Deutsche Islamisten kehren zurück aus dem Krieg in der Ferne,
geläutert manche, andere noch gefährlicher als zuvor. Sozialarbeiter,
Imame, Extremisten kämpfen um sie - und um unsere Sicherheit. Die
Ministerien schauen dabei zu.
Von Özlem Gezer
Als Emrah wütend war auf Deutschland, nannte er sich Schmitz und
rief beim Bundeskriminalamt an. Al-Qaida, sagte er, werde den deutschen
Reichstag angreifen. In jenem Herbst, 2010, telefonierte Emrah oft nach
Deutschland, in seine alte Heimat, die er verlassen hatte, um gegen sie
zu kämpfen, gegen den Westen, für al-Qaida.
Emrah wurde der erste Islamist, auf den der deutsche Innenminister
hörte. Nach Emrahs Anruf ließ Thomas de Maizière den Reichstag mit
Metall vergittern, an Bahnhöfen patrouillierten Polizisten mit
Maschinenpistolen. Die Angst vor dem islamistischen Terror, sie hatte
den Platz der Republik erreicht - und schuld daran war Emrah.
Mittlerweile ist er zurück in Deutschland, 27 Jahre alt, ein
verurteilter Terrorist. Seine Reise, die in Wuppertal begann, ihn nach
Asien führte, nach Afrika, endete in einer Zelle der
Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main. Ein Hochsicherheitsgefängnis,
17 Meter hohe Mauern, mit Stacheldraht und Bewegungsmeldern,
kameraüberwacht. Emrah sitzt in Haus B, Erdgeschoss, elf Quadratmeter,
graue Gitter vor den Fenstern, blaue Matratze, Wasserkocher, Kühlschrank
und ein Radio. Mit dem deutschen Staat kommuniziert Emrah jetzt über
einen Metallknopf, aus seiner Zelle.
Seitdem er zurück ist aus dem Krieg in der Ferne, hat ein neuer Kampf
begonnen. Diesmal geht es um ihn, den Rückkehrer Emrah. Es geht um
seine Zukunft, um die Sicherheit in Deutschland. Es ist ein Kampf, den
Islamisten wie Bernhard Falk führen, Extremismusexperten wie Claudia
Dantschke, Gefängnisseelsorger wie Mustafa Cimșit. Sie alle kämpfen um
Emrah und seine Brüder im Geiste.
Es geht, für die einen, darum, dass Männer wie Emrah in deutschen
Gefängnissen nicht neue Brüder finden, dass sie nicht rekrutieren für
den Terror. Es geht, für die anderen, darum, dass der Kampf gegen alles
Westliche weitergeht, dass Emrah ihn nicht aufgibt. Es geht, für
Deutschland, darum, weiterhin verschont zu bleiben, darum, dass keine
Vorortzüge explodieren wie in Madrid, keine Busse wie in London, dass
nicht Zeitungsredaktionen exekutiert werden wie in Paris, dass nicht
Menschen niedergeschossen werden wie in Brüssel. Es geht darum, dass der
deutsche Staat viel will und dass er fast nichts dafür tut.
Emrah suchte Hilfe. Aus seiner Zelle schrieb er einen Brief mit
blauer Tinte auf weißem Papier. Er fragte nach dieser Frau, Claudia
Dantschke. Er habe sie im Fernsehen gesehen, ihre Stimme im Radio
gehört. Sie könne ihm vielleicht helfen. Dantschke ist Deutschlands
bekannteste Extremismusexpertin. Sie berät Joachim Gauck im Schloss
Bellevue, sitzt in der Sicherheitskonferenz bei Barack Obama in
Washington, sie raucht Kette, trägt gern Jeanshemd, fährt durch
Deutschland und schult Gefängniswärter im Umgang mit Häftlingen wie
Emrah. Sie antwortete auf den Brief.
Seit Jahren kämpft sie um junge Männer wie Emrah. Sie will sie nicht
verlieren an den Krieg in der Ferne, an Extremisten in der Nähe. Aber
ihre Gegner, Männer wie Bernhard Falk, ziehen am anderen Ende. Falk will
Emrah und seine Brüder nicht für die Zivilgesellschaft retten: Er will
sie als Soldaten für seinen Krieg.
Bernhard Falk ist ein großer Mann, der einen langen Bart trägt,
schwarzes Hemd und immer dunkle Hosen, die nie über seine Knöchel
reichen, damit sie - muslimischen Geboten gemäß - nicht den Dreck der
Straße berühren. Falk war einmal Linksextremist, er verübte Anschläge
auf deutsche Politiker, er saß dafür zwölfeinhalb Jahre lang in Haft.
Das war damals, in den Neunzigern. Heute ist er wieder Extremist,
Islamist diesmal, für die Sicherheitsbehörden einer der großen
"Gefährder" der deutschen Szene.
Falk fährt zu Terrorismusverfahren an deutschen Gerichten, er
analysiert Richter, schreibt verurteilten Terroristen Briefe in die
Zelle, sucht ihnen die richtigen Anwälte, tröstet ihre Mütter. Für
Bernhard Falk ist Emrah kein Terrorist. Für Falk ist er ein "politischer
Gefangener der BRD", es klingt fast alles wie damals.
