Als sich am letzten Maisonntag María de Jesús Patricio
Martínez von ihrem Stuhl erhob, um sich der ungeduldigen
Presse zu stellen, standen ihr bescheidener Gesichtsausdruck
und ihre wenigen unaufgeregten Worte beispielhaft für eine
Politik, die seit über zwei Jahrzehnten Teile der Welt
begeistert und nicht selten auch verstört. Die 53-jährige
Nahua-Indigene und traditionelle Heilerin, liebevoll Marichuy
genannt, gehört seit seiner Gründung dem Nationalen Indigenen
Kongress (CNI) an. Und an diesem Nachmittag im Mai, in einem
überfüllten Auditorium der autonomen Universität
CIDECI-Unitierra im südöstlichen Bundesstaat Chiapas, wurde
sie zur Sprecherin eines eigens gegründeten Indigenen
Regierungsrates (CIG) bestimmt. Sprecherin für die einen,
Kandidatin für die anderen. Denn sowohl die Geburt des CIG als
auch die Bestimmung der parteilosen Marichuy erfolgten im
Rahmen der nächsten mexikanischen Präsidentschaftswahlen im
Juni 2018.
Im Oktober 2016 wurde der CNI 20 Jahre alt. Gegründet wurde
er von der indigenen polit-militärischen Massenorganisation
Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), die mit
ihrem ehemaligen Sprecher Subcomandante Insurgente Marcos,
seit dem bewaffneten Aufstand gegen die mexikanische Regierung
am 1. Januar 1994, weltweit für Begeisterung und Empörung
sorgt. Der CNI versteht sich mit dem Motto Nie wieder ein
Mexiko ohne uns als Vertretung der in ihm
organisierten indigenen Völker, Stämme und Nationen Mexikos
aus fast allen 32 Bundesstaaten des Landes[1]. Mit Marichuy tritt er zum ersten
Mal bei Präsidentschaftswahlen an.
Kritik der Fetischisierung der Politik
Als das neue Vorhaben der EZLN und des CNI im Herbst erstmals
bekannt wurde, reagierte die mexikanische Partei-Linke mit
Kritik (bis hin zu rassistischen Einlassungen): Der CNI sei
nicht nur fehlgeleitet durch die betörende Rhetorik des
Subcommandante Galeano (zuvor Marcos), sondern würde außerdem
das linke Votum spalten und damit der politischen Rechten in
die Hände spielen.
Männlicher Hoffnungsträger der Partei-Linken ist seit ehedem
Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo. Seine persönliche
Geschichte ist zugleich die Geschichte der mexikanischen
Parteilinken. Denn nachdem die Ende der 1980er Jahre
gegründete oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution
(PRD) in den letzten Jahren Stück für Stück ihres progressiven
Inhalts entleert und integraler Bestandteil des restlichen
Establishments wurde – was so viel heißt wie: Korruption,
politische Repression und Verstrickung mit dem Organisierten
Verbrechen – gründete sich 2014 eine neue linke Partei, die
Bewegung der Nationalen Regeneration (MORENA). Ihr
Präsidentschaftskandidat Amlo, war bereits 2006 und 2012
Kandidat für das höchste Staatsamt für die PRD und verlor.
Allerdings gibt es viele Hinweise für Wahlbetrug. Prognosen
deuten auf gute Chancen für Amlo für 2018. Damit stellt die
Linke seit 1994, wenig originell, fast ausschließlich den
gleichen Kandidaten auf.
