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Zur Rolle von Frauen im kolumbianischen Friedensprozessm wir leben
Zur Rolle von Frauen im kolumbianischen Friedensprozess
Frieden ist mehr als ein Pakt zwischen Kriegern und das Schweigen der Gewehre. Die Einmischung in die Friedensverhandlungen zwischen Staat und Guerilla kann nur ein Schritt auf dem Weg hin zu einer Transformation der Gesellschaft sein, die frei von Gewalt ist und in der Frauen die gleichen Rechte wie Männern zugestanden werden. Wir befassen uns im Folgenden mit dem Beitrag und der Bedeutung, die Frauenorganisationen in diesem besonderen politischen Moment in der Geschichte Kolumbiens, im Friedensprozess und Dialog zwischen der Regierung und aufständischen Gruppen, zukommt. Derzeit identifizieren wir zwei wirtschaftliche Entwicklungen, die das Leben von Frauen besonders negativ beeinflussen: Megaprojekte, die dem extraktivistischen Entwicklungsmodell folgen, und der Drogenhandel, der im Zusammenhang mit diesen Projekten eine neue Dynamik entfaltet hat. Abschließend geben wir einen Überblick über eine Reihe von juristischen Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit zugunsten der Rechte von Frauen und zeigen die Probleme bei der Umsetzung auf.
«Ohne die Einbeziehung der Frauen wird es keinen Frieden geben»
Eines der historischen Ereignisse, das die derzeitige Lage des Landes prägt, ist der Friedensvertrag, den die Regierung von Juan Manuel Santos und die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in Havanna, Kuba, unterzeichnet haben. Außergewöhnlich ist, dass bei der Aushandlung dieses Vertrags bei allen Punkten die Genderfrage einbezogen wurde. Uns sind keine weiteren Beispiele von Friedensabkommen in anderen Ländern bekannt, die die Genderperspektive derart weitgehend berücksichtigt hätten, schon gar nicht, was die aktive Partizipation von Frauen betrifft. Dies ist das Ergebnis der langjährigen kollektiven Organisierung und Kämpfe von Frauen in Kolumbien, die immer wieder aufgezeigt haben, dass sie besonders unter dem Konflikt zu leiden hatten, und die davon ausgehend ihre Anerkennung als politische Subjekte in der kolumbianischen Gesellschaft eingefordert haben. Daher war Magda Alberto zufolge eine der ersten Losungen der kolumbianischen Frauenbewegung in Bezug auf die Friedensverhandlungen: «Ohne die Einbeziehung der Frauen wird es keinen Frieden geben.»[1]
Die Integration der Genderperspektive in das Friedensabkommen führte zur Gründung von neuen Bewegungen wie Mujeres por la Paz (Frauen für den Frieden) oder Bündnissen wie Cumbre de Mujeres y Paz (Gipfel der Frauen und des Friedens). Letztere umfasst unterschiedliche Organisationen, die am Unterausschuss zum Thema Gender teilnahmen, den die Konfliktparteien eingerichtet hatten. Magda Alberto betont, dass dieser Unterausschuss «auf die Kämpfe und Forderungen von Frauen zurückgeht». Sie verlangen, alle in Havanna getroffenen Vereinbarungen hinsichtlich ihrer genderspezifischen und frauenrechtlichen Implikationen zu überprüfen und entsprechend auszulegen. Bedeutend ist beispielsweise der Bereich der Landwirtschaft. Hier setzen sich Frauenorganisationen nicht nur für neue Gesetze und staatliche Programme ein, sondern fordern eine umfassende Mitbestimmung von Frauen auf institutioneller Ebene. Zudem soll ein Landfonds eingerichtet werden, der Frauen einen gleichberechtigteren Zugang zu Vieh- und Ackerland verschafft.