Falk will Emrah beistehen, ihn "festigen". Emrah soll nicht glauben,
dass alles ein Fehler gewesen sein könnte, er soll ihn nicht aufgeben,
den Kampf gegen den Westen und das Westliche. Für Falk sind Männer wie
Emrah "Strandgut". Die Deutschen, sagt Bernhard Falk, könnten doch nicht
ihre Waffen in die ganze Welt verkaufen und glauben, dass der Terror
nicht zurückkehre, in ihre Städte und Straßen, in ihre Gefängnisse.
In einem davon saß Emrah in den vergangenen Monaten oft Mustafa
Cimșit gegenüber, beim Freitagsgebet, im Gruppenraum der JVA, in seiner
Zelle. Auch Mustafa Cimșit kämpft um ihn. Cimșit, der Imam, hat Emrah
gesagt, dass es feige war, in die Ferne zu ziehen, in einen Krieg, der
nichts mit ihm zu tun hat.
Cimșit ist muslimischer Gefängnisseelsorger, der einzige in
Deutschland, der fünf Tage die Woche hinter Gittern predigt, mit eigenem
Büro und Transponder am Schlüsselbund. Der Imam ist ein kleiner Mann,
der von sich sagt, er sei groß genug. Einer, der einen sanften
Händedruck hat und eine ruhige Stimme, der Bart trägt und Fliegerjacke,
darunter enge Jeans. Wenn er durch die Sicherheitstüren der JVA läuft,
sieht Cimșit aus wie einer der Wärter, nur einer, der Turban trägt.
Emrah ist einer der ersten Rückkehrer, die den Weg aus dem
islamistischen Krieg zurück nach Deutschland gefunden haben. Mit seiner
Geschichte steht er für eine neue Generation junger Männer, die sich in
Bonn, Ansbach oder Wuppertal radikalisieren und in den Krieg ziehen.
Seitdem der Konflikt in Syrien begonnen hat, ist der Kampf der
Islamisten näher an Europa herangerückt. Die Rede ist nicht mehr vom
fernen Afghanistan, vom pakistanischen Bergland. Der Krieg ist jetzt nur
noch wenige Flugstunden entfernt. Seitdem das so ist, sind bis zu 700
junge Deutsche in den Kampf gezogen. Inzwischen ist jeder Dritte von
ihnen zurückgekehrt.
Sie werden empfangen von Staatsanwälten, die Verfahren wegen
Terrorverdachts durchziehen, es wird ermittelt gegen ihre Ehefrauen,
Freunde und Verwandte. Bundesweit gibt es mehr als 300 Verdächtige,
vorgeworfen werden ihnen Terrorfinanzierung, die Mitgliedschaft in
ausländischen Terrororganisationen, sie sollen gekämpft haben,
vielleicht getötet. Aber was sie in der Ferne taten, ist nicht die
einzige Frage, die deutsche Richter in diesen Tagen beschäftigt. Sie
haben zu klären, ob vor ihnen desillusionierte Kämpfer sitzen, die
ernüchtert und geläutert zurückkehren. Oder ob sie es mit potenziellen
Attentätern zu tun haben. Mit terroristischen Schläfern. Mit einer
tödlichen Gefahr.
Von der Antwort auf diese Fragen hängt viel für Deutschland ab, für
seine Sicherheit und Zukunft, für das Gefühl, mit dem Menschen weiter in
ihrem eigenen Land leben, denn 82 Prozent der Deutschen glauben, dass
von jenen Rückkehrern große Gefahr ausgeht.
Der eigentliche Kampf um Emrah und seine Brüder findet nicht im
Gerichtssaal statt, sondern draußen, auch wenn die Gesellschaft kaum
Notiz davon nimmt. Einsame Kämpfer treten gegeneinander an, Insider wie
Falk, Cimșit und Dantschke. Sie wissen, dass es keinen Sinn hat, ein
gesellschaftliches Problem der Justiz allein zu überlassen; sie wissen,
dass es nichts hilft, die Rückkehrer in den Gefängnissen zu parken; sie
sehen, wie eine verängstigte Gesellschaft den Umstand verdrängt, dass
sie Männer wie Emrah nicht für ewig hinter Gitter sperren kann, dass die
Rückkehrer irgendwann wirklich zurückkehren in die Gesellschaft.
Das Gefängnis ist eine Bühne der verpassten Gelegenheiten, auch in
Deutschland. Das Gefängnis ist ein wichtiges Schlachtfeld, nicht nur in
Deutschland.
Zwei der Attentäter von Paris lernten sich im Gefängnis kennen.
Der Attentäter Omar El-Hussein war erst wenige Tage frei, als er dem
Führer des "Islamischen Staates" Baghdadi auf Facebook seine Treue
schwor und zwei Menschen in Kopenhagen tötete.
Der Attentäter Mehdi Nemmouche, der im Jüdischen Museum in Brüssel
vier Menschen erschoss, war wenige Monate vor der Tat aus Syrien
zurückgekehrt.
