Samstag, 15. September 2018

Brasilien: Präsidentschaftsfavorit aus dem Gefängnis

Am 7. Oktober 2018 wählen die Brasilianer*innen das Parlament und ihren neuen Präsidenten und die meisten Kandidat*innen haben dieser Tage den Wahlkampf eröffnet. Nur beim Favoriten in allen Umfragen - Luiz Inácio «Lula» da Silva von der Arbeiterpartei «Partido dos Trabalhadores» (PT) - ist noch unklar, ob sein Name überhaupt auf den Stimmzettel gelangt. Es steht viel auf dem Spiel bei dieser Wahl, denn mit Jair Bolsonaro droht ein faschistoider Kandidat in die auf den 28. Oktober datierte Stichwahl zu kommen.
Die Wahlen finden vor dem Hintergrund einer starken gesellschaftlichen Polarisierung innerhalb einer profunden politischen Krise statt. Auch der Wirtschaft geht es nicht gut; bürgerliche Ökonom*innen wiederholen allerdings gerne, dass die Situation angesichts der politischen Instabilität weitaus größer sein könnte. Doch auch wenn die brasilianische Wirtschaft nach zwei Jahren Rezession wieder ein kleines Bruttoinlandsprodukt-Wachstum aufweist, sind die Auswirkungen der Krise und der Zerstörung der Hilfsprogramme durch die von Temer geleitete Putschregierung auf die 20 Millionen Brasilianer*innen, die während der PT-Regierung aus der Armut geholt wurden, fatal. Diese wieder aufflammende Prekarität ist nicht zuletzt in den großen Städten sichtbar: In den Stadtzentren gibt es immer mehr Camps von Obdachlosen, Häuser werden besetzt, Straßenverkäufer*innen mit ärmlicher Auslage prägen zunehmend das Stadtbild. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent.
Nun ist die wirtschaftliche Misere nicht nur Folge des Putsches aus dem Jahr 2016, auch vorher war die strukturalistische Wirtschaftspolitik der PT-Regierung mit dem Abflauen des Booms in China an ihre Grenzen geraten.
Aufstieg und Krise der PT
Und dabei wurden zunächst so große Hoffnungen auf die PT-geführte Regierung gesetzt. In Lateinamerika leitete Lulas Wahlsieg 2002 den sogenannten Linksschwenk in Lateinamerika ein.
Die PT wurde 1980 als Projekt einer neuen Linken gegründet. Diese sollte offener sein als die alte kommunistische Partei, in ihren Statuten sind bis heute weitgehende Partizipationsrechte der Mitgliedschaft verankert. Im Kern bleibt sie in Programm und Praxis aber eine sozialdemokratische Partei.
Lulas erste Präsidentschaftskandidatur scheiterte 1989, damals noch mit einem klaren linken Profil und stark proletarischem Gestus. Gegen den Aufschrei der Rechten und Massenmedien, dass ein Sozialist das Land führen könnte, konnte er sich nicht durchsetzen.
In den darauffolgenden Jahren änderte Lula sein Image. Er trat in Anzug mit Krawatte auf und kandidierte 2002 gemeinsam mit einem rechten Unternehmer als Vizepräsidenten. Der PT-Politiker versuchte sich als Versöhner und träumte von einer Allianz mit der Rechten, die am Anfang auch zu funktionieren schien. Er regierte 2003 – 2011 als Präsident. Da die Verfassung eine weitere Kandidatur verbietet, erkor er 2010 seine Kabinettschefin Dilma Rousseff zu seiner Nachfolgerin.
Diese gewann die Wahlen 2010 und 2014 bei abnehmender Popularität und musste mit einer schrumpfenden PT-Fraktion und einem rechts dominierten Parlament regieren. Doch damit nicht genug: Ihr rechter Vizepräsident Temer wechselte die Seiten und stürzte die Präsidentin 2016 über ein Amtsenthebungsverfahren des Parlaments. De facto handelte es sich um einen kalten Putsch.
Machtbeweis der US-Hegemonie?
Auch wenn die US-Regierung sich gern in interne Angelegenheiten der Staaten Lateinamerikas einmischt und gewiss in vielen Fragen konträre Interessen zur PT-Regierung hatte, reicht das als Erklärung nicht aus. Denn zum einen hat die brasilianische Oberschicht den relativen Aufschwung eines Teils der Unter- und Mittelschicht nicht überwunden. Die Tatsache, dass an den Universtäten mit einem Mal viel mehr Afrobrasilianer*innen studierten und im Ferienflieger Menschen aus dem «einfachen Volk» Platz nahmen, provozierte die tief rassistische und im Klassendünkel verhaftete Oberschicht.
Die PT hat aber auch vieles falsch gemacht. Nicht nur in Form ihres realpolitischen Ansatzes, der in vielen Fällen einer neoliberalen Logik folgte und auf die brutale Ausbeutung natürlicher Ressourcen setzte und auf eine konsequente Landreform verzichtete. Sondern auch aufgrund ihres zunehmend elitären Umgangs mit der Bevölkerung: Bis heute dominiert die Partei das linke Spektrum, aber aus dem anspruchsvollen Projekt, das von der Basis her aufgebaut worden war, in der die Community und auch die Befreiungstheologie mit ihrem basisbezogenen Bildungsansatz der «educação popular» eine wichtige Rolle spielten, wurde im Laufe der Zeit eine Top-Down-Wahlmaschine mit immer weniger Raum für Selbstorganisation, politischer Bildung und Praxis an der Basis.
Rache der Rechten
