Union bagatellisiert die Koalitionskrise, während der Druck auf den obersten Verfassungsschützer steigt
Die zwei Verdächtigen, gegen die wegen des Tötungsdelikts an einem 35-Jährigen in Chemnitz ermittelt wird, fordern ihre Freilassung aus der Untersuchungshaft. Anträge auf Haftprüfung sind gestellt, Haftprüfungstermine für kommende Woche anberaumt. Strafverteidiger Ulrich Dost-Roxin, Anwalt eines 22 Jahre alten Beschuldigten, erklärte, dass sich ein Tatverdacht gegen seinen Mandaten nicht belegen lasse. Der Mann bestreite, an der tödlichen Attacke beteiligt gewesen zu sein. Er habe einige Meter abseits gestanden.
Während sich der verdächtigte junge Mann um den Fortgang der Dinge sorgt, ahnt er wohl gar nicht, dass er vielleicht Auslöser sein könnte für den nahenden Sturz der deutschen Bundesregierung. Ob schuldig oder nicht - die Ereignisse, an denen er auf die eine oder andere Weise in Chemnitz beteiligt war, wurden zum Anlass für Proteste, Ausschreitungen, rechte Übergriffe samt die daraus erwachsene politische Debatte. An ihrem Ende steht nun die Frage, ob und wie es weitergehen soll mit der Großen Koalition.
Die Koalitionäre zumindest auf Seiten der Union versuchen nach Kräften, die Lage zu verklären. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht keine Gefahr für den Fortbestand des Regierungsbündnisses. »So wichtig die Position des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist, so klar ist auch, dass die Koalition an der Frage eines Präsidenten einer nachgeordneten Behörde nicht zerbrechen wird«, sagte die Kanzlerin am Rande ihrer Gespräche in Vilnius. Auch Horst Seehofer hatte am Morgen abgewiegelt. In einem Interview der Nachrichtenagentur dpa verwies der Bundesinnenminister und CSU-Chef auf eine »ganz, ganz gute Zusammenarbeit, fragen Sie mal Justizministerin Barley, Arbeitsminister Heil, oder Finanzminister Scholz. Es läuft - störungsfrei.« Andere Unionspolitiker wie der CDU-Innenexperte Philipp Amthor stellten sich beflissen hinter Maaßen und damit hinter den Innenminister, der dem Verfassungsschutzchef sein Vertrauen ausgesprochen hatte. Amthor sagte im Deutschlandfunk, die Debatte sei überzogen, die SPD verfolge mit der Polarisierung ein politisches Kalkül. Die Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Andrea Lindholz (CSU), appellierte an die SPD, von ihren Rücktrittsforderungen abzurücken.
Die blieb am Freitag jedoch bei ihrer Forderung nach einer Absetzung Maaßens. Auch nach dem Krisentreffen der Koalitionsspitzen vom Vorabend, das sich ohne greifbare Ergebnisse auf Dienstag vertagt hatte, pochen führende SPD-Politiker weiter auf Maaßens Abgang. »Wir halten ihn für untragbar«, sagte Niedersachsens SPD-Chef und Ministerpräsident Stephan Weil der »Neuen Osnabrücker Zeitung« und der »Nordwest-Zeitung«. Juso-Chef Kevin Kühnert warf Merkel vor, Maaßen indirekt durch ihr Schweigen zu decken. SPD-Vizefraktionsvorsitzende Eva Högl immerhin ließ sich im Hessischen Rundfunk schon einmal friedensstiftend vernehmen. Der Streit sei aus ihrer Sicht kein Grund für die SPD, die Koalition zu verlassen.
Doch der Druck auf den Verfassungsschutzchef steigt in dem Maße, wie Regierungspolitiker um Entspannung bemüht sind. Neben neuen Vorwürfen, Maaßen habe im Fall Anis Amri die Unwahrheit gesagt (Bericht oben), geht es um einen juristischen Streit zwischen einem »Bild«-Journalisten und dem Bundesamt für Verfassungsschutz über die Herausgabe von Akten über den SS-Verbrecher Alois Brunner. Nachdem das Bundesamt von einem Gericht zur Herausgabe verurteilt wurde, soll Maaßen dies weiter zu verhindern versuchen. So habe er nicht nur Revision gegen das Urteil vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eingelegt, sondern gedroht, im Falle einer Niederlage dafür zu sorgen, dass das Bundesarchivgesetz geändert werde, wurde berichtet. Dies grenzte, wenn es zuträfe und auf Maaßens Verbindungen zum Bundesinnenminister anspielte, an Amtsanmaßung und zeugte zumindest von mangelndem Respekt gegenüber der Justiz. Der Gegenstand des Streits, SS-Mann Brunner, der den Massenmord an Juden mitplante und -organisierte, lässt im Kontext der Debatten über eine fragwürdige Nähe des Verfassungsschutzes zur rechten Szene naturgemäß alle Alarmsirenen schrillen.
Ob die SPD im Fall Maaßen hart bleibt, wird sich möglicherweise schon bis zum Deisntag zeigen, wenn das nächste Krisentreffen angesetzt ist. Die Parteivorsitzenden der LINKEN, Katja Kipping und Bernd Riexinger, stichelten schon einmal, dass die SPD ihre derzeit an den Tag gelegte Entschlossenheit gern auch zu sozialen Fragen an den Tag legen könne. »Die SPD droht wegen einer Personalfrage damit, die Regierung platzen zu lassen - und nicht etwa, weil die Union zukunftsfeste Renten verhindert und beim sozialen Wohnungsbau auf der Bremse steht«, so Riexinger. Dennoch ist es die Union, die einer neuen Umfrage zufolge an Zustimmung verliert. Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, käme sie nur noch auf 30 Prozent. Die SPD legte im Vergleich zum vorherigen »Politbarometer« immerhin zwei Punkte auf 20 Prozent zu. Mit Agenturen
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