Fast alle Attentäter haben dieses eine gemeinsam, erst waren sie
Kleinkriminelle, hinter Gittern wurden sie Extremisten. In den
Besserungsanstalten der Gesellschaft wurden aus ihnen gewaltbereite
Fanatiker.
Emrah schrieb aus seiner Zelle einen Brief, am 1. Januar 2013:
"Für mich muss ich sagen, ich weiß nicht, was mit mir passiert,
wenn ich erst einmal rauskomme. Ich habe keinen Job, keinen Abschluss,
null Chancen auf dem Arbeitsmarkt." Der Brief war adressiert an das
nordrhein-westfälische Innenministerium. Emrah schreibt, dass er im
Radio von einem Aussteigerprogramm für Islamisten gehört habe. Er
fordert Prospekte und Kataloge an, Emrah will lesen, Emrah will reden:
"Ich habe eine sehr strenge Auslegung vom Islam gelebt und habe
mein Leben als Krimineller aufgegeben. Irgendwann habe ich mich sehr
stark radikalisiert und habe mich ins Ausland abgesetzt. Nach dem Tod
meines Bruders habe ich mir 1000 Fragen gestellt. Ich bin sehr daran
interessiert, zu wissen oder zu lesen, was Sie da so anbieten."
Emrah gibt Fetzen aus seinem Leben wieder, sie wirken wie die ersten
Zeilen der Reue. Dass seine Entwicklung nicht von heute auf morgen
passiert sei, dass es viele Stufen und viele Fallen gegeben habe.
"Ich war naiv und jung", schreibt Emrah,
"ungebildet in Sachen Menschenkenntnis und Zukunft." Aber nun habe er diese Frau gesehen, die sich einsetze,
"um solchen Menschen wie mir zu helfen. Sollten Sie die Adresse
dieser Frau, die ich beschrieben habe, finden, würde ich Sie bitten, mir
die zu schicken".
Die Frau ist Claudia Dantschke. Emrahs Brief bleibt im
Innenministerium hängen, er erreicht sie erst vier Wochen später.
Dantschke ist wütend, bis heute, über die verpasste Gelegenheit. Sie
antwortete sofort auf diesen ersten Hilferuf von Emrah, aber er
antwortete nicht mehr. Ihre Zeilen kommen zu spät, weil sein Brief erst
versickert, in deutscher Bürokratie. Dantschke sagt, es gebe Fenster,
für kurze Zeit offen, dann gehen sie zu, für immer.
Claudia Dantschke will Männer wie Emrah nicht in Watte packen, sie
hat kein Mitleid. Aber Dantschke will sie aus den Fängen der Extremisten
befreien, will "Aussteiger" aus ihnen machen. Sie mag es nicht, dass
Deutschland seine Extremisten behandelt wie Fremdkörper, dass das Land
nichts zu tun haben will mit den Ursachen von Radikalisierung, mit der
Frage, warum junge Männer in einen fernen Krieg ziehen gegen die Kuffar,
die Ungläubigen, gegen den Westen und das Westliche.
Dantschke sitzt im ICE, klebt sich ein Nikotinpflaster auf die
Schulter, klappt ihren Laptop auf, klickt sich durch eine
Powerpoint-Präsentation. Sie ist auf dem Weg zu einem Vortrag, zwei
Telefone liegen auf dem Tisch, eines klingelt immer.
Am anderen Ende der Leitung sind Mütter, die verzweifelt sind, weil
ihre Söhne nicht mehr den Raum betreten, wenn Frauen anwesend sind.
Lehrer, die klagen, weil Schüler nicht "Je suis Charlie", sondern "Je
suis Muslim" sagen. Väter, die fürchten, dass ihre Kinder in den Krieg
reisen, bald. Dantschke fragt, wie die Moschee heißt, in die ihre Kinder
gehen, fragt nach Büchern, die sie lesen, nach Bildern, die sie an ihre
Wände pinnen. Sie will wissen, ob die Kleidung sich verändert hat,
welche Internetseiten sie klicken. Es ist eine grobe Checkliste, anhand
derer sie messen kann, wie radikal die Kinder der verzweifelten Eltern
bereits sind, sie führt lange Gespräche mit ihnen, oft dauern sie
Stunden.
Sie sagt Eltern, dass sie ruhig bleiben müssen, ihre Kinder nicht
kriminalisieren dürfen. Sie will nicht, dass sie den Zugang verlieren,
loslassen. Claudia Dantschke weiß, dass sie viel zu wenige sind,
Berater, Gefängnisseelsorger, Experten wie sie. Dass sie verarzten, aber
nicht ständig da sein können. "Wenn der Draht zur Familie eng ist,
fällt eine Ausreise schwerer", sagt sie. Und damit sie bleiben, müssen
Eltern die richtigen Fragen stellen.
Claudia Dantschke trainiert sie. Sie kann wie auf Knopfdruck abrufen,
wann genau die deutsche Szene der militanten Islamisten entstanden ist,
kennt die Führungsköpfe der Bewegung, weiß, welche dschihadistische
Organisation in Syrien sich von welcher gerade getrennt hat. Jetzt
liefert sie den Eltern das Fachwissen zum Krieg der Terroristen, zitiert
Suren aus dem Koran, die ihn untersagen. Sie sollen ihre Kinder ins
Zweifeln bringen.