Ob mit oder ohne Amlo, ist für EZLN und CNI letztlich gleich,
stellen sich aus ihrer Perpektive doch drängendere und
radikalere Fragen. Denn die EZLN sieht einen „Sturm“, der sich
nähert und sechs Bestandteile mit sich bringt:[2]
1.) Eine ökonomische Krise, die sich aus der Unfähigkeit des
kapitalistischen Systems speist, zukünftig für zufrieden
stellende Gewinnraten zu sorgen, baut sich auf;
2.) Die Legitimität in die klassischen staatlichen
Institutionen zerfällt, spürbar in der massiven Wahlenthaltung
auf mexikanischer Landes- und Bundesebene;
3.) Die Korruption im politischen System breitet sich weiter
aus. Berücksichtigt man, wie viele ehemalige Gouverneure oder
Bürgermeister entweder auf ihren Prozess warten oder bereits
in Haft sind (der ehemalige Gouverneur von Veracruz, Javier
Duarte, wurde gar per Interpol-Fahndung gesucht aufgrund
Veruntreuung von Geldern; in seiner sechsjährigen Amtszeit
wurden allein in seinem Bundesstaat fast drei Dutzend
Journalist*innen ermordet);
4.) Die endemische Gewalt und Ereignisse wie das
Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa im
September 2014 werden immer häufiger. Die Gewalt zersetzt das
überkommene gesellschaftliche Gewebe und webt eine neue
Machstruktur in der Staat und organisiertes Verbrechen
miteinander und gegeneinander Verbindungen eingehen;
5.) Der Nationalstaat löst sich zunehmend auf und wichtige
Entscheidungs- und Kontrollmechanismen werden in den privaten
Sektor oder auf supranationale Ebene ausgelagert: das
Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen
(NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko am 1. Januar 1994
war der Beginn für eine Reihe weiterer internationaler
Handelsverträge und von Verfassungsänderungen, die die
Privatisierung breiter Teile des Landes ermöglicht haben (je
nach Statistik wurden derzeit zwischen einem Fünftel und einem
Viertel der Gesamtfläche Mexikos mittels Konzessionen an in-
und (hauptsächlich) ausländische Bergbauunternehmen vergeben);
6.) Der Sturm nähert sich, während die Linke an der
Vorstellung festhält, man könne die Gesellschaft über die
Eroberung der Staatsmacht verändern,[3] obwohl sich der mexikanische Staat
in der gegenwärtigen Konjunktur auf einen korrupten „Apparat
zur Konsolidierung der Hegemonie und Hyper-Mächtigkeit des
Neoliberalismus, also des Kapitalismus unserer Zeit,
reduziert. Damit wird mit neuen Strategien das gleiche Ziel
wie immer verfolgt: die uneingeschränkte Akkumulation mittels
Vertreibung, Ausbeutung und Spekulation“ (GIAP2016).
Das sind keineswegs neue Einsichten. Doch angesichts der
Erfahrungen der Linksregierungen in Lateinamerika und der
Schwierigkeit, sich widerständige konstruktive Politikformen
außerhalb der gegebenen parlamentarischen und anderen
institutionellen Formen vorzustellen, gilt es, sich diese
radikale Staatskritik erneut in Erinnerung zu rufen. Diese
Auffassung über die strukturellen Begrenzungen und der
Fetischisierung staatlicher Politik findet ihre praktische
Konsequenz im politischen Handeln des CNI und der EZLN.
Die EZLN hat es geschafft, sich in den letzten zwei
Jahrzehnten von den Institutionen nicht korrumpieren oder
kooptieren zu lassen (wovon die Radikalität ihres Diskurses
genauso wie die Autonomie ihrer Bezirke zeugen). Sie ist zudem
dazu fähig, eine reale Alternative zu artikulieren, die sich
nicht in der aufgepfropften Entweder-Oder-Logik (Pepsi oder
Coke, Trump oder Hillary) bewegt. Wenn die Lehre aus der
Syriza-Erfahrung diejenige ist, dass internationale
Kreditinstitute sowie supranationale politische Strukturen
mitsamt dem Druck einer dominanten ausländischen Regierung das
kurzzeitig offene Fenster eines gesellschaftlichen Aufbruchs
binnen weniger Monate wieder schließen können; wenn die Lehre
aus dem aktuellen Venezuela diejenige ist, dass korrupte
Parteistrukturen, die eigene politische Unfähigkeit Maduros
sowie eine aggressive Destabilisierungspolitik seitens
internationaler und heimischer Akteure die emanzipatorischen
Fortschritte der letzten 15 Jahre Stück für Stück zerlegen;
wenn die Lehre aus der Regierungsbeteiligung der Grünen in
Deutschland diejenige ist, dass eine aufstrebende Partei
zunehmend von anti-linken Kräften unterwandert und danach
übernommen wird und schlussendlich die minutiöse Entleerung
ihres ursprünglichen progressiven Inhalts betreibt: dann lässt
sich der Gang der Geschichte nicht einfach dadurch verändern,
indem seine Protagonist*innen ausgetauscht werden, weil die
vorherigen plötzlich zu Verräter*innen wurden. Die Crux liegt
an den Dynamiken und Grenzen des Möglichen innerhalb des
Systems – besonders vor dem Hintergrund der konkreten
Situation peripherer Gesellschaften, in denen der Kapitalismus
immer offener gewaltförmig vorgeht, auf Konsens verzichtet,
das politische System korrumpiert ist.
