“Beverly Silver verwies in ihrer Historiographie der Arbeitsunruhen im 20. Jahrhundert auf die Notwendigkeit, ein systematisiertes Verständnis für die aggregierte Bedeutung lokaler Arbeitskonflikte zu entwickeln, um die Dynamik von historischen Klassenbeziehungen überhaupt zu begreifen: Im Kern geht es ihr dabei nicht zentral um Klassenstrukturen, sondern um die Untersuchung einer stets erneuerten Klassenbildung, dabei verweisend auf eine Interpretation des Marx‘schen (und Polanyi’schen) Werks hin zu einem historischen und relationalen Klassenbegriff. Sie schlägt auf dieser Grundlage einen Begriff der „Arbeitsunruhen“ (labor unrest) vor, der organisierte, dokumentierte kollektive Aktionen von Arbeiter_innen bezeichnet, sei es am Arbeitsplatz, sei es im Rahmen von Arbeiter_innenbewegungen im öffentlichen Raum. Wilde Streiks sind mithin mitten in einem Kräftefeld verortet, das ein sehr breites Spektrum zwischen „unsichtbarer“ alltäglicher Devianz im Arbeitshandeln am einen und (öffentlich) „sichtbaren“ beziehungsweise „medialisierten“ Massenaktionen am anderen Pol beschreibt. Genau dieses Spannungsfeld spielt in der sich seit einigen Jahren, nicht zuletzt im Zuge der Rezeption der Geschichte der „proletarischen“ 1968er entwickelnden historischen Aufarbeitung wilder Streiks eine wichtige Rolle. Die Septemberstreiks – die aktuell ihren 50. Geburtstag feiern – sind dafür eines von mehreren Beispielen. (…) Die Septemberstreiks stehen für eine Erosion einer durch den Staat regulierten, aber autoritären Betriebs- und Arbeitspolitik, von dessen sozial-staatlicher Dimension auch viele Linke noch heute träumen, die aber damals nicht unbegründet als arbeiter_innenfeindlich und als entmündigend galt. Die Streiks markierten den Anfang vom Ende der auch in der SPD zu dieser Zeit durchaus verbreiteten Vorstellung, man könne soziale Konflikte quasi durch eine Verwissenschaftlichung der Politik und ihrer Apparate regulieren. Die Septemberstreiks schlossen an einen transnationalen Zyklus unabhängiger, anderer Arbeiter_innenkämpfe an, an den „Pariser Mai“, an den „heißen Herbst“ in Italien, an zahllose weitere Kämpfe. Sie markierten den Anfang eines Zyklus von Streiks, die das Spektrum der Themen auf den Kampf gegen „Frauenlöhne“ (Pierburg, 1973) oder rassistische Benachteiligung (Ford, 1973) erweiterten.” Beitrag aus der Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts bei Sozial.Geschichte online vom 16. September 2019 – Sozial.Geschichte Online erinnert an die Septemberstreiks mit einem Dossier zu Arbeit und Arbeitskämpfen (folgt)
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