Wir kolumbianischen Frauen haben einen langen Weg zurückgelegt: von der Anklage und Identifikation als Opfer hin zu Forderungen nach Anerkennung der Wahrheit und nach Gerechtigkeit. Im Zuge dieser Proteste und Prozesse haben wir uns organisiert und uns politische Werkzeuge angeeignet, die uns dazu befähigen, unsere eigene Lebensrealität und die unserer Gemeinden zu verändern. Wir haben uns als politisches Subjekt konstituiert und orientieren uns bei unserer Organisierung an den Prinzipien Kollektivität und Horizontalität. María Eugenia Ramírez weist darauf hin, dass während des Bürgerkrieges die meisten Frauen nicht öffentlich über das sprachen, was sie erleiden mussten.[2] Aus Angst, Furcht und Scham schwiegen sie, zudem dachten sie, dass sich eh nichts ändern werde. Heute jedoch hätten die Frauen inmitten der anderen Opfer ein Gesicht, eine Stimme und stellen politische Forderungen.
Mobilisierung gegen die «Gender-Ideologie»
Am 2. Oktober 2016 fand ein landesweites Referendum statt, das die Frage zur Abstimmung stellte: Unterstützen Sie das endgültige Abkommen zur Beendigung des Konflikts und für den Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens? Das Lager, das für Nein votierte, setzte sich vor allem aus VertreterInnen und AnhängerInnen der Parteien des konservativ-rechten Spektrums sowie der evangelikalen Kirchen zusammen, die in den vergangenen Jahren in Kolumbien und ganz Lateinamerika ihren Einfluss ausgebaut haben. Gruppen, die gegen eine Ausweitung von Frauenrechten sind, verfälschten Argumente und schürten Ressentiments, um damit für eine Ablehnung des Friedensabkommens zu werben. Sie warfen den BefürworterInnen des Referendums vor, eine «Gender-Ideologie»[3] zu vertreten, und werteten damit die Anliegen von Frauenorganisationen und der LGBTI-Community ab. Sie verdrehten Tatsachen durch Lügen und Diskurse, die in einer erbitterten Verteidigung des hegemonialen heteropatriarchalen Familienmodells bestanden. Dass diese konservativen Kräfte politisch auf dem Vormarsch sind, hat äußerst negative Auswirkungen. Eine Konsequenz sind Rückschritte bei der Selbstbestimmung und bei den Rechten von Frauen, die als illegitim oder illegal gebrandmarkt werden. Der Aufruf, beim Referendum über das Friedensabkommen mit Nein zu stimmen, richtete sich gegen die Rechte von Frauen und LGBTI. Dass er am Ende erfolgreich war, stärkte die konservative Kultur in der kolumbianischen Gesellschaft.
Doch nach dem Plebiszit übten die Organisationen und die Unterkommission der Frauen starken Druck aus und erreichten, dass die ihnen zugesprochenen Rechte und Vereinbarungen Teil des Abkommens blieben.[4] Die Opposition verhinderte jedoch die Aufnahme von Forderungen nach der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsbrüchen und der Anerkennung der Rechte der LGBTI-Community. Die Frauenorganisationen, die an dem Verhandlungsprozess teilnahmen, sehen in diesen Ergebnissen einerseits eine große symbolische Niederlage, betonen aber auch die strukturellen Erfolge. Sie betrachten es als Niederlage, dass ideologische Tendenzen in der kolumbianischen Gesellschaft, die eine Einschränkung von Frauenrechten propagieren, wieder stärker werden. Der Erfolg besteht darin, dass die Frauenorganisationen weiter am Prozess beteiligt sind und Einfluss ausüben können, um weitere Rückschritte zu verhindern.
Nach dem Inkrafttreten des Abkommens wurde eine Kommission geschaffen, die die Einhaltung der Genderperspektive bei der Umsetzung des Friedensvertrags überwachen soll. In ihr sitzen Repräsentantinnen der verschiedenen Frauenorganisationen. Zudem sind von den insgesamt 2.136 KandidatInnen für die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) 863 Frauen.[5] Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Frauen bislang kaum Zugang zu Führungspositionen in der Justiz hatten.