Es scheint, so Sergio Rodríguez Lascano, Direktor der
eingestellten prozapatistischen Zeitschrift Rebeldía, dass
innerhalb der Linken eine Verwirrung bezüglich der Machtfrage
besteht. Ist Macht gleichbedeutend mit einem, zwei, drei
Wahlsiegen? Eine Parlamentsfraktion zu gründen? Ein Fünftel
aller Stimmen zu bekommen? Die Regierung zu übernehmen?
Gedanken, die darauf abzielen, die Staatsbürokratie letzten
Endes zu verwalten, das Kräfteverhältnis zu verändern und den
notwendigen strukturellen Wandel zu vollziehen, hin zu einem
anderen Staat. Ein anderer Staat, der in seiner Vorstellung
dennoch nichts anderes zu sein scheint, als die Wiedergeburt
des Wohlfahrtsstaates, fortschrittlicher vielleicht, der aber
doch eine weitere Affirmation des kapitalistischen Systems
darstellt. Wenn die Denk- und Handlungskategorien der Linken
die gleichen sind wie die bürgerlichen Parteien, und die ganze
Hoffnung auf einer einzigen Person lastet, dann wird
unweigerlich die Idee reproduziert, nach der das Regieren und
die Politik einer kleinen Gruppe von Expert*innen und
Ausgewählten obliegt (vgl. Rodríguez Lascano 2017, 129).
Ein Prinzip der Würde, das die Organisierung und Handlung durchzieht
Vor diesem Hintergrund kann es nun vielleicht widersprüchlich erscheinen, wenn der CNI bei den kommenden Präsidentschaftswahlen mitspielen möchte. Doch für sie sind die Wahlen Anlass und Bühne, nie aber Grund und Ziel. Es ist vielmehr der erneute Versuch, einen landesweiten Organisierungsprozess von unten anzustoßen, welcher dazu befähigt, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu initiieren. Denn neben der diagnostizierten Akkumulationskrise artikuliert sich ebenso eine Krise der Beziehung Befehl-Gehorsam, die das politische System charakterisiert. Und wenn sich jene ausdrückt, beginnt eine Phase der Instabilität und Fragilität der Macht (vgl. ders. 2010, 11).María de Jesús Patricio Martínez ist zwar fortan die Kandidatin des CNI, doch in deren Eigenlogik ist sie nichts weiter als eine Sprecherin, die der Kollektivinstanz CIG zu gehorchen hat, die wiederum den Entscheidungen ihrer Gemeinden, Stadtviertel und dergleichen unterliegt. Letzten Endes dreht es sich nicht um die nach außen sichtbare Person, sondern darum, wie das soziale Verhältnis zwischen Repräsentant*innen und Basis transformiert wird. Und genau das ist die große Erfahrung des zapatistischen Projektes. Mit dieser Politikform wird ein Bruch mit den herrschenden Machtmechanismen angestrebt. Schon einige Jahre zuvor sagte Subcomandante Insurgente Marcos in einem Interview: „Denn eine anders gelagerte Bewegung würde nur die politische Klasse in die Krise stürzen, das System würde dagegen daraus lernen.“( Castellanos, Laura, 2009, 63) In diesem Sinne deutet der italienische Soziologe Alessandro Zagato das aktuelle Vorhaben: „Die CIG agiert als vermittelnde Institution, eine hybride Form zwischen dem Staatsapparat und der Gesellschaft, zwischen Regierung und den organisierten Teilen des ‚Volkes’ im Umfeld des CNI. Dahinter steht eine Konzeption der Dezentralisierung politischer Repräsentation, die die Konzentration von Macht in der Hand einer führenden Person (oder Gruppe) zurückweist.“ (Zagato 2017) Nach außen hin versucht dieser Politikansatz, der viel gemein hat mit einer Ethik des Politischen, seinen Platz inmitten den gesellschaftlich Ausgeschlossenen und Unterdrückten zu suchen, um mit ihnen einen Raum der Artikulation zu schaffen. Die Idee dahinter zielt darauf ab, dass in dem gegenseitigen Zuhören des Schmerzes und der Wut des Anderen ein Effekt der Identifizierung erfolgt, ein Prozess der Bewusstseinswerdung und der darauf folgenden Organisierung anschließt.
Wie dieser Politansatz im Konkreten ausschaut, lässt sich am
Beispiel des Ersten „Treffens der sexuellen
antikapitalistischen Diversität“ sehen, welches Anfang Juli in
dem Dorf Huitziltepec im Bundesstaat Puebla stattfand.
