Dienstag, 19. August 2014
Krebs ist sexy (Urte Sperling)
Krebs ist sexy – dieser Slogan war zu lesen, als der Pharmakonzern Pfizer mitteilte, daß er sich künftig noch stärker als bisher auf das Geschäft mit Medikamenten zur Krebstherapie konzentrieren und Produkte aus anderen Sparten abgeben wolle. Krebs sei von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit geworden und werde gewiß irgendwann auch heilbar. An dem Forschungsprozeß auf dem Weg zur Heilbarkeit wolle sich Pfizer beteiligen. Klingt gut, oder?
Die Pharmaindustrie ist Teil der Gesundheitswirtschaft und -industrie, die als Wachstumsmotor und Jobmaschine Standorte rettet. Krebspatientinnen und -patienten können das Ihre dazu beitragen, indem sie mit ihrem Krebs leben, nicht zu früh sterben, tapfer Chemotherapien erdulden und Antihormone schlucken. Schließlich verlängern sie – statistisch gesehen – mit einer gewissen, wenn auch im individuellen Fall höchst ungewissen – Wahrscheinlichkeit ihre Lebenszeit. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Manchmal verkürzen sie sie auch – wegen der Nebenwirkungen.
Die Diagnose Krebs – das heißt unkontrolliert wuchernde Zellen unterschiedlicher Art – macht Angst. Hat der Mensch mal einen positiven, also beängstigenden Befund, gibt es keine Sicherheit mehr, Rezidive, Neoplasien, Metastasen können ihn treffen, und mit Ungewißheiten und Ängsten waren schon immer gute Geschäfte zu machen.
Eine Generation von Frauen dient seit mittlerweile 40 Jahren der Pharmaindustrie als brave Konsumentinnen. Es fing mit der ersten Generation der »Antibaby-Pille« an. Sie wurde geschluckt, befreite sie doch von den quälenden Ängsten vor ungewollter Schwangerschaft. Der Waschzettel warnte vor erhöhter Thrombose-Gefahr und mahnte, das Rauchen zu lassen. Nichts zu lesen war von möglicher krebserzeugender Langzeitwirkung bei der Einnahme hoher Östrogendosen. Davon wußte man wohl noch nichts. In den 1980er oder 1990er Jahren reduzierten die Hersteller aufgrund der an den Frauen gewonnenen Forschungsergebnisse die Östrogenanteile.
Wer nach Jahren dann einen verdächtigen Knoten tastete, bekam einen Schrecken. Doch die gute Nachricht folgte: früh erkannt, Gefahr gebannt, der Zellhaufen ist operabel, es gibt die Strahlentherapie, wir müssen nicht gleich sterben. Die Geräteindustrie reagierte mit der massenhaften Herstellung von Mammographie-Apparaten. Das Screening wurde zur von den Kassen bezahlten Quasi-Pflichtveranstaltung. Über die Strahlenbelastung wurde spekuliert, aber nicht wirklich aufgeklärt. Sie sei minimal. Nicht gesprochen wurde darüber, ob die Häufigkeit der Untersuchung vielleicht diese Aussage modifiziere.
Nach Brustoperationen wurde nun engmaschig, nämlich zunächst alle drei, später alle sechs Monate dann einmal jährlich beidseitig mammographiert. Niemand kam bisher auf die Idee, systematisch zu untersuchen, ob eventuell die nach Jahren auftauchenden Neuerkrankungen auf der vorher nicht betroffenen Seite durch die Strahlenbelastung entstanden sein könnten.