Dantschke leitet "Hayat", eine Beratungsstelle gegen Radikalisierung.
Hayat heißt Leben und ist zwischen 11 und 17 Uhr telefonisch
erreichbar. Dantschke organisiert Wochenenden für die Eltern von
Rückkehrern, bringt sie zusammen mit Eltern von Ausgereisten. Sie sollen
voneinander lernen. Nach den Gesprächsrunden sagen sie ihren Kindern,
die aus dem Krieg anrufen, man müsse sich für immer verabschieden;
schließlich kämen sie, die Eltern, als Ungläubige in die Hölle, während
sie, die Kämpfer in der Ferne, als Dschihadisten ins Paradies kämen.
Claudia Dantschke schreibt den Eltern Drehbücher, sie lernen Sätze
auswendig. Es klingt simpel, aber es funktioniert. "Heimweh haben alle",
sagt sie. Viele Eltern haben Dantschkes private Handynummer, sie rufen
an, wenn sie gerade Seminare in Wien gibt oder Eltern in Berlin besucht,
und manchmal sucht sie auf ihrem Telefon dann auf die Schnelle eine
Tankstelle an der syrischen Grenze, zu der ein verlorener Sohn seinen
Vater bestellt hat, um ihn aus dem Krieg wieder rauszuholen. Dantschke
klickt sich durch Google Maps, tippt ein, welche Strecke der Vater
fahren muss. Sie tippt schnell.
Claudia Dantschke ist oft gestresst, aber sie will ihre Anrufer nicht
alleinlassen, es sind deutsche Eltern, sie sind verzweifelt. Die Türkei
kennen die meisten von ihnen nur aus dem Badeurlaub, den Terror nur aus
RAF-Zeiten. Mit Dantschkes Hilfe reisen sie jetzt in einen Krieg, um
ihre Kinder zurückzuholen, in ein Deutschland, das nicht weiß, was es
mit ihnen machen soll.
Claudia Dantschke will auch diesem Deutschland helfen, will es
aufklären. Die Menschen müssten endlich verstehen, dass sie junge Männer
wie Emrah nicht an den Islam verlieren, sondern an den militanten
Islamismus, an einen neuen Extremismus, der Dschihadismus genannt wird
und nur auf der Basis einer Religion debattiert wird, mit der er kaum zu
tun hat.
Dantschke steht am Rednerpult im Museum Pfalzgalerie in
Kaiserslautern. Sie klappt ihren Laptop auf, prüft den Sound, steckt die
rechte Hand in die Hosentasche, in der linken hält sie ein Mikro: "Es
geht nicht mehr um Superman, sondern um Supermuslim", sagt sie. Ihre
Zuhörer sollen verstehen, dass es um eine neue Jugendkultur geht, die
ihre eigenen Codes hat, eine Szene, in der Extremisten fischen,
erfolgreich. Junge Männer wie Emrah gehen, sagt sie, weil sie hier nicht
ankommen. Sie verlassen eine Welt, in der Rapper wie Bushido den
Integrations-Bambi bekommen und verurteilte Straftäter ein Praktikum im
Bundestag.
Auch die Islamisten wollten Geschichte schreiben, wenn nicht hier,
dann da, als die erste Generation in einem Kalifat, obwohl die meisten
von ihnen, da ist sich Dantschke sicher, "theologische und ideologische
Analphabeten" sind. Sie klickt durch ihre Folien, durch Begriffe wie:
Gehorsam, Struktur, Gemeinschaft, Identität, Rebellion, Protest.
Irgendwann meldet sich ein älterer Herr: "Mir dämmert es, das kennen wir
doch alles, das ist RAF."
Es sind jene Momente für Claudia Dantschke, in denen sie spürt, dass
es sich lohnt, durch Deutschland zu fahren und den Menschen zu erklären,
dass Männer wie Emrah kein Import sind aus der Ferne, sondern Produkte
dieser Gesellschaft. Dantschke ist glücklich, wenn ihre Zuhörer nicken,
mitschreiben. Sie tankt Kraft, für Tage, an denen sie Müttern
gegenübersitzt, ihnen die Hand hält und sagen muss: "Ihr Sohn ist tot,
ganz sicher, er wird nicht zurückkehren aus Syrien." Es sind Gespräche,
bei denen sie Psychologin ist, Familienberaterin. Oft geht es auch ihr
zu nahe, aber sie will nicht aufhören. Es sind jene Gespräche, von denen
sie oft erzählt, im Zug, am Telefon, nachts, wenn sie nach einem
Vortrag vor dem Hotel steht und raucht: "Manchmal denke ich, gut, dass
ich keine Kinder habe."
