Dienstag, 19. August 2014
Moses‘ Gebot (Heinrich Fink)
»Auge um Auge, Zahn um Zahn« – ein biblisches Rachegebot? Seit Jahrhunderten haben Christen Kapitel 5, 38 f. des Matthäus-Evangeliums so verstanden, als hätte Jesus diesen alttestamentlichen Rechtsspruch als Anweisung zu grausamer Rache entlarvt und mit dem Gebot der Feindesliebe außer Kraft gesetzt. Aber im Zusammenhang der Bergpredigt werden Gebote und Verbote aus der Tradition des Moses nicht abgetan, sondern als gültig bekräftigt und verbindlich gegenüber dem politischen Feind, der römischen Besatzungsmacht, zugespitzt. Auch dieses.
Im 3. Buch Mose, Kapitel 24 heißt es ab Vers 17: »Wenn jemand einen Menschen erschlägt, der soll getötet werden, wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll es ersetzen: Leben um Leben. Und wenn jemand seinen Nächsten einen Schaden zufügt, dem soll man tun, wie er getan hat: Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn (...) Einerlei Recht soll unter euch gelten für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der Herr, euer Gott.« Daß das Leben jedes einzelnen Menschen aufgewertet und sozial geschützt wird, macht 5. Mose, Kapitel 24, 6 am Beispiel lebensnotwendiger Gegenstände deutlich: »Man soll die Handmühle oder auch nur den oberen Mühlstein nicht zum Pfand nehmen, denn damit würde man das Leben zum Pfand nehmen.«
Überliefertes Recht wie Blutrache und Sippenhaft wird in eine neue Verhältnismäßigkeit gezwungen. Wer sich durch einen ausgeschlagenen Zahn tief in seiner Ehre verletzt fühlt, darf dem Täter auch nur einen einzigen Zahn ausschlagen. Verletzt das Opfer im Zorn den Täter unverhältnismäßig mehr und schlägt ihm zwei oder noch mehr Zähne aus, so gilt das als neue Straftat, durch die der, der eben noch Opfer war, zum Täter geworden ist, denn vermeintlich berechtigter Zorn oder gar Rache sind nach dem Gesetz des Moses nicht länger anerkannt.
Damit wurde von den zwölf Stämmen Israels ein harter Umlernprozeß gefordert. Daß das allgemeingültige persönliche Recht auf Vergeltung oder sogar Rache nunmehr dem Gebot der Verhältnismäßigkeit unterstellt ist, wird besonders im Fall eines Konflikts mit Sklaven deutlich: »Wenn jemand seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, so soll er sie für das Auge freilassen. Und wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, so soll er sie für den Zahn freilassen.« (2. Mose 24, 26 ff.)
Ins Gegenteil verkehrte Bibel-Aussagen sind besonders gefährlich in Zeiten, in denen aus Schmerz, Trauer, Angst, Zorn und Haß Forderungen nach Vergeltung oder gar Rache laut werden, die eine Kriegsmaschinerie in Gang zu setzen vermögen. Deshalb sind die seit fast 3000 Jahren zur Verhältnismäßigkeit in Konflikten verpflichtenden Sätze in diesen Tagen unentbehrlich. Sie verbieten Eskalation und rufen die Konfliktparteien zu sachlichem Abwägen auf. Im Gaza-Streifen aber scheint das israelische Militär jetzt das Zahlenverhältnis zwischen eigenen Verlusten und denen der Palästinenser auf 1:150 festgelegt zu haben – in krassem Widerspruch zu den Geboten aus Moses‘ Büchern, die für Juden, Christen und Muslime zu den heiligen Schriften gehören.
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