Bei Tumoren, die auf Östrogen mit Wachstum reagierten, gab es dann die frohe Botschaft, Antihormone könnten, wenn frau sie denn nur lang genug, nämlich über fünf Jahre einnahm, eventuell übersehene kleine böse Zellen am Wachsen hindern. Warum gerade fünf Jahre? Ist es ein Zufall, daß die »Heilungs«-Chance bei Krebs nach Fünf- beziehungsweise Zehn-Jahres-Überlebensraten gemessen wird? Wenn also eine Frau fünf Jahre lang das Antihormon schluckt und danach kein Rezidiv ihres Primärtumors und keine Metastase auftaucht, gilt sie als geheilt. Sie ist ebenso gesund wie eine operierte Frau, die das Hormon nicht nimmt und ebenfalls weder Rezidive noch Metastasen bekommt. Mit statistischen Methoden wird dann belegt, daß die letzte Gruppe kleiner ist als die erste. Das rechtfertigt die Zulassung des Medikaments sowie die Kostenübernahme durch die Krankenkassen und verleiht dem Medikament den Ruf, es verlängere die Lebenszeit. Blöd nur, daß die Gefahr, einen anderen, nämlich den Gebärmutterschleimhaut-Krebs zu bekommen steigt. Den alten Krebs ist man los, einen neuen kann man aufgrund der Hormonbehandlung stattdessen bekommen, abgesehen von anderen unangenehmen Nebenwirkungen, die die Lebensqualität beeinträchtigen.
Eher selten wird darauf hingewiesen, daß sich die frohen Botschaften nur auf den Zelltyp des Primärtumors beziehen. Wer – mit oder ohne Hormonblockerhilfe – als geheilt gilt, aber sagen wir nach vielleicht 14 Jahren auf der anderen Seite an einem anderen Tumor, einer Neoplasie leidet, zählt zu den neu Erkrankten. Wieder wird operiert, bestrahlt und frau erhält erneut die Empfehlung, vorsorglich einen Hormonblocker – nun vielleicht eine Neuentwicklung, noch wirksamer, ohne das Risiko für die Gebärmutter, dafür aber die Knochensubstanz angreifend und mit anderen unangenehmen Nebenwirkungen – fünf Jahre lang einzunehmen, vielleicht auch zehn Jahre lang, vielleicht im Wechsel mit dem alten, inzwischen wesentlich verbilligten Medikament. Sollten Knochenschmerzen unerträglich werden, nimmt die Knochendichte zu sehr ab, stehen andere Medikamente bereit, die dem entgegenwirken. Treten depressive Verstimmungen – ebenfalls mögliche Nebenwirkungen – auf, gibt es ja Antidepressiva, wobei nicht ganz klar ist, ob die dann helfen oder aber zuweilen auch das Gegenteil bewirken.
Tausende Frauen folgen den Leitlinien der zertifizierten Brustkrebszentren und arrangieren sich mit der Krankheit. Sie treffen sich in Selbsthilfegruppen zum Informationsaustausch über zusätzliche gesundheitsfördernde Möglichkeiten. Gynäkologische Onkologen werden geladen, um die neuesten Erkenntnisse aus der Forschung zu vermitteln. Die Frauen fühlen sich informiert, gut beraten, werden allerdings meist nicht in die Lage versetzt, die Basis, auf der hoffnungsspendende Prognosen beruhen, die Aussagekraft der Studien mit ihren statistischen Wahrscheinlichkeiten zu überprüfen. Sie klammern sich an Zahlen: 50 Prozent mehr Chance, die Fünf-Jahres-Überlebensrate zumindest für diese Tumorart zu erreichen, wenn ich tapfer bin und das Zeug schlucke und mein Leben auf das »Leben mit Krebs« umstelle.
Krebs ist sexy? Vielleicht sollten wir reichlich Aktien des Konzerns erwerben, für dessen Gewinne wir unsere Lebensweise ändern und uns »der Krankheit stellen«. Dann haben auch wir etwas davon. Man könnte aber auch einen Teil der Gelder, die in die sexy Forschung fließen, in Grundlagenforschung über die Ursachen der Zellteilungskrankheit und vor allem in die Beseitigung der bereits hinlänglich bekannten Ursachen zu investieren und nicht alles den interessegeleiteten Projekten der Pharmariesen überlassen. Doch wo keine politischer Wille ist, ist auch kein Weg.
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