Claudia Dantschke wurde 1963 in Leipzig geboren, sie war 13, als sie
durch New Yorker Bildbände blätterte und von der Ferne träumte. Sie ging
zu den Jungen Pionieren, studierte Arabistik und hoffte, als
Übersetzerin ins Ausland zu kommen. Gott gab es nie, an den glaubte man
eher nicht in der DDR. Dantschke arbeitete in einer Nachrichtenagentur,
blieb im Osten. Als die Mauer fiel, kam sie nach Berlin, landete in
Neukölln, bei einem türkischen Nachrichtensender, im Hinterzimmer eines
Reisebüros.
Sie redet gern über jene Zeit. "Die Türken haben mich in
Westdeutschland integriert", sagt sie, Claudia Dantschke lacht laut,
wenn sie lacht. Bald ging es bei ihren Recherchen um rechte Türken,
islamistische Strömungen. Claudia Dantschke mag es nicht, wenn die einen
Menschen den anderen befehlen wollen, wie sie zu leben haben. Nach
Dantschkes Enthüllungen wurden radikale Vereine verboten, Zeitungen vom
Markt genommen. Sie wurde die Expertin, die sie heute ist, so bekannt,
dass auch Emrah sie kannte, hinter Gittern.
Emrah war erst 17, als er zum ersten Mal in Haft kam. In einem
Szeneblatt der Salafisten hat er beschrieben, wie er in den Knast kam,
in der Zelle zu Gott fand:
"In meiner Jugend habe ich viel Schlechtes gemacht, alles, was
sich ein Mensch vorstellen kann. Eine Anzeige kam nach der anderen,
Briefe und Vorladungen, Gericht nach Gericht." Emrah klaute und raubte, kiffte und trank, er ging nicht zur Schule. Emrah vertickte Drogen, verprügelte Konkurrenten.
Er saß in Haft. Emrah betete zu Gott und versprach ihm, wenn er ihn
raushole, werde er ein guter Junge. Es funktionierte, Emrah wurde
entlassen, vorzeitig. Er betete weiter, hatte neue Freunde, nannte sie
"Brüder", sie nahmen ihn mit zu Vorträgen, Emrah war jetzt fromm, sein
Vater zufrieden. Es hielt nicht lang. Emrah landete wieder in einer
Zelle, sieben Quadratmeter Deutschland. Keiner besuchte ihn, nicht seine
Freunde, nicht das Mädchen, das er liebte. Emrah weinte viel, schämte
sich, suchte:
"Ich dachte mir: Komm, du musst jetzt alles ändern! Komplett! Ich
dachte, entweder ich lebe wie ein Tier, oder ich diene Allah."
Emrah machte seine Zelle zur
"Madrasa", zu einer Gebetsschule, in die er andere Häftlinge einlud, um
"Dawa" zu machen, sie zum Islam zu rufen.
"Meine Zeit ist im Knast gekommen, und ich bereue keinen Tag, den
ich saß. Ich bin dort zum Mann geworden. Ich bekam inneren Frieden und
fühlte mich so gut. Im Gefängnis sind zwei Häftlinge Muslime geworden,
viele haben gebetet, und ich habe viel gelernt." Er wurde selbst zum
Extremisten, der anderen anbietet, das alte Leben zu löschen, wie in
ihren Computerspielen die Reset-Taste zu drücken, Neustart.
Als Emrah auf Bewährung freikam, reiste er ins pakistanische
Grenzgebiet, mit Frau und Kind, er lebte in Mir Ali, einer Hochburg von
al-Qaida. Eine Region, in der die Scharia herrschte, Nato-Konvois
angegriffen wurden und die USA Terroristen mit Drohnen jagten.
Bei einem dieser Angriffe starb Emrahs kleiner Bruder Bünyamin. Der
Splitter einer Rakete bohrte sich in seinen Kopf. Er wurde der erste
Deutsche, der im Drohnenkrieg der Amerikaner getötet wurde. Emrah legte
seine Leiche in die pakistanische Erde, rief beim BKA in Deutschland an
und verkündete die Terrorpläne von al-Qaida, zog weiter, nach Somalia,
ehe er in Tansania festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert wurde.
Seit jenem Herbst 2010 stehen auf dem Platz der Republik in Berlin
Container. Wer in den Reichstag will, legt seine Tasche auf ein
Kontrollband und läuft durch Metalldetektoren. Islamisten wie Bernhard
Falk nennen die Container nur "Emrah-Checkpoint".
Es ist ein kalter Samstag im März, Bernhard Falk läuft durch die
Innenstadt von Wuppertal. "Kindermörder", schreien ihm junge Frauen
hinterher, "wir kriegen euch alle, ihr Scheißterroristen, IS,
Hurensöhne, verreckt", schreien andere. Die Innenstadt von Wuppertal ist
an jenem Tag ein Laufsteg für Deutschlands Extremisten. Hooligans
prügeln sich mit der Polizei, kurdische Aktivisten stehen mit Rechten
vor einer Absperrung, der Hass vereint auch sie. Er richtet sich gegen
Bernhard Falk und seine Begleiter, sie führen eine Kundgebung "gegen die
Ungerechtigkeit gegenüber muslimischen Gefangenen" auf.