In Havanna, Kuba, finden derzeit Gespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der nationalen Befreiungsarmee Ejército de Liberación Nacional (ELN) statt. Um diesen Prozess herum haben sich ebenfalls Initiativen gebildet, die auf eine aktive Partizipation von Frauen drängen. Wenngleich die aufständischen Gruppen und die Regierung beim Friedensvertrag und bei den Amnestieregelungen vorangekommen sind, bleiben paramilitärische Gruppen vor allem in den ländlichen Gebieten weiterhin aktiv. Viele der Frauenorganisationen sind sich darüber einig, dass das von dem bewaffneten Konflikt verursachte Leiden nachgelassen hat. Der soziale Konflikt, das heißt, die soziale Ungleichheit, die für den bewaffneten Konflikt ursächlich war, besteht aber weiter, und wir würden sogar behaupten, dass sie sich verschärft hat. Die politischen Fortschritte, die es nach Abschluss des Friedensvertrags gegeben hat, reichen nicht aus, um die Bedürfnisse und Erwartungen von uns Frauen an den Friedensprozess zu erfüllen. Wir sind daher fest entschlossen, weiterhin für unsere Anliegen zu kämpfen und dafür zu sorgen, dass unsere Forderungen nicht nur auf dem Papier umgesetzt werden oder einer der beiden Konfliktparteien dienen. Wir wollen, dass sich die gesellschaftliche Situation verändert, in der Frauen aus den popularen Schichten, Angehörige der LGBTI-Community und unsere Gemeinden unterdrückt werden.
Soziale Bewegungen und (para-)militärische Gewalt
In den vergangenen Jahren sind sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum neue Organisationen und Bündnisse entstanden und haben sich gefestigt. Diese Organisationen setzen sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und sogar Opfern des sozialen und bewaffneten Konflikts zusammen. In diesem Zusammenhang haben sich auch verstärkt Basisorganisationen und Plattformen von Frauen herausgebildet.
Vor Unterzeichnung des Friedensabkommens wurde sozialer Protest recht willkürlich mit dem bewaffneten Kampf gleichgesetzt, was für die Organisationen und ihre AnführerInnen gravierende Konsequenzen hatte. In der aktuellen Situation sehen sich die sozialen Bewegungen trotz Friedensvertrag und -dialog weiterhin systematischen Angriffen ausgesetzt. Im Februar 2017 veröffentlichte das NGO-Netzwerk Programa Somos Defensores einen Bericht, der von mehr als 500 Morden an MenschenrechtsaktivistInnen in Kolumbien im vergangenen Jahrzehnt spricht. Am 30. März desselben Jahres erschien ein weiterer Bericht der Ombudsstelle (Defensoría del pueblo), wonach Bedrohungen gegen und Anschläge auf AnführerInnen sozialer und zivilgesellschaftlicher Bewegungen und Organisationen «nach Unterzeichnung des Friedensvertrages in verschiedenen Regionen des Landes zugenommen» haben. Dies treffe insbesondere auf «Aktivitäten zur Verteidigung indigener Territorien, Widerstand gegen ausbeuterische Wirtschaftsprojekte und nicht zuletzt auf jene Initiativen zu, die sich der Friedenspädagogik widmen und sich für den Aufbau des territorialen Friedens[6] einsetzen».
Derselbe Bericht legt offen, dass zwischen dem 1. Januar 2016 und dem 5. März 2017 156 führende AktivistInnen und MenschenrechtlerInnen ermordet wurden. Die Tageszeitung El Espectador nannte am 16. September 2017 die Zahl von 200 in den Jahren 2016 und 2017 Ermordeten. Es gibt übereinstimmende Meldungen, wonach die meisten dieser Fälle in den Departamentos Antioquia, Cauca, Valle del Cauca, Córdoba und Nariño registriert worden sind. Der Bericht der Ombudsstelle weist darüber hinaus 33 Attentate, fünf Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen und 500 Drohungen gegen AnführerInnen sozialer Organisationen nach. Laut des Berichts von Somos Defensores waren 86 Prozent der Getöteten Männer und 14 Prozent Frauen. Bezüglich der Frauen stellt der Bericht der Ombudsstelle fest, dass «die Angriffe gegen sie eine besondere Schwere aufweisen, da sie zusätzlich dazu dienen, die Frauen zu erniedrigen und ihren Gemeinschaften und Dörfern eine Lektion zu erteilen. Die Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe auf sie, ihre Töchter oder andere Frauen aus ihrem Familienumfeld zielen auf ihre körperliche und psychologische Unversehrtheit, auf ihr Recht auf Intimsphäre und auf ihre Ehre.» In vielen Fällen betrachten die Täter die Körper der Frauen als eine Art Kriegsbeute.