Organisator Filo Zitlalxochitzin, der dem Indigenen
Regierungsrat angehört und nach Eigenangaben dreifach
diskriminiert wird, da er „arm, indigen und schwul“ ist,
erklärte zuvor in einem Interview mir gegenüber die Rolle und
Aufgabe des CIG: „Wir als Ratsmitglieder haben noch viel zu
lernen. Konkret geht es an diesem Punkt um die schwule
sexuelle Diversität. Die große Arbeit, die wir gerade vor uns
haben, ist zuzuhören, voller Respekt. Wie sieht die Einzelne
die Situation? Das ist der erste Schritt, uns kennenzulernen,
zuzuhören. Von dort aus erfolgt der nächste: Was tun wir
zusammen? Wie werden wir es tun?“ In der Abwesenheit der
Arroganz mancher Politiker*innen oder Aktivist*innen, die
glauben zu wissen ohne zu kennen, was die Anderen brauchen,
drückt sich eine Haltung der Achtung und Anerkennung gegenüber
der Vielfalt des Menschen aus.
Zeitgleich übt Filo, der niemals ohne sein bunt besticktes
Halstuch vor seinem Gesicht zu sehen ist, eine harsche Kritik
an bestimmten Aspekten des urbanen homosexuellen Lifestyle –
worin der politische Bruch mit den vorherrschenden Formen zum
Ausdruck kommt. Mit Blick auf den Kampf um die
gleichgeschlechtliche Ehe z.B. formuliert er: „Was passiert
einen Tag nach der Hochzeit? Alles bleibt gleich. Der Krieg
bleibt der gleiche, die Ausbeutung bleibt die gleiche, die
Plünderung bleibt die gleiche. Das schwule Paar muss arbeiten
gehen, um ausgebeutet zu werden. Es muss sich vor der
Kriminalität in Acht nehmen. Das ist eine illusorische
Freiheit. Was ich damit sagen will ist, dass uns aus den
urbanen westlichen Zentren aufgedrängt wird, wie unsere
Freiheit zu sein hat. Das ist es, was wir hinterfragen.“ Bevor
Filo im Jahr 2001 aus Protest all seine amtlichen persönlichen
Dokumente verbrannte, lebte er genau jenen Lebensstil den er
heute kritisiert. In Toronto, London, Frankfurt und Berlin
ging er auf die Gay Paraden, feierte in Diskos, und konnte
sich seine eigene homosexuelle Identität nicht anders
vorstellen. Ein Besuch in Israel und Palästina änderte dies
schlagartig. Er näherte sich der zapatistischen Bewegung an,
dem Nationalen Indigenen Kongress, und war beeindruckt von den
Erzählungen indigener Frauen aus dem heutigen Kanada während
eines amerikaweiten Treffens indigener Völker im Jahr 2007 im
Norden Mexikos, wozu die EZLN einlud: „Es war wundervoll, als
die Frauen aus dem Norden erzählten: ‚Vor Jahrhunderten kamen
die weißen Männer und sagten uns, das Heilige sei da ‚Oben‘.
Und wir glaubten ihnen und schauten nach oben. Derweilen
eigneten sie sich alles an, was es hier ‚unten‘ gab: unseren
Fluss, unseren Wald, unsere Tiere.‘ Also machten diese Frauen
einen verzweifelten Aufruf und sagten: ‚Compañeros, man muss
den Blick nach unten senken. Das Heilige ist nicht dort oben.
Es ist hier. Es ist unser See. Es ist unser Land. Die Natur.
