Dienstag, 6. Februar 2018

[Chiapas98] Mitmachen oder sterben (tagesschau.de v. 30.1.18)

Mitmachen oder sterben

30.01.2018 15:54 Uhr
Mexiko erlebt eine beispiellose Gewaltwelle: Mehr als 25.000 Tote gab es 2017. Die meisten der Opfer gehen auf das Konto der organisierten Kriminalität. Die Situation ist gefährlicher denn je.
Von Anne-Katrin Mellmann, ARD-Studio Mexiko
Pablo ist Anfang 20, hat große braune Augen und trägt eine Zahnspange. Er will seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen lieber nicht sagen. Auch wenn er in Mexiko-Stadt weit entfernt von seinem Heimatdorf im Bundesstaat Guerrero lebt, könnte es für seine dort gebliebenen Verwandten gefährlich werden, wenn er über die Mafia berichtet.
Wegen ihr ist Pablo vor einigen Jahren über Nacht weggelaufen: "Ich lief weg, damit sie mich nicht töteten". Zwei seiner Freunde wurden erschossen. Seit einigen Jahren habe die Mafia die Region fest im Griff, erzählt Pablo. Sie stelle eigene Gesetze auf, wer die nicht befolgt, muss zahlen oder wird getötet. Sie erpresst die arme Landbevölkerung, entführt sogar ihr Vieh, verlangt von den Bauern, dass sie Marihuana und Mohn anbauen statt Mais. Staatliche Sicherheitskräfte sehen dabei zu oder kassieren mit.

"Die nehmen dich einfach mit"
Seit der mexikanische Staat den Kartellen im Jahr 2006 den Krieg erklärte und die Armee auf die Straßen schickte, eskaliert die Gewalt. 200.000 Menschen kamen ums Leben, Zehntausende verschwanden spurlos. Wird ein Drogenkartell zerschlagen, entstehen viele neue Banden. 400 sollen es bereits sein. Sie rekrutieren junge Männer oder zwingen sie zur Mitarbeit, auch deshalb könne er nicht mehr in seinem Dorf leben, klagt Pablo. "Die nehmen dich einfach mit, wenn sie Leute brauchen. Sie entführen aus den Dörfern, und wenn jemand versucht abzuhauen, bringen sie seine Familie um. Die werden gezwungen – Jungs - gerade 15 oder 17 Jahre alt", erzählt Pablo.

Kaum ein Weg zurück
Selten gibt es einen Weg zurück, weil sie die schlimmsten Verbrechen begehen müssen. Auch die Armut treibt Jugendliche in das "vida loca" der Banden - schnelles Geld, verrücktes, aber kurzes Leben. Eine halbe Million Mexikaner sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums in der Organisierten Kriminalität. Sie durchdringt das Land wie ein Krebsgeschwür. 2017 war mit mehr als 25.000 Toten das gewalttätigste Jahr bislang. 19.000 der Opfer gingen auf das Konto der Mafias. Das hat die Nichtregierungsorganisation Semaforo Delictivo ermittelt, für die Santiago Roel arbeitet.
"Knete oder Kugel"
"Einen Markt wie den der Drogen kann man nicht mit Waffen bekämpfen, sondern mit wirtschaftlichen Mechanismen. Es gibt drei Möglichkeiten: einen frontalen Krieg, sich dumm stellen und wegschauen - wie es die USA machen - oder Drogenanbau- und Verkauf regulieren und den Händlern und Drogenpolitikern das Geschäft entziehen. Unsere Regierung setzt auf Tod und Zerstörung, statt auf Leben, Geschäft und Wohlstand. Würden wir die Drogen heute regulieren, wäre morgen die Gewalt zu Ende", sagt Roel. Korruption würde es zwar immer noch geben. Die sei aber dann auf geringerem Niveau als jetzt, fügt er hinzu. "Im Moment erleben wir die größtmögliche Gewalt und Korruption. Es geht nach dem Prinzip: Knete oder Kugel", fügt er hinzu.
Besserung nicht in Sicht
Entweder mitmachen und in dem Milliardengeschäft Dollar verdienen oder: Sterben. In diesem Jahr könnte die Gewalt weiter eskalieren, meint Roel, weil im Sommer ein neuer Präsident gewählt wird und die Kräfteverhältnisse der Organisierten Kriminalität deshalb durcheinander geraten. Die Präsidentschaftskandidaten meiden das Thema innere Sicherheit bislang. Der aussichtsreiche Linke Andrés Manuel López Obrador erntete massive Kritik für seine Idee einer Amnestie für Kartellbosse. Einen echten Strategiewechsel schlägt niemand vor - trotz der vielen Toten, Verschwundenen und Flüchtlingen wie Pablo.
https://www.tagesschau.de/ausland/mexiko-453.html
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