Bereits in der Vergangenheit litten sozialen Bewegungen in Kolumbien unter massiver Kriminalisierung und Verfolgung durch die jeweiligen Regierungen und Guerillagruppen, vor allem aber vonseiten illegaler Paramilitärs und der offiziellen Armee. Mitglieder der staatlichen Streitkräfte genießen ein hohes Maß an Straflosigkeit. In der derzeitigen Lage versuchen sie die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden auszunutzen, um für die von ihnen begangenen Verbrechen nicht belangt zu werden. Mit dem neuen nationalen Polizeigesetz wird dieses Prinzip der Straflosigkeit noch gestärkt und legitimiert. Es schränkt des Weiteren das Recht auf Protest und freie Meinungsäußerung ein und begrenzt die Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung. Zudem ermöglicht es Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl – und das in einem Land, in dem der Staat für seine Verbrechen berüchtigt ist. Die Massenmedien verschlimmern die Situation noch, indem sie Repressionen gegenüber sozialen Bewegungen und die Verweigerung grundlegender Rechte rechtfertigen.
Extraktivismus und ökonomische Megaprojekte
Die derzeitige wirtschaftliche Situation in Kolumbien zeichnet sich durch eine wachsende Konzentration des Reichtums aus. Dieser Trend wird forciert durch extraktive Wirtschaftsformen wie immer weitere Megaprojekte im Energie- und Bergbaubereich, große Bau- und Immobilienvorhaben, die Ausbreitung des Agrobusiness, die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen und den Drogenhandel. Nach dem Fondo de Acción Urgente (2016) handelt es sich beim Extraktivismus um «ein wirtschaftliches und politisches Modell, das auf der ungezügelten Kommerzialisierung und Ausbeutung der Natur basiert». Erfahrungen aus Kolumbien zeigen, dass eine extraktive Wirtschaftsweise der menschlichen Entwicklung entgegensteht und vor allem die Akkumulation von Kapital in den Händen ausländischer Konzerne befördert, deren Geschäftsmodell Landraub und die Vertreibung der lokalen Bevölkerung von ihren Territorien zur Voraussetzung hat.
Parallel zu den Friedensverhandlungen schreitet also die brutale wirtschaftliche Ausbeutung der Naturressourcen des Landes voran. Allerdings ist in vielen Dörfern und Gemeinden auch das Bewusstsein für die Enteignungen und massiven Schäden gewachsen, die die Energie- und Bergbauprojekte vielerorts anrichten. Dadurch sind lokale Organisierungsprozesse in Gang gekommen und ist der Widerstand gestärkt worden. Die Menschen haben gelernt, die gängige Argumentation zu widerlegen, wonach Megaprojekte «Fortschritt» bedeuten und angeblich für alle Vorteile bringen. Viele lokale Initiativen greifen dabei auf juristische Instrumente und Partizipationsmechanismen zurück, die in der Verfassung enthalten sind, vor allem auf Volksbefragungen, mittels derer in mehreren Gemeinden Energie- und Bergbauprojekte gestoppt werden konnten (vgl. hierzu Dietz/Castelos 2017). Laut Angaben des Bergbau- und Energieministeriums führten 2017 insgesamt 44 Gemeinden diese Art von Befragungen durch oder bereiteten solche vor. Davon haben 15 mit der Ausbeutung fossiler Brennstoffe und 26 mit dem Bergbau zu tun).