Das ist das Heilige.’“
Hier zeigt sich deutlich, was ich oben als politische Ethik
der zapatistischen Politik bezeichnet habe. Diese speist sich
aus subjektiven Charaktereigenschaften und kollektiven
Handlungen, die unserer eigenen Politik oftmals so fern
scheinen. Güte, Zärtlichkeit, Bescheidenheit, Empathie sind
keine zu verachtenden Wesenszüge; sie sind notwendiger Pfeiler
einer rebellischen Politik, die zum Ziel hat, neue Beziehungen
zwischen den Menschen aufzubauen. Nur wer die Welt und das
menschliche Leid auch spürt, kann einen Zugang zu beiden
aufbauen und entgeht der Gefahr, sich eines Tages dem
Schrecken resignierend hinzugeben oder gar durch das Besteigen
der individuellen Karriereleiter in ihm aufzugehen. In seinem
Roman schrieb Robert Cohen (2009, 341): „Nach einer Weile
sagte er, er glaube, es komme bei der Empörung auf die Dauer
an. Wer die Zustände ändern wolle, bei dem müssten Wut und
Trauer lange anhalten. Darin, dass der Hass auf die
Unterdrücker nicht nachlasse, zeige sich der wahre
Humanismus.“ In diesem Sinne laden die zapatistische Bewegung
sowie der CNI dazu ein, miteinander einen Dialog zu führen,
sich gegenseitig zuzuhören. Denn aus der Sicht der Zapatistas
bedarf es vor allem des Zuhörens: „Und wer nicht versteht, der
richtet, und wer richtet, der verurteilt“, kommentierte
Subcomandante Insurgente Marcos kurz vor seinem symbolisch
inszenierten Tod in seinem Abschiedskommuniqué.[4]
Es gibt keinen Masterplan, lediglich die Überzeugung, dass
die Menschen sich selbst regieren müssen. Die Zapatistas sind
überzeugt, dass angesichts des Sturms oder der Krise es
lediglich Kollektivitäten schaffen werden, die Zeit zu
überstehen – auch wenn sie dafür „keine wissenschaftlichen
Beweise“ haben. Doch 500 Jahre des Überlebens als indigene
Kollektive und 23 Jahre des Widerstands als EZLN haben ihnen
Gewissheit verliehen. Daher auch, und nicht nur deswegen, die
Ablehnung des alten Wohlfahrtsstaates, der durch seine
Sozialprogramme auf individueller Basis lediglich zur
Atomisierung der Menschen beiträgt und kollektive Strukturen
verhindert. Darum wusste auch der großartige Peter Weiss
(2005, 807), als dieser festhielt: „Seitdem die Arbeitenden
ihre Massenpartei zur Regierung gebracht hatten, erreichten
sie nichts mehr durch den Klassenkampf, alles wurde ihnen
jetzt gegeben von oben, von der Partei, vom Staat, und auch
die Niederlagen wurden nicht mehr getragen nach großen,
solidarischen Aktionen, sondern nach fehlgeschlagenen
Verhandlungen oben, im Parlament, oder zwischen
Gewerkschaftsleitung und Arbeitgeberverband.“
Während des eingangs erwähnten Treffens des CNI gab Carlos
González, Teil der Koordination des CNI und seit über zwei
Jahrzehnten in dieser Struktur aktiv, mir gegenüber zu
verstehen, worauf die Beteiligung an der Wahl eigentlich
abzielt: „Um der mexikanischen Gesellschaft eine andere Form,
wie wir uns regieren können, vorzuschlagen. Dass die
kollektiven Prinzipien der indigenen Völker, die auf eine
harmonische Beziehung untereinander und dem Respekt gegenüber
der Natur basieren, die Basis liefern können für eine andere
Regierungsform als die, die der Kapitalismus vorschlägt.“
Heraus aus der Alternativlosigkeit bedeutet, mit den Menschen
in Kontakt zu kommen und gemeinsam etwas Neues entstehen zu
lassen. Denn an sich ist es schon etwas abstrus, oder wie es
der spanische Soziologe César Rendueles (2015, 19)
formulierte: „Wir haben panische Angst vor den Menschenmassen,
weil die einzig uns bekannte Alternative zum liberalen
Individualismus der Absturz in die Megaslums oder in den
Fundamentalismus ist. Als gäbe es nichts zwischen dem
Unternehmenssitz von Goldman Sachs und dem Elendsviertel Villa
31 in Buenos Aires.“
Die Zurückhaltung von Marichuy, der Blick eher nach unten als
nach oben gerichtet, die ruhige und besonnene Art, wie sie
ihre Sätze formulierte; all dies ist Ausdruck einer
politischen Ethik der Bescheidenheit, des eigenen Unwohlseins,
wenn die Aufmerksamkeit aller auf eine gerichtet ist. Denn es
dreht sich nicht um die individuelle Repräsentation, diese ist
lediglich Symbolik und dienend. Was zählt, ist die
Organisierung und die Arbeit an der Basis. Auf was es ankommt,
ist ein Leben in Würde. Alle Rebellionen der Geschichte, die
entscheidenden Einfluss auf sie ausüben können, fingen mit
einem Aufschrei der Würde an. Der jetzige Versuch der
Veränderung, die der CNI und die EZLN anstoßen, ist solch ein
Aufschrei. Ein Aufschrei, der vielleicht bedeutender werden
könnte als der bewaffnete Aufstand von 1994, wie es die
Zapatistas selbst anmerkten. Die internationale Resonanz mag
weniger laut und breit sein als vor 23 Jahren. Doch der nach
innen gerichtete Blick, auf den Organisierungsprozess, nicht
mehr allein auf Chiapas sondern Mexiko insgesamt zielend,
zeigt die mögliche Bedeutung an. Es ist ein großer „Tag
unserer Geschichte, denn vor der Eroberung gab es keinen
Indigenen Regierungsrat. Vielleicht kannten sich Yaui und Maya
nicht. Vielleicht wussten sie nicht einmal, dass es den
anderen gab. Aber jetzt, an diesem Tag des 28. Mai, saßen der
Yaqui, der Wixárika, der Zapoteco, der Nahua, der Maya
nebeneinander. Das ist historisch“, schließt Filo
Zitlalxochitzin.