Die Parteiführung wurde arrogant und war unfähig, etwa mit neuen urbanen sozialen Bewegungen in den Dialog zu treten. So gelang es der Rechten hier mit ihrem Diskurs zu punkten. Auch wenn die PT nicht jede Unterstützung verlor – die mächtige Landlosenbewegung «Movimento dos trabalhadores rurais sem terra» (MST) und viele andere halten weiterhin zu ihr – trug dieser Kontaktverlust zur Basis maßgeblich zur Schwächung des Projekts und der Partei als Ganzes bei.
Im August 2016 übernahm Michel Temer dann die Amtsgeschäfte und dreht seither die Uhren in Brasilien zurück, indem er eine soziale Errungenschaft nach der anderen abschafft. Dafür hat er in der Bevölkerung keine Basis und die Zustimmungswerte für den «Putsch-Präsidenten» gehen selten über ein Prozent hinaus.
Seit April sitzt Lula nun im Gefängnis in Curitiba und ist damit letztendlich einer Antikorruptionsgesetzgebung zum Opfer gefallen, die er selbst eingebracht hatte. Aber auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass das Verfahren gegen Lula politisch motiviert ist und die Justiz zweierlei Maß anlegt, wenn es um linke und rechte Angeklagte geht, hat es die Linke bisher verpasst, eine glaubwürdige Politik zum Thema Korruption zu vertreten.
Augen zu bei Korruption
Die in Brasilien allgegenwärtige Korruption beherrscht den Politikbetrieb in besonderem Maße. Auch wenn es glaubwürdig erscheinen mag, dass die Gründerväter der PT das anders machten und auch Lula sich persönlich vermutlich nicht bereichert hat, ändert dies nichts daran, dass sie in ihrer Regierungszeit in der Allianz mit einem Teil der Rechten als Zugeständnis diese Praxis hat durchgehen lassen. Gleichzeitig wurden aus dem Staatssäckel und dem halbstaatlichen Ölunternehmen Petrobras massiv Mittel abgezogen, um den Wahlkampf der PT zu finanzieren und parteinahe Strukturen aufzubauen. Und auch wenn jede Menge gute Dinge finanziert wurden, wie alternative Kultur- und Medienangebote, wurde diese problematische Praxis nicht in Frage gestellt. Und deshalb kann sich heute der rechte evangelikale Präsidentschaftskandidat und langjährige Parlamentsabgeordnete Jair Bolsonaro als Saubermann präsentieren, der er freilich nicht ist.
Im Jahr 2004 spaltete sich die Partei für Freiheit und Sozialismus (PSOL) von der PT ab, nachdem Lula die kritische Senatorin Heloisa Helena und drei weitere Abgeordnete aus der Partei ausgeschlossen hatte, weil sie sich gegen eine Verfassungsänderung ausgesprochen hatten. Die PSOL hat sich seither als sozialistische Alternative zur PT einen Namen gemacht, verfügt in einigen Städten über eine solide Verankerung in sozialen Bewegungen, und stellt mittlerweile zahlreiche Stadtverordnete und auch eine kleine Parlamentsfraktion. Mit Guilherme Boulos konnte sie den Gründer und bekanntesten Vertreter der wichtigen Obdachlosenbewegung MTST als Präsidentschaftskandidaten gewinnen. Unter Linken gilt dieser als der «neue Lula», auch er ist sehr charismatisch, ein talentierter Redner und beliebt. Aber seine Basis ist sehr viel kleiner: Heute kommt die PSOL in Umfragen auf maximal drei Prozent.
Könnte Lula eine Wahl aus dem Gefängnis gewinnen, wenn man ihn ließe? Er führt in allen Wahlumfragen deutlich mit knapp 40 Prozent und wäre auch in der Stichwahl unschlagbar. Noch ist er der von der PT ernannte Präsidentschaftskandidat, doch es ist davon auszugehen, dass das Wahlgericht seinen Namen streichen wird. Dann rückt der Kandidat für das Vizepräsidentenamt nach.
Gefahr von Rechtsaußen
Gleichzeitig baut sich am faschistischen Rand des Parteienspektrums eine gefährliche Bedrohung auf. Der Zweitplatzierte in allen Umfragen ist nämlich der Reservist und Reaktionär Jair Bolsonaro. Der schreibt sich den Kampf gegen Korruption und die Politik der harten Hand auf die Fahne. In der Öffentlichkeit provoziert er mit homophoben, frauenfeindlichen, sexistischen und rassistischen Aussagen, zudem pflegt er beste Verbindungen zu den Kreisen der ehemaligen Militärdiktatur. Das seit 1985 herrschende Tabu, Militärs zu Ministern zu berufen, welches bereits unter Putschpräsident Temer gebrochen wurde, würde sich unter Bolsonaro zweifelsohne ausweiten.
Im Augenblick scheint es zwar, dass sich in der Stichwahl eher keine Mehrheit für Bolsonaro finden würde. Aber am Ende hängt alles davon ab, wer mit in die zweite Runde zieht. Sollte es der profillose Establishment-Politiker Geraldo Alckmin der rechten «Partido da Social Democracia Brasileira» (PSDB) sein, dann könnte Bolsonaro diesen durchaus schlagen. Falls die Unterstützer der Militärdiktatur wieder das Ruder übernehmen sollten, dann drohen linken Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen düstere Zeiten in Brasilien
  
Torge Löding ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

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