegen das World Trade Center in New York ein Wendepunkt eingeleitet. Die antideutsche Kritik verschärfte sich, der »War on Terror« wurde begrüßt, die islamistischen Ausuferungen zum Hauptfeind erklärt.
Die Israelsolidarität, der kleinste gemeinsame Nenner aller antideutschen Strömungen und zugleich ihr größtes gemeinsames Kampffeld, wurde auch im Rahmen der Entwicklungen im Israel-Palästina-Konflikt, Stichpunkt Zweite Intifada, immer stärker: Der jüdische Staat wurde vorbehaltlos, unbedingt, bedingungslos und vehement verteidigt.
Ein kleiner Sprung in die Gegenwart
Es ist jetzt 2014. Die islamistische Bewegung Islamischer Staat (IS) kämpft gegen Kurd*innen, tausende Menschen sterben, Hunderttausende sind auf der Flucht. Der Islamismus ist zu einer der größten Bedrohungen von Freiheit und Menschenleben geworden, der Krieg dagegen zu einer Bedrohung von Freiheit und Menschenleben in den betroffenen Regionen. Im Nahen Osten schleudert die Hamas derzeit aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel, die, wenn sie nicht an hochaufgerüsteten israelischen Raketenabwehreinrichtungen zerschmettern, bis nach Tel Aviv reichen können. Im Gegenzug bombardiert Israel den Gazastreifen. Der Body Count, das unangenehme Zählen von Leichen auf beiden Seiten, zeigt: Ca. 2000 Menschen im Gazastreifen sind durch israelische Raketen getötet worden, auf israelischer Seite sind ungefähr 70 Menschenleben zu betrauern.
Angesichts des Konflikts im Nahen Osten werden auf irrationale Weise auch in Deutschland Jüd*innen zu Opfern antisemitischer Übergriffe und Gewalt. Eine Hochzeit für die wenigen noch aktiven Antideutschen. Sie zeigen sich hauptsächlich im Internet, weniger auf der Straße. Sie protestieren lautstark, befremden und beschimpfen andere Linke, verlinken rechte Thinktanks aus den USA und empören sich, wann immer ein neuer Bombeneinschlag auf israelischem Boden zu verzeichnen ist – zu Gaza schweigen sie mehrheitlich, abgesehen von ihrem Schlachtruf: »Free Gaza from Hamas!«
In Frankfurt am Main führte die antideutsche Beteiligung an einer Demonstration gegen Antisemitismus zuletzt zu skurrilen Szenen. Anlässlich antisemitisch motivierter Drohungen und Übergriffe in Deutschland hatte unter anderen die antinationale Gruppe Kritik und Praxis [F] zu einer Demonstration aufgerufen. Die Antideutschen aus dem Rhein-Main-Gebiet nahmen das zum Anlass, kurzzeitig offline zu gehen, die Israelfahnen zu packen und mitzudemonstrieren. Ein kleines weiß-blaues Fahnenmeer stand etwas abseits der Demo und wartete, dass es losginge. Die von der Gruppe Morgenthau, die nachweislich seit 2012 keinen Finger mehr gerührt hatte, verteilten Flyer zur Demonstration, verzichteten gänzlich auf einen Kommentar sowohl zum Anlass der Demonstration (Antisemitismus in Deutschland) als auch auf eine Analyse oder Kommentierung des schwelenden Nahostkonfliktes. Stattdessen erklärten sie die Organisator*innen der Demonstration zum politischen Feind, skandierten Sprüche wie »Keine Demo mit Antizionisten!«, obwohl kein Antizionist*in weit und breit zu sehen war, schwenkten ihre Fahnen und hofften wahrscheinlich, dass alle jüdischen Israelis es ihnen aus der Ferne danken würden. Kurz: Sie verhielten sich äußert unverschämt. Dass sie selbst es niemals geschafft hätten, eine eigene Demonstration auf die Beine zu stellen, aus Ideenlosigkeit und fehlender Unterstützung, war offensichtlich – und so kaperten sie einfach die andere Demonstration. Am nächsten Tag erschien das Flugblatt – der Unverschämtheit Nummer zwei. Wieder wurde auf jeglichen realpolitischen Bezugspunkt verzichtet und nur der eigene Siegermythos gegenüber den Veranstalter*innen der Demo bemüht, kurz, es wurde einfach nachgetreten.
Warum diese innerlinke Posse in jener Ausführlichkeit? Weil es ein Symptom zeigt: Die Antideutschen haben sich selbst überlebt und überflüssig gemacht – und das nicht jetzt erst, sondern schon vor einigen Jahren. Niemand ist mehr interessiert an ihrer kriegerischen Hetze, ihrem Islamhass, ihrer Kritiklosigkeit und penetranten Verehrung einer rechten israelischen Regierung, ihrem Rassismus und ihrer Fehleinschätzung zur politischen Weltlage. Und niemand kann ihren Linken-Hass noch ertragen – die völlige Fixierung auf die eigene Szene anstelle einer Intervention in die Gesellschaft. Es mag mit manchen Antiimperialist*innen noch ein Streitpunkt sein, aber das Existenzrecht Israels wird in großen Teilen der linken Szene anerkannt (anders möglicherweise im Rest der Bevölkerung). Die wenigen Abonnent*innen der Zeitschrift Bahamas, das Haus- und Werbeblättchen der Strömung, lesen die Zeitschrift teilweise auch nur noch mit einem säuerlich amüsierten Lächeln. So wichtig die Impulse der Antideutschen für die Bewegung waren, so bitter ist es zu beobachten, dass sie nicht wissen, wann es Zeit ist zu gehen. Oder sich zu ändern. So denkt man sich bei allem, was da noch aus den antideutschen Löchern kommt: Ihr seid sowas von 2003!
Die Gruppe Kritik und Praxis [F], der auch ich angehöre, versteht sich als antinational. Viele von uns hatten lange Zeit große Sympathien für die antideutsche Strömung, manche riefen ebenfalls »Nie wieder Deutschland«, andere tun es heute noch. Aber wir sehen, dass bei der notwendigen Überwindung des Nationalismus und des Nationalstaats, des Antisemitismus und Rassismus und allem voran des Kapitalismus, die sogenannten Antideutschen keine Genoss*innen sein wollen oder können und als solche auch nicht mehr angesprochen werden. Wir haben sie verloren, sie haben sich selbst verloren. Aber unsere Türen stehen selbstredend immer für diejenigen offen, die die aktuellen Entwicklungen ernstnehmen, die eigenen Positionen überdenken, die sich mit uns streiten und an unserer Seite stehen. Die das sehen und mittragen, worum es uns und der gesamten Linken gehen muss: Die Verhältnisse wie sie sind überwinden und eine befreite Gesellschaft möglich machen.
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