Um aufzuzeigen, welche Auswirkungen Megaprojekte dieser Art insbesondere auf das Leben von Frauen haben, hilft die Analyse von Silvia Federici (2016). Demnach findet Gewalt gegen Frauen heutzutage nicht nur im häuslichen und im zwischenmenschlichen Bereich statt, sondern es gibt ebenso öffentliche Gewalt, die von Gruppen wie Paramilitärs ausgeht und tief in der extraktivistischen Politik verwurzelt ist. Das Ziel besteht vielerorts darin, Bevölkerungsgruppen zu vertreiben und lokale Gemeinschaften zu schwächen, wofür insbesondere die Frauen terrorisiert werden, weil diese für die Organisierung und den Aufbau von Widerstand entscheidend sind. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird deutlich, wie sehr dieses gefräßige Wirtschaftsmodell auf der Kontrolle von Frauen und deren Körpern beruht. Inzwischen können sich viele Frauen nicht mehr frei in ihren Territorien bewegen, weil sie sexuelle Übergriffe befürchten müssen. Im Rahmen von Megaprojekten nimmt vielerorts das Ausmaß an Prostitution, Sklaverei und sexueller Ausbeutung von jungen Frauen zu, ausgehend von Männern, die auf den Baustellen und für die meist internationalen (Minen-)Unternehmen arbeiten.
Angesichts der beschriebenen Umstände ist es von besonderer Dringlichkeit, den Widerstand und die Kämpfe der Frauen in ihren Territorien mehr Beachtung zu schenken und diese tatkräftig zu unterstützen. Für uns Frauen, die in den städtischen Regionen leben und kämpfen, bedeutet dies auch, die besondere Verbindung anzuerkennen, die indigene Völker und Frauen auf dem Land zur Erde und Natur als den Grundlagen ihres Lebens haben.
Der Drogenhandel
Die kolumbianische Wirtschaft ist außerdem schon seit Langem sehr stark vom Drogenhandel sowie dessen spezifischen Dynamiken geprägt, die sich in mancher Hinsicht von denen in anderen Ländern unterscheiden. Der vier Jahrzehnte anhaltende Aufschwung des Drogenhandels hat unter anderem zu einer Zuspitzung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten beigetragen. Er harmonisiert darüber hinaus recht gut mit dem Neoliberalismus und sorgt für Korruption und Kollaboration in staatlichen und politischen Institutionen. Vor allem war der Drogenhandel ein wichtiger Motor des bewaffneten Konfliktes, weil sich viele paramilitärische Gruppen damit finanzieren. Er fördert ein auf Gier, Prahlerei und Individualismus setzendes Konsumverhalten, sexuelle Versklavung, die Ausweitung des Frauen- und Kinderhandels sowie die Fetischisierung des weiblichen Körpers. Vor allem aber weitet der Drogenhandel die Gewalt aus, von der insbesondere arme Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Zudem benutzen US-Regierungen den Drogenhandel seit den 1970er Jahren, um ihre politischen und militärischen Interventionen in Kolumbien zu rechtfertigen.
Auch wenn die lange Zeit führenden Drogenkartelle in den vergangenen Jahren zerschlagen wurden, bestehen kleine Kartelle fort, die in den Stadtvierteln verankert sind. Von ihnen profitieren weiterhin die großen Drogenhändler und ihre internationalen Partner. Das Leben derjenigen, die unfreiwillig mit dem Drogenhandel zu tun haben, hat sich keineswegs verbessert. Vielmehr haben die kriegerischen Auseinandersetzungen auf der lokalen Ebene, die Kriminalisierung der Bevölkerung in diesen Vierteln und die Morde an Jugendlichen zugenommen. Der Drogenhandel hat sich nicht nur ausgeweitet und lokale Schwerpunkte herausgebildet, sondern sich auch institutionalisiert. Die Kultur des Drogenhandels hat den Machismo verstärkt. Als Folge verbreitet sich eine frauenverachtende Semiotik, die die Körper und das Leben von Frauen wie eine Ware betrachtet, die man besitzen und über die man verfügen kann. Auch der Bedeutungszuwachs der plastischen Chirurgie im Land hängt eng mit dem Aufschwung des Drogenhandels zusammen: Der weibliche Körper wird immer mehr den Vorstellungen der Drogenbosse und des Marktes anpasst. In anderen Worten: «Der Drogenhändler gibt einen Frauenkörper in Auftrag», den er misshandelt, sexueller und physischer Gewalt aussetzt, foltert, verschwinden lässt und tötet. Die Gesellschaft rechtfertigt die Gewalt gegenüber den Frauen, die sich in dieses Ausbeutungssystem begeben, während sie die sozioökonomischen Faktoren, welche sie hierzu zwingen, ignoriert und unsichtbar macht.