Literatur
Castellanos, Laura, 2009: Subcomandante Marcos. Kassensturz. Edition Nautilus, Hamburg, 63
Cohen, Robert, 2009: Das Exil der frechen Frauen, Berlin
EZLN, 2016: Das kritische Denken angesichts der
kapitalistischen Hydra, Münster
GIAP, 2016: Vorwärts Genossen!, in: amerika21.de/dokument/162474/congreso-indigena-mexiko;
Original unter: elblogdegiap.wordpress.com/2016/10/15/adelante-companeros/
Rendueles, César, 2015: Soziophobie. Politischer Wandel im
Zeitalter der digitalen Utopie, Suhrkamp, BerlinRodríguez Lascano, Sergio, 2017: Una necesaria reorganización del pensamiento emancipatorio, in: Viento Sur, Nr. 150, 129ff
Ders., 2010: La crisis del Poder y Nosotr@s, Ediciones Rebeldía, Mexiko-Stadt
Weiss, Peter, 2005 (1975): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt
Zagato, Alessandro, 2017: “Spokesperson for the people and candidate for the media”: An indigenous woman for the 2018 presidential elections in Mexico, in: www.focaalblog.com/2017/06/19/alessandro-zagato-spokesperson-for-the-people-and-candidate-for-the-media-an-indigenous-woman-for-the-2018-presidential-elections-in-mexico/
Anmerkungen
[1] Zum besagten Treffen im Mai erschienen über 1800 indigene Delegierte des CNI sowie Eingeladene aus indigenen Gemeinden, die (noch) nicht dem CNI angehören, aus ganz Mexiko in Chiapas. Hinzu kamen ungefähr 700 extern Angereiste, darunter auch nationale und internationale Presse. Seitens der EZLN nahmen 200 Basis-Zapatistas teil, etliche Kommandantinnen und Kommandanten sowie die beiden Subcomandantes Moisés und Galeano.
[2] Dabei ist zu beachten, aus
welcher sozialen und geographischen Position sie sprechen.
Wenn aus dem Zentrum auf globale Veränderungen, nationale
Konfigurationen und deren Auswirkungen aufs Lokale geschaut
wird, ergibt sich logischerweise ein anderes Bild, als wenn
Beobachtungen aus Gebieten der zapatistischen Selbstverwaltung
artikuliert werden. Macht funktioniert an den Rändern eines
Systems anders als in deren Zentren. Dies kann entscheidende
Hinweise auf die eigentliche Logik und Dynamik dieser Macht
liefern.
[3] vgl.
Comisión Sexta del EZLN (o.J.): El Pensamiento Crítico Frente
a la Hidra Capitalista I, o.O., 215-219. Die übersetzte
deutsche Fassung ist im Unrast-Verlag unter dem Titel „Das
kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra“
erschienen. Zum Teil sind die Beiträge auch online
verfügbar.
[4] „Zwischen Licht und Schatten“,
so lautet der Name des letzten Kommuniqués von Subcomandante
Insurgente Marcos am 25. Mai 2014. Bis heute ist er der meist
gelesene Text der letzten Jahre auf der Homepage der EZLN. Die
damals kurz nach Mitternacht verlesenen Worte sind nicht nur
eine Abrechnung mit all jenen, die in den 20 Jahren davor
Marcos verehrt oder verteufelt hatten, sondern eine
zusammengefasste Reise durch die zapatistische Politik mitsamt
ihren Errungenschaften nach dem bewaffneten Aufstand. Eine
politische Pflichtlektüre, deren Wert über die geographischen
Grenzen Chiapas und Mexikos hinausgeht. enlacezapatista.ezln.org.mx/2014/06/05/zwischen-licht-und-schatten/
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