Falk drängelt sich an ihnen vorbei, er ist ein großer Mann, fast 1,90
Meter, er trägt ein langes islamisches Gewand, es ist grau, er trägt es
gern an besonderen Tagen. Polizisten führen ihn zu einem Zelt. Er muss
die Schuhe ausziehen, sie wühlen in seinen Taschen. Falk wird begleitet
von Kameraleuchten, alle wollen ihn interviewen. Auch seine Anhänger
halten ihre Handys in die Luft. Falk wirkt wie ihr Popstar, er steht
gern im Mittelpunkt.
Er läuft weiter, vorbei an jungen Männern, die in einer Gebetsreihe
stehen mit gesenktem Kopf, vorbei an den Kurden vor der Absperrung, die
jetzt Silvesterböller zünden und Eier Richtung Bühne werfen. Einer der
Prediger liest Briefe inhaftierter Islamisten in ein Mikrofon, hält 500
Euro in die Luft, er weint Tränen und ruft: "Jeder von euch spendet."
Dann läuft einer durch die Reihen und sammelt.
Auch Falk läuft durch die Reihen, schüttelt Hände, verteilt seine
Flyer, er hat sie in Frischhaltebeutel gehüllt, sie sollen nicht
knicken, Falk mag Ordnung. Er sagt, "ruft mich an". Auf dem roten Papier
hat er seine Dienste für sie zusammengefasst: "Formulierung von
Besuchsanträgen im Gefängnis, Einschätzung der Situation in
verschiedenen Haftanstalten der BRD, Beobachtung der Anwälte (live) im
Prozess. Propagieren der Aussageverweigerung."
Seitdem die Zahl der Islamisten in Haft gestiegen ist, steigt auch
die Zahl ihrer Sympathisanten. Wie die Rechten und Linken jahrzehntelang
ihre Inhaftierten betreuten, haben auch die Islamisten ihre
Unterstützer, kollektive Briefschreiber, der bekannteste unter ihnen ist
Bernhard Falk. Für ihn hat der deutsche Staat die "Brüder und
Schwestern" zu Unrecht weggesperrt.
Es sind Fälle wie der von Karolina, sie schickte ihrem Mann 11 000
Euro nach Syrien, Kameras und Nachtsichtgeräte, ihr Mann kämpft beim IS,
sie sitzt im Frauenknast Vechta, inhaftiert mit ihrem kleinen Sohn,
zwei Jahre alt - Falk nennt ihn den jüngsten politischen Gefangenen der
BRD.
Es sind Fälle wie der von Marco, ein deutscher Konvertit, der rechte
Politiker ausspähte, Kofferbomben am Bonner Hauptbahnhof deponierte -
ein höflicher Junge, sagt Falk, der nach "spontanem Bauchgefühl"
handelte und jetzt auf der Anklagebank im Oberlandesgericht Düsseldorf
sitzt.
Männer wie Mohammed. Er war auf dem Weg nach Syrien - festgenommen auf der A 8, OLG Stuttgart.
Fälle wie der von Andrea, sie wollte als Zweitfrau aus dem Allgäu nach Syrien - "sehr mutige Frau", sagt Falk, OLG München.
Bernhard Falk kennt sie alle, persönlich, er besucht sie im
Gefängnis, schreibt ihnen Briefe, druckt ihre Lebensgeschichten auf
Flugblätter. Seitdem die Zahl der Rückkehrer gestiegen ist, hat auch
Falk Stress, auch er sitzt oft im Zug wie Claudia Dantschke, auch sein
Handy klingelt ständig, auch bei ihm rufen verzweifelte Mütter an,
sprachlose Väter. Aber sie wollen nicht den Grad der Radikalisierung
ihrer Kinder messen, sie sind weiter in ihrer Verzweiflung, sie brauchen
Anwälte, sie wollen wissen, was sie den Nachbarn sagen sollen, seitdem
der Staatsschutz ihre Tür aufgebrochen hat. Oft brauchen sie Geld, weil
die Ermittler ihre Konten gesperrt haben, oft kommt dann Falk. Für sie
fährt er von Ludwigshafen nach Stuttgart, sammelt Spenden. Von München
nach Frankfurt, macht Hausbesuche. Geht ins Gericht.
An einem Dienstag ist er im Düsseldorfer Kapellweg unterwegs, er geht
vorbei an einer Schrebergartensiedlung, an krähenden Hähnen, vorbei an
Männern mit Maschinenpistolen, zu einem Betonklotz, Oberlandesgericht
Düsseldorf. Polizisten kontrollieren Pässe, Falk begrüßen sie mit Namen,
man kennt sich. In Saal II werden hinter einer Trennscheibe junge
Männer in Handschellen auf himmelblaue Stühle geführt. Sie winken
Bernhard Falk. Außer ihm sitzen nur noch drei Zuschauer im Saal. Im
Zeugenstand steht ein Ermittler vom BKA.
Bernhard Falk hält einen blauen Füller in der Hand, schreibt mit.
Wenn er sich verschreibt, geht er mit einem Tintenkiller über die
falsche Stelle. Falk mag keine Fehler. Er notiert sich, dass
Passwortsicherungen heutzutage nichts mehr wert sind, dass die Szene
observiert wird mit Software aus Kalifornien. Später wird er eine
Warnung auf seine Facebook-Seite stellen, "Falk News" ist der Kanal für
seine Gemeinde. Er mahnt sie, nicht zu viele SMS zu schicken, nicht
ständig zu chatten und "der BRD" keine Beweise zu liefern, nur weil sie
"tratschen" wollten.
