Samstag, 21. September 2019

Deutschland – ein Stolperstein (Marc-Thomas Bock)


Ende Juni hielt ich mich zu einer Fortbildung in Bonn-Castell auf. Es herrschte eine unzumutbare Hitze, die Temperaturen lagen bei 37 Grad, im Seminarraum verwirbelten zwei Ventilatoren vergeblich den ganzen Tag die heiße Luft um uns herum. Der Abend versprach nur dann Kühlung, wenn man sich in einen Biergarten an den Rhein begab. Aber da saß man dann wieder, und das hatte ich schon den ganzen Tag getan. Mir kribbelten die Beine, ich musste laufen. In Berlin geht mir dies so ähnlich, meine Frau und ich marschieren dann, wann abends immer möglich, durch den heimatlichen Friedrichshain, des Blutdruckes wegen und so weiter. Also ließ ich das Bier in Bonn stehen, wünschte den anderen Teilnehmern auf den Bänken noch einen schönen Abend und machte mich auf den Weg: Den Rhein am linken Ufer entlang stromaufwärts wandernd, zwischen den Joggern, Flanierern und den Skatern bis zur Kennedybrücke, querte sie und spuckte – alte Angewohnheit – einmal in die strömende Tiefe unter mir. Auf der anderen Rheinseite, nun rechts, lief ich wieder rheinabwärts, durch die Uferauen, direkt in die untergehende Sonne hinein, wo die Luftzüge dann tatsächlich kühler und die Schatten auch schon länger wurden. Ich wollte die Friedrich-Ebert-Brücke überqueren, rechnete mir aus, dass ich schon ungefähr vier, fünf Kilometer zurückgelegt hatte. Da entdeckte ich, gleich hinter einer Kläranlage, einen kleinen Friedhof, einen jüdischen, wie ein Gedenkstein am Weg mich informierte. Ich setzte mich auf eine Bank direkt am Deich, zückte das Handy und rief zu Hause an, den Tag Revue passieren zu lassen, so dies und das. Am Ende meines Gespräches sagte ich dann zu meiner Frau: »Übrigens, ich sitze hier gerade über dem Grab von Frau Sarah Kaufman, gestorben 1928.« Und berichtete ihr von meiner »Entdeckung« am Wegesrand.

Zurück im heimatlichen Berliner Friedrichshain ging mir der kleine Friedhof am Rheinufer nicht mehr aus dem Kopf. Wie friedlich er dort so gelegen hatte, im schon kitschig anmutenden Abendrot. Bei unseren abendlichen Gesundheitsmärschen kommen meine Frau und ich an den messingschimmernden Stolpersteinen in der Samariterstraße, der Rigaer Straße und am Bersarinplatz vorbei, dort, wo unsere jüdischen Nachbarn wohnten, bis sie abgeholt und in den Tod geschickt wurden. Beim Surfen im Internet war ich Anfang des Jahres zufällig auf die private Website einer Frau gestoßen, die sämtliche Deportationsopfer in Friedrichshain mit Straße und Hausnummer aufgelistet hatte. So lernte ich, dass die Stolpersteine in meinem Kiez nur an einen Bruchteil der Opfer erinnern und dass in dem RFT-Laden meiner Straße, zu dem ich in DDR-Zeiten immer mein defektes Kassettendeck brachte, in der Nr. 41, von 1916 bis 1938 Meyer Margulis, ein ostjüdischer Einzelhändler, die Einwohner des Schlachthofviertels mit frischen Eiern versorgt hatte. Und dass eine Frau Dr. Lewinsohn in der Nr. 10 bis 1933 in ihrer Sexualberatungsstelle für die Proletarierinnen des Zentralviehhofes tätig gewesen war. Für diese beiden und die vielen Ungenannten gibt es noch keine Stolpersteine. Und kann es wohl auch nicht geben, denn derartig viele Stolpersteine für die verschleppten Nachbarn, für solche auch, die sich in den Jahren des Naziterrors in ihren Wohnungen das Leben nahmen (in Berlin schätzungsweise allein 1800 Menschen), würden wohl auch unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich ziehen, wir würden nicht mehr innehalten, weil sie in ihrer unfassbaren Menge eine Verflachung unserer kollektiven Erinnerung bewirkten. Eine ausgewählte Anzahl an Stolpersteinen hingegen kann unser Gedächtnis wachhalten für das, was unseren Mitmenschen, Nachbarn, Arbeitskollegen und deren Familien angetan wurde. In gewisser Weise kann man eine ähnliche Problematik auch auf die Erforschung der Ermordung der europäischen Judenheit übertragen. In zehn bis fünfzehn Jahren wird es weltweit keine jüdischen Überlebenden mehr geben, die von Entrechtung und Massenmord noch persönlich Zeugnis geben könnten. Die Dokumentation und Erforschung im Bereich der Schoah hingegen wird voranschreiten, sie wird Auskunft geben können über Vieles, was bislang noch nicht erfasst wurde. Doch welche Hilfestellungen für die Gegenwart, für unsere Zukunft können aus historischen Quellenlagen gezogen werden, wenn es gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus oder Xenophobien jeglicher Art zu argumentieren gilt? Ganz ehrlich? Ich glaube, gar keine.