Juristische Erfolge
In den vergangenen Jahren haben wir kolumbianischen Frauen dennoch einige bedeutende Erfolge auf juristischer Ebene erzielt, auch wenn einige Institutionen wie zum Beispiel die Kirche versuchen, die erreichten Fortschritte zu behindern.
Im Jahr 2006 legte das Verfassungsgericht in einem Grundsatzurteil (Urteil C-335) die Bedingungen fest, unter denen ein Schwangerschaftsabbruch in Kolumbien straffrei ist: erstens, wenn das Leben oder die Gesundheit der Frau in Gefahr sind, zweitens, wenn schwere Missbildungen des Fötus vorliegen oder drittens, wenn die Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung beziehungsweise auf Inzest zurückgeht. Auch wenn eine vollständige Entkriminalisierung nicht erreicht werden konnte, stellte dieses Urteil einen immensen Fortschritt dar, wenn man den starken Konservatismus in der kolumbianischen Gesellschaft sowie den wachsenden Einfluss der evangelikalen und katholischen Kirchen auf die nationale Politik bedenkt.
Doch bei der Umsetzung des Urteils gibt es zahlreiche Hindernisse, da die Gesellschaftsgruppen, die gegen die Ausweitung von Frauenrechten sind, zunehmend mächtiger werden und darauf drängen, die Möglichkeiten eines legalen Schwangerschaftsabbruchs einzuschränken. Zudem bringen kulturelle Vorbehalte sowie verwaltungstechnische Probleme in den Gesundheitszentren genauso wie Gesetzeslücken die Frauen weiterhin in Zwangssituationen, in denen sie sich oftmals für unsichere und lebensbedrohliche Abtreibungsmethoden entscheiden. Ihnen drohen zudem demütigende Strafen.
Auch wenn die hohe Zahl von ungewollten Schwangerschaften unter jungen Frauen weiterhin ein großes Problem in Kolumbien darstellt, zeigen Zahlen des Statistikinstituts DANE von 2017, dass «landesweit die Zahl der Schwangerschaften unter Jugendlichen von einem Höchststand von 167.422 im Jahr 2008 um 20 Prozent auf 134.454 Fälle 2016 zurückgegangen ist (López 2017). Diese Zahlen legen nahe, dass sich das Urteil von 2006 trotz der genannten Probleme positiv ausgewirkt hat. Auch wenn wir noch erforschen müssen, welche anderen Faktoren auschlaggebend für diese Entwicklung waren, stützen diese Zahlen die Argumente zugunsten einer völligen Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, in Verbindung mit einer öffentlichen Politik zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung und der reproduktiven Gesundheit, die Frauen respektiert und schützt.
Ein weiterer Erfolg der Organisierungsbemühungen von Frauen ist die Verabschiedung des Gesetzes 1257, das «Maßnahmen zur Sensibilisierung, Prävention und Bestrafung verschiedener Formen von Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen» vorsieht. Dieses Gesetz unterscheidet zwischen vier Kategorien von Gewalt gegen Frauen: psychologische, physische, sexuelle und ökonomische Gewalt. Unberücksichtigt bleiben allerdings andere Formen wie zum Beispiel Gewalt im geburtsmedizinischen Bereich, symbolische oder institutionelle Gewalt, die in anderen Ländern wie Venezuela bereits gesetzlich anerkannt sind.[7]
Obwohl es bereits 2008 verabschiedet wurde, hatte das Gesetz noch keine spürbaren Auswirkungen in der Praxis. Laut Daten des Nationalen Instituts für Rechtsmedizin wurden bis Juni 2017 20.701 Fälle innerfamiliärer Gewalt gegen Frauen, 2.601 Fälle innerfamiliärer Gewalt gegen Mädchen und 20.858 Fälle gemeldet, bei denen Frauen von ihrem Partner misshandelt wurden. In 11.039 Fällen von sexueller Gewalt wurden rechtsmedizinische Untersuchungen durchgeführt. Diese Zahlen sind allerdings unvollständig, da viele Vorfälle gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden. Eine unserer Forderungen lautet daher, das Gesetz zu ergänzen, indem weitere Formen von Gewalt, unter denen Frauen leiden, aufgenommen werden und es ständig aktualisiert wird. Vor allem aber müssen die versprochenen Präventions- und Schutzmaßnahmen endlich umgesetzt und der Zugang von Frauen zu Polizei und Justiz erleichtert werden.
