Samstag, 16. September 2017

Opernpremiere »Tucholskys Spiegel« (Wolfgang Helfritsch)


»Hat es Ihnen gefallen? Sind Sie zufrieden? Möchten Sie wiederkommen?« fragt der Künstlerische Direktor der Kammeroper Schloss Rheinsberg Frank Matthus schon im Grußwort des Programm-Begleitheftes seine zur Weltpremiere von »Tucholskys Spiegel« zahlreich herangeströmten Besucher, darunter Opern-, Theater- und Tucholskyfachleute. Der Vorstand der Tucholsky-Gesellschaft hatte den Opernbesuch gar zum ersten Tagungsordnungspunkt seiner Rheinsberger Beratung geadelt. Matthus hatte ein kompaktes Fragenpaket geschnürt, das wir mit gutem Gewissen und heiterem Herzen bejahen können. Und nicht nur das: Unsere Erwartungen wurden übertroffen.

Allerdings: Wurde es auch für diejenigen zu einem positiven Event, denen es nicht vergönnt gewesen war, am dreitägigen Symposium im Mai teilzunehmen, sich vorher mit dem Libretto des Schriftstellers und Rheinsberger Ex-Stadtschreibers Christoph Klimke vertraut zu machen oder wenigstens einen Blick in das strahlend gelbe informative und originelle Begleitheft Jannika Oleschs und Ute Schindlers zu werfen? »Eine beeindruckende Aufführung«, bestätigten mir zwei Nicht-Insider, »aber man hätte vorher mehr wissen müssen, sich besser informieren sollen!« An Anregungen der Oper zum nachträglichen Griff nach den verstaubten Bänden im Regal habe es jedoch nicht gefehlt. Das ist zwar nicht alles, aber doch viel – noch dazu in einer Zeit, die sich schwertut, bei Tucholsky 80 Jahre nach seinem Tode seine sozialkritischen Positionen aktuell zu hinterfragen und sich nicht mit seinen Frauenbeziehungen zu begnügen. Vielleicht ist es auch nur peinlich, politischen Disharmonien der Gegenwart zu begegnen und Parallelen zu entdecken.

Alles in allem: »Tucholskys Spiegel« ist ein Opern-Experiment, das unter die Haut geht und für das man den Initiatoren und dem Gestalter-Team nicht genug danken kann. Ob Umsetzung von Originaltexten oder Kompositionen, ob solistische oder Ensemble-Leistungen, ob Bühnengestaltung oder Lichteffekte, ob Darstellung live oder Laufband-Informationen – alles war irgendwie stimmig oder wurde stimmig inszeniert. Jazzeffekte vereinigten sich mit traditioneller Opernmusik und trugen zu einem Sound bei, der die hintergründigen Texte Tucholskys noch unterstrich. Der Versuch, der Jahrhunderte alten Oper neue emotionale Elemente hinzuzufügen, gelang mit Bravour.

Wer den Saal betrat, glaubte zunächst, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Die Bühne ist einer Box-Arena nachgestaltet, die Akteure in spe wuseln geschäftig im Ring hin und her und um denselben herum, und die sensationslüsternen Zuschauer erwarten lediglich noch den Aufruf und die hochgestylte Überlobung der Kontrahenten. Ein auf- und absenkbarer Weihnachtsbaum über dem Seilgeviert suggeriert einen friedlichen Jahresend-Schlagabtausch in einem traditionellen Sportverein und Box-Stall, und als das ganze Geschehen unerwartet zu Tucholsky und seinem Todesmonat kippt, bleibt einem zum ersten Mal schier der Atem weg. Schon im Anspiel der Oper wächst etwas zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört, aber die Verblüffung siegt über die Skepsis und löst spontan Denkprozesse aus. Der Komponist James Reynolds und die Bühnen- und Kostümbildnerin Jule Dohrn-van Rossum haben ganze Arbeit geleistet – die Kammerakademie Potsdam desgleichen.

Vom Versuch, die Aufführung, die sich wahrheitsgetreu »Weltpremiere« nennt, im Einzelnen zu analysieren, nehme ich im Leser- und im eigenen Interesse Abstand. Es gliche dem Bemühen, Saft auf Cremedosen zu verteilen. Erwähnenswert bleibt jedoch das gelungene Arbeitsergebnis erfahrener Opernstrategen und junger Sänger, bleiben die fast in Freundschaften gemündeten Arbeitskontakte zwischen Autoren, Musikern und Bühnenhasen aller Couleur. In deren Mittelpunkt stand, unterstützt vom Chef des Tucholsky-Literaturmuseums Peter Böthig, Frank Matthus, der die Truppe zusammenführte, jedem vertraute, jeden individuell und leidenschaftlich ermutigte und auch mit Lob nicht sparte. Die Mitmacher fühlten sich vom Ensemble aufgesogen, und keiner schottete sich ab. Eine solche »Seele vom Janzen« kann man jedem Theater nur wünschen.

Und wie so oft behält Tucholsky recht und das letzte Wort: »Kunst will Zeit wie eine saubere Bilanz. Man kann, wenn man Pech hat, Flöhe aus dem Ärmel schütteln; Kunstwerke nicht.« (»Schnipsel«, erweiterte Neuausgabe, Rowohlt, 1995, S. 176)

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