Falk wirkt wie ein Oberlehrer der deutschen Islamisten. Er selbst
nennt sich Glaubenskrieger, und irgendwie "pastoral" sei seine Arbeit,
sagt er. Nach Ende der Verhandlung in Düsseldorf verlässt er das
Gericht, geht über den Parkplatz, er kann die Kennzeichen der Autos den
jeweiligen Anwälten zuordnen. Nur wenige Strafverteidiger sind in der
Szene anerkannt, Falk kennt sie alle und vermittelt ihnen ständig neue
Fälle. Die Anwälte nehmen ihn mit in ihren Autos, im Taxi, sie ziehen
ihm Zugtickets, geben ihm die Anklageschriften, sitzen gemeinsam in
Bahnhofshallen, trinken Kakao mit Sahne, lästern über Richter, über die
Naivität der Angeklagten. Falk sagt, er brauche das Scherzen
zwischendurch. Schließlich sei es nicht einfach für ihn zurückzukehren,
immer wieder, an diesen Ort. Im Oberlandesgericht Düsseldorf wurde
Bernhard Falk selbst einst entlassen, das war im Juli 2008.
Als die RAF Hanns Martin Schleyer ermordete, war Bernhard Falk zehn
Jahre alt, die Palästinenser entführten die Lufthansa-Maschine
"Landshut", und Andreas Baader und andere Gefangene nahmen sich in der
"Todesnacht von Stammheim" das Leben. Er sei von den Schlagzeilen
fasziniert gewesen, sagt er, habe im Zeitungsladen seines Vaters viel
geblättert, aber der Deutsche Herbst interessierte bei den Falks zu
Hause nicht. Seine Mutter, eine Lehrerin, "humanistisch katholisch",
sein Vater, ein ehemaliger Nazi, der bei der Waffen-SS gedient hatte und
dem kleinen Bernhard immer Vorträge hielt über "Untermenschen", über
Russen, Polen, Juden, das ganze braune Programm.
Bernhard Falk floh in die Kirche, betete zu Gott, wurde Messdiener,
sein Priester nannte ihn immer nur Luzifer, weil er gern mit Feuer
spielte, und heimlich las er Marx. Falk hat in seinem Leben nur ein
einziges Mal Alkohol getrunken, Federweißer in der 11. Klasse. Als er
Abitur machte, bombardierte Ronald Reagan Tripolis.
Falk sagt: "Der Westen als Militärmacht greift an und ordnet die
Welt", diese Arroganz, diese Haltung von "Übermenschen" hätten ihm nie
gefallen, er kannte sie, von zu Hause. Er liebte weiter seinen Gott,
aber die katholische Kirche erkannte er bald als "ein die Sowjetunion
zerstörendes Element". Seine Religion passte irgendwie nicht zu seiner
neuen Weltanschauung, zum Geist des Widerstands, der ihn antrieb, und
seine Religion, sie war ja doch nur Dekoration für Taufen, Beerdigungen
und Hochzeiten. "Das Christliche in mir", sagt Falk, "war auf ,low
level'."
Falk ging nach Aachen, studierte Physik, auf seinem Nachttisch stand
ein Bild von Ulrike Meinhof. Er liebte eine Iranerin, konvertierte zum
Islam. Die Linken in Deutschland hielt er für eingeschlafen, Falk wollte
nicht sein wie sie. Er gründete die Antiimperialistischen Zellen (AIZ).
Drei Jahre, neun Anschläge. Das Rechtshaus in Hamburg brannte, Bomben
explodierten in Düsseldorf, versetzt mit Eisenkrampen. Ermittler sagten,
die AIZ sei gefährlicher als die RAF. Falk sagte nie aus.
Er saß in Isolationshaft, streikte Hunger, seine linken Brüder hatten
ihn vergessen. Der Knast wurde "ein Ort der Selbstgespräche", sagt
Falk. Aber er fand bald neue Freunde. Türken und Kurden, sie hatten von
diesem neuen Mithäftling gehört, der zu enge Trainingsanzüge trug, der
ein Deutscher war und irgendwie ein Muslim. Die Schließer stellten ihm
jetzt Tragetaschen in die Zelle, Geschenke von den neuen Freunden, sie
schickten ihm Taschenspiegel, Nagelknipser. Falk schrieb Pamphlete und
verbreitete den Islam.
Es sei nicht schwer gewesen, vom Linksextremisten zum Islamisten zu
werden, sagt Falk. Niemand könne die Geschichte aufhalten. "Entweder
sitzt du vorn in der Lokomotive, oder du erstickst hinten im Rauch",
sagt Falk. Der Islamismus ist die Lok. Den antiimperialistischen
Widerstand leistet nicht mehr die Linke, sagt Falk, sondern Hamas,
al-Qaida.