Das Gesetz 1761, das 2015 verabschiedet wurde, wird auch Gesetz Rosa Elvira Cely genannt. Der Name bezieht sich auf das Opfer eines der grausamsten Verbrechen an Frauen, über das die Medien in den vergangenen Jahren berichtet haben. Es geschah am 24. Mai 2012. Das Gesetz geht auf den Kampf von Rosa Elviras Familie zurück, den sie gemeinsam mit unterstützenden Organisationen nach der Tat geführt hat. Sie übten Druck aus, um Feminizid als ein eigenständiges Delikt im Strafgesetzbuch des Landes zu etablieren und damit entsprechende Ermittlungen und Strafen in Fällen von extremer Gewalt gegen Frauen und Mädchen aus geschlechtsspezifischen Gründen sicherzustellen.
Obwohl der Feminizid an Rosa Elvira Cely das Thema Hassverbrechen gegen Frauen in die öffentliche Debatte brachte und Frauenorganisationen mobilisierte, wurde bisher nur wenig dafür getan, um diese tatsächlich zurückzudrängen. Auf kultureller Ebene wurde ebenfalls wenig erreicht, da in der Regel in öffentlichen Diskussionen das Opfer immer noch für (mit-)schuldig erklärt wird und in vielen Fällen die institutionelle Unterstützung für die Frauen unzureichend bleibt und eher reviktimisierend wirkt. Umso wichtiger ist es, sich weiterhin dafür einzusetzen, dass Fälle von Feminizid nicht straflos bleiben und das Justizsystem gegenüber den spezifischen Bedürfnissen von Frauen sensibler wird. Das Gesetz 1761 sieht Gefängnisstrafen zwischen 20 und 41 Jahren vor, bei minderjährigen Opfern sind bis zu 50 Jahren möglich, bei körperlich oder geistig eingeschränkten Opfern bis zu 60 Jahre (Ordoñez 2017).
Es gibt viele Fälle von Feminiziden auf nationaler Ebene und vor allem in den ländlichen Regionen, die bisher nicht als solche erfasst sind. In vielen der rechtsmedizinischen Berichte tauchen die Kategorien Feminizid oder geschlechtsspezifische Gewalt gar nicht auf, sondern dort ist lediglich von häuslicher und innerfamiliärer Gewalt oder von Mord die Rede.
Für uns Frauenorganisationen besteht die Herausforderung in der Sichtbarmachung von Feminiziden, in der gesellschaftlichen Sensibilisierung gegenüber den kulturellen Ursachen, die dieser extremen Gewalt zugrunde liegen, sowie in der rechtlichen Durchsetzung und Stärkung von Präventionsmaßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen.
Schlussfolgerungen
Wir wollen in einer Gesellschaft leben, die frei von Gewalt ist und in der anerkannt ist, dass wir als Frauen die gleichen Rechte wie Männer besitzen. Auf dem Weg dorthin stellen sich uns kolumbianischen Frauen jedoch viele Hindernisse entgegen. Wir leisten Widerstand gegen die Mechanismen und Kräfte, die intensiv daran arbeiten, unser Selbstwertgefühl zu verletzen, damit wir davon absehen, Forderungen zu stellen und unsere Rechte zu verteidigen. Das, was derzeit die Anerkennung und Wahrnehmung unserer Rechte von staatlicher Seite blockiert, ist die zu langsame Implementierung der vorhandenen Gesetzgebung und die fehlende Entschlossenheit der zuständigen Institutionen. Hinzu kommt eine ausgeprägt konservative Kultur, die die kolumbianische Gesellschaft auszeichnet und für eine Aufrechterhaltung von Stereotypen gegenüber Frauen sorgt. Weitere wichtige Faktoren, die sich negativ auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen auswirken, sind der Drogenhandel, die Hegemonie der kommerziellen Massenmedien sowie der wachsende Einfluss rechter Parteien und evangelikaler Kirchengemeinden.
