Feiern wir den Falschen? Im gleichen Jahr 1517, in dem Martin Luther mit seinen Thesen gegen den Ablasshandel die Reformation einläutete, schrieb Erasmus von Rotterdam mit seiner »Querela Pacis«, der »Wehklage des Friedens«, die Grundschrift jenes menschheitsversöhnenden Friedenswillens, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung der Vereinten Nationen führte.
Luther freilich hat Geschichte gemacht; er hat die Welt verändert. Erasmus hat nur gewirkt in der Welt der Ideen; sein Werk blieb Kulturgeschichte. Luther wollte die Kirche erneuern und hat sie gespalten. Er schuf eine neue Konfession, die kein geistliches Oberhaupt anerkennt und den Glauben zur Gewissensentscheidung des Einzelnen macht. Er hat damit den Grund gelegt zur modernen Vorstellung von Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit; manche meinen sogar: zu Aufklärung und Demokratie. Aber er hat auch ein Zeitalter der Religionskriege eröffnet; er hat die Bindung der Religionszugehörigkeit an die Glaubensentscheidung des Landesherrn ermöglicht und damit das so folgenreiche Bündnis von »Thron und Altar«. Der Vorkämpfer der Gewissensfreiheit wurde damit zugleich zu einer Stütze des Obrigkeitsstaates. »Seid untertan der Obrigkeit« war mit Paulus seine Devise, die er angesichts des Aufstandes von Bauern und Bürgern gegen die Feudalherrschaft mit gewaltbereiter Vernichtungswut vertrat. Auch sein flammender Hass auf die Juden war mehr als ein Tribut an den Zeitgeist und hatte böse Folgen bis ins 20. Jahrhundert.
In der Ambivalenz der Fortwirkung Luthers spiegelt sich ein ungelöstes Vaterproblem. Die Furcht vor der rigorosen Strenge seines Vaters wurde metaphysisch überhöht zu der quälenden Frage, wie die Gnade Gottes zu erlangen sei, und darauf fand sich nur eine paradoxe Antwort: niemals durch gute Taten, sondern allein durch das Wagnis des Glaubens an die Gnade, eine höchst ungewisse Hoffnungsgewissheit also, mit der die Angst vor Verdammnis nicht aufgelöst, sondern in der Schwebe gehalten wurde – wie dann auch die irdischen Überväter als Repräsentanten des göttlichen Vaters, von denen nur der Papst gestürzt wurde.
Gegenüber diesem welterschütternden Psychodrama blieb das Wirken des Erasmus ein geistiges Ereignis für Intellektuelle. Luther wandte sich an das Volk, dem er, wie er sagte, »aufs Maul geschaut« hatte; er schrieb in deutscher Sprache, die er nach dem übertreibenden Urteil mancher mit seiner Bibelübersetzung überhaupt erst geschaffen hat. Erasmus, vernetzt mit den Gelehrten seiner Zeit und als Geistesgröße auch von Fürsten geschätzt, immer vorsichtig taktierend und darauf bedacht, nicht für einen Bundesgenossen des geächteten Reformators gehalten zu werden, schrieb immer in der Sprache der kulturellen Elite, auf Lateinisch also – so auch seine Friedensschrift, die sich aufrüttelnd und mahnend an die Mächtigen wandte und nicht an das Volk.
Erasmus war kein Mann der Tat; er war ein Denker. Er war, wie Egon Friedell vor 90 Jahren urteilte, kein »großer Mensch«, sondern »nur ein großer Kopf«. Aber dieser Kopf war ergriffen von der Vision einer gerechten und in Frieden geeinten Welt: Er fand starke und mitreißende Worte für diese Vision und verwendete sie ohne Furcht. Unerschrocken geißelt die allegorische Figur des Friedens in ihrer Wehklage die »unersättliche Kriegslust« der Mächtigen und verurteilt sie als gotteslästerlichen Wahn. Kein Friede, sagt sie, könne so ungerecht sein, »dass er nicht dem scheinbar gerechtesten Krieg vorzuziehen wäre«, und sie empört sich über die Heuchelei von Politikern, die sich Christen nennen und trotzdem Kriege führen. »Du wagst es, Gott als Vater anzurufen, während du deinem Bruder das Messer an die Kehle setztest?« Und: »Du bittest unser aller Vater ums tägliche Brot, sengst und brennst aber trotzdem die Saaten deiner Brüder nieder?«
Die sichtbare Wirkung blieb aus; kein Krieg wurde verhindert. Aber, wie Stefan Zweig in seinem Buch über Erasmus schrieb: Die unerfüllten, also auch unverbrauchten Ideale wirken weiter in den künftigen Generationen als Impuls zur Vermenschlichung der Menschheit. Die UNO ist weit davon entfernt, den Weltfrieden gebracht zu haben, aber niemand kann behaupten, sie sei mit ihren vielen Unterorganisationen völlig wirkungslos geblieben. Die Utopie des Friedens bleibt als Antriebskraft unentbehrlich. Darum brauchen wir Erasmus. Gerade in einer Zeit, in der blindwütige Militärinterventionen viele Regionen der Erde in ein Chaos der Gewalt gestürzt haben und in Deutschland eine irrsinnige Steigerung des Wehretats, also eine weitere Militarisierung der Politik und damit des Bewusstseins, zum Wahlkampfthema wird. Bei Erasmus hören wir die Stimme der unvernebelten Vernunft: Ein ungerechter Frieden ist als veränderbarer Zustand immer besser als ein noch so gerecht scheinender Krieg, dessen Zerstörungen nicht wieder gutzumachen sind.
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