Ich habe deutschen Antisemitismus bis heute rational nie verstehen können, und irrational finde ich auch keinen Weg zu ihm. Rational gesehen ist klar, dass sich Deutschland vor achtzig Jahren nicht nur des größten und ersten industriell durchgeführten Massenmordes der Geschichte schuldig gemacht hat. Klar ist aber auch, dass das damalige »Dritte Reich« uns als die Nachgeborenen und die gesamte Welt durch das singuläre Ausmaß an Diskriminierung und Tötung seiner eigenen, später der europäischen jüdischen Bevölkerung, geistig und seelisch bis heute unwiderruflich amputiert hat. Und dass nationalsozialistische Ideologie und faschistisch-autoritätsgläubige Grundhaltungen allen anderen auch Tod und Vernichtung brachten, sei es nun in Stalingrad, sei es unterm Fallbeil in Plötzensee, mit der Phenolspritze der Euthanasie, in den Luftschutz-kellern des Bombenhagels. So gesehen ist ganz Deutschland ein einziger Stolperstein. Aber: Nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer – so hieß es seit 1945, und so ist es auch. Dass rechter Nationalismus und Hass, auf wen auch immer – Juden, Liberale, Kommunisten, Frauen, Homosexuelle, Polen, Russen und nicht zuletzt auch auf sich selbst – zumindest die deutsche Nation territorial, kulturell und moralisch in den letzten einhundert Jahren zweimal fast gänzlich vernichtet hat, müsste doch auch dem letzten AfD-Wähler klar sein. Ist es aber nicht. Denn das Refugium des gegenwärtigen Hasses ist und bleibt das Irrationale. Aber auch ein Philosemitismus, wie er als intellektuelles Vehikel vielen heutigen Bildungsbürgern als Ausweis ihrer moralischen Integrität daherkommt, ist leider nicht glaubwürdig, wenn man gleichzeitig Ressentiments gegen Moslems, Roma, sozial Schwache oder »Bildungsferne« erkennen lässt. Will man sich selber heute, da sich immer mehr Deutsche einmal wieder offen als faschismusaffin, antisemitisch und antidemokratisch zu erkennen geben, als Humanist verstehen, dann geht das überhaupt nur noch mit bestimmten, universellen Prämissen, die da lauten: Man bekommt die Menschheit halt nur im Paket. Alle oder keiner. Wer A sagt, muss auch B sagen. Oder: Wir lassen niemanden zurück. Was uns, die wir verhindern wollen, dass Deutschland in Zeiten des NSU, der AfD, des Angriffes auf Kippaträger, der Mordversuche und Morde an demokratischen Politikern ein drittes Mal an seinen zivilgesellschaftlichen Schwächen scheitert, was uns einig machen muss, sind vor allem zwei Dinge: Haltung und Optimismus. Haltung braucht ein gewisses Maß an Mut und innerer Stärke. Juden- oder Türkenwitze nicht mitzubelächeln. Dem Familienmitglied zu sagen, dass man mit dieser oder jener Meinung zur »Ausländerproblematik« so nicht konform ist. Im Büro nicht zu schweigen, wenn alle anderen sich über Flüchtlingshelfer oder Fridays for Future mokieren, und zu sagen: »Ich sehe das etwas anders. Nur mal so.« Optimismus hingegen ist etwas, das entsteht, wenn man sich die Zeit nimmt, die menschliche Fähigkeit zur humanistischen Selbstheilung zu betrachten. Nachweislich hat sich in den letzten Jahrzehnten auch ein gewaltiges Potential an gesellschaftlicher Basisdemokratie entwickelt, das zur Stelle ist, wenn sich der braune Mob formiert. Ein ermutigendes Sinnbild in Bezug auf das jüdische Deutschland etwa erschloss sich mir kürzlich bei einem Besuch auf Europas größtem jüdischen Friedhof, dem in Berlin-Weißensee. Hier liegen über einhunderttausend jüdische Berliner begraben, die meisten von ihnen beerdigt zwischen 1880 und 1940. Und selbstverständlich findet man gleich am Eingang des Friedhofes den Verweis auf den Massenmord. Ergreifender noch sind dann die Hinweise wie »Verschollen im Osten« oder »Verstorben in Auschwitz«. Inzwischen jedoch gibt es auch größere Bestattungsfelder von jüdischen Berlinern mit russischen Wurzeln. Es sind diese Menschen, die uns durch ihre Entscheidung, hier zu leben und zu sterben, Vertrauen schenkten. Und so wird uns der Kampf für eine demokratische, weltoffene Heimat Deutschland hoffentlich so gelingen, wie es auf dem Grabstein des am 14. Dezember 2016 hier begrabenen Dan Lahav vermerkt ist. Dort steht zu lesen: »Er ist nicht an Langeweile gestorben.«

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