Wir sind angetreten, um von unseren Territorien, unserer konkreten Lebensrealität und unseren gemeinschaftlichen Projekten aus den Frieden in Kolumbien aufzubauen, der für uns mehr ist als ein Pakt zwischen Kriegern und das Schweigen der Gewehre. Wir befinden uns inmitten dieses Aufbaus und treten in Dialog miteinander, um die Überlegungen und Vorschläge anderer Organisationen und Teile der Frauenbewegung in Kolumbien zu verstehen und uns zu eigen zu machen.
Rocío Claros ist Feministin und bei Pañuelos en Rebeldía in Argentinien und Red popular de Mujeres de la Sabana in Kolumbien aktiv.
Gekürzte Fassung der Einleitung des Buches «Diálogos, reflexiones y desafíos en Colombia. Hacia un feminismo popular»(2017) . Download als PDF.
Übersetzung: Tobias Lambert
Redaktion: Börries Nehe
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Redaktion: Börries Nehe
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Literatur
- Dietz, Kristina/Castelos, Carla Noever (2017): Gemeinden stemmen sich gegen «Bergbaulokomotive». In Kolumbien wehren sich immer mehr Menschen in lokalen Volksabstimmungen gegen Bergbau in ihren Gemeinden, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 13/2017, Berlin.
- Federici, Silvia (2016). Acumulación originaria y violencia contra las mujeres (Interview), 3.6.2016
- Fondo de Acción Urgente (2016): Extractivismo en América Latina. Impacto en la vida de las mujeres y propuestas de defensa del territorio, FAU – AL Fondo Acción Urgente, Bogotá
- López R.M.T. (2017): Embarazo adolescente en mínimos históricos durante 2016 en Colombia, in: El Fichero, 19.4.2017
- Ordoñez, Martha (2017): La ley Rosa Elvira Cely. Leyes contra el Feminicidio, in: En diario El Tiempo, 8.7.2017
- Portal Colombia Plural (2017): Los 115 conflictos que olvidó el posconflicto, 30.1.2017
- Secretariado Nacional de Pastoral Social de la Conferencia Episcopal de Colombia/Corporación de Apoyo a Comunidades Populares CODACOP/Catholic Agency For Overseas Development
- CAFOD (2017): Realidades y perspectivas de las mujeres frente a la minería y el extractivismo en Colombia. Voces de mujeres indígenas, campesinas y de sectores urbano-populares, Bogotá
[1] Magda Alberto arbeitet in der Organisation Mujeres por la Paz und wurde von der Autorin für diesen Beitrag interviewt.
[2] María Eugenia Ramírez arbeitet am Instituto Latinoamericano para una Sociedad y un Derecho Alternativos (Lateinamerikanisches Institut für eine alternative Gesellschaft und ein alternatives Rechtssystem). Sie war sehr aktiv bei der Etablierung der Mesa de Mujer y Conflicto Armado (Runder Tisch der Frauen zur Lösung des bewaffneten Konflikts).
[3] Die Parole «Ideologia de genero» ist in Lateinamerika ein ähnlicher Kampfbegriff wie «Genderwahn» im deutschen Sprachraum.
[4] Nach der Ablehnung des Friedensabkommens durch das Referendum einigten sich die Regierung und die FARC-Guerilla im November 2016 auf eine leicht veränderte Fassung, die anschließend vom kolumbianischen Parlament ohne erneute Volksbefragung verabschiedet wurde.
[5] Dabei handelt es um ein Richtergremium, das sich nur mit Verbrechen befassen soll, die im Verlauf des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts begangen wurden (Anm. d. Red.).
[6] Der Begriff «territorialer Frieden» bezieht sich auf alle Ansätze und Maßnahmen, mit denen die diversen Gewaltrealitäten und -erfahrungen in den verschiedenen Landesteilen berücksichtigt werden sollen (Anm. d. Red.).
[7] In Venezuela sind im «Organischen Gesetz über das Recht der Frauen auf ein Leben frei von Gewalt» 21 Arten von Gewalt gegen Frauen festgehalten.
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