Als er aus der Haft entlassen wurde, wartete Miriam auf ihn, eine
Deutsche, konvertiert wie er, empfohlen von seiner neuen Gemeinde. Falk
zog zu ihr nach München, arbeitete in einem Callcenter, verkaufte
Zeitungs-Abos, saß im Kundendienst von Vodafone, der Telekom. Immer wenn
sie erfuhren, wer er war, musste er gehen. Das Konvertitenpaar zog
weiter nach Ludwigshafen, in ein Viertel mit gestutzten Hecken und
Reihenhäusern, in ein Wohnzimmer mit braunen Schränken und braunem
Boden, dort sortierte Bernhard Falk seine Vergangenheit in schwarze
Aktenordner.
Sie liegen auf einem grünen Samtsofa, auf dem Teppich. Falk sagt,
eigentlich müsste er Regale kaufen, Ordnung machen, aber er hat keine
Zeit, zu viele Festnahmen, zu viele Fälle. Und dann seine Zweitfrau in
Dortmund, ihre gemeinsamen drei Kinder. Falk lebt eine Woche in
Dortmund, eine in Ludwigshafen. Die Regale müssen warten.
Falk blättert durch die Post der inhaftierten Islamisten, sie danken
ihm, dass er schreibt, er sei der Einzige, der sie nie vergesse. In
ihren Briefen verheiraten sie ihre Kinder mit seinen, malen Koranverse
in grüner Farbe zwischen ihre Zeilen. Die Briefe sind sentimental,
selten politisch. Früher war das anders, sagt Falk, als er noch Briefe
las von Brigitte Mohnhaupt, von Christian Klar.
Die Anschläge von Paris, sagt Falk, wären eigentlich ein Anlass
gewesen, der Welt zu erklären, warum der Widerstand nicht aufhören wird,
nie. Aber seine Schützlinge sind noch nicht so weit. Falk ärgert sich
oft in letzter Zeit, über Anwälte, die keine Presseerklärungen abgeben,
über Eltern, die nicht wollen, dass er ihre Namen veröffentlicht. Über
Angeklagte, die den Kopf aus der Kamera drehen, statt der Welt ihr
Gesicht zu zeigen.
Ihr Widerstand besteht darin, nicht aufzustehen, wenn die Richter den
Raum betreten, im Koran zu blättern, während Ordnungsstrafen wegen
Missachtung des Gerichts über sie verhängt werden. Dieses "Geplänkel"
bringt nichts, das weiß auch Falk, aber er will geduldig sein, will
ihnen beibringen, dass es nicht so wichtig ist, wie genau sie ihren
Schleier tragen, dass keiner "vor Erotik in Ohnmacht fallen wird", dass
sie nicht darüber nachdenken müssen, ob das Rind, das sie essen, im
"islamischen Kontext" aufgewachsen ist. Sie müssen größer denken,
weiter.
Irgendwann werden seine Islamisten besser, sauberer arbeiten, glaubt
Falk, deshalb können auf Dauer Anschläge in Deutschland nicht verhindert
werden. Mitleid mit Opfern hat er nicht. Falk sagt, er nehme die
Demokratie eben ernst, und solange die Deutschen diese Politiker
wählten, müssten sie auch mit den Konsequenzen leben. Falk hat noch nie
gewählt. Er sagt, er wolle den Deutschen ja nicht ihre Kirche nehmen,
nicht die Scharia in Bonn einführen, und auch die Amerikaner sollen
weiter ihre Bagels essen dürfen, ihren O-Saft aus Alu-Dosen trinken,
aber sie müssten aufhören, den islamistischen Widerstand in der Welt zu
bekämpfen.
Vom "Islamischen Staat" hält Bernhard Falk nichts, er mag al-Qaida,
aber er will auch die Rückkehrer vom IS nicht im Stich lassen, nur weil
sie sich verirrt haben. Falk hat seine jungen Islamisten kategorisiert
in "Pflichtfälle" und seine "Lieblinge". Zu Letzteren zählt Emrah. Falk
erinnert sich genau an den Tag, an dem er von seiner Festnahme hörte.
Emrah habe ihn gleich fasziniert, ein Junge aus Wuppertal, der in eine
Taliban-Region zieht, amerikanische Drohnen, tote Deutsche. "Große
Weltpolitik unterm Mikroskop", sagt Falk.
Er verpasste keinen Verhandlungstag vor Gericht, er winkte Emrah zu,
der lächelte zurück. Falk ist stolz auf Emrah, weil dieser sich nicht
"melken" ließ von der BRD, weil er nicht aussagte und den Richter nicht
ernst nahm. Falk mag es, wenn deutsche Richter an ihren Angeklagten
verzweifeln, arabische Wörter falsch aussprechen, ihre Vorurteile gegen
Muslime verraten.
Falk weiß genau, wie weit er juristisch gehen darf. Und solange die
Behörden seine Besuchsanträge akzeptieren, geht er in deutsche
Gefängnisse, spricht den islamischen Friedensgruß, sagt den Insassen,
sie sollten geduldig sein und vor allem verstehen, dass sie anders seien
als ihre Zellennachbarn. Sie sitzen dort, erzählt er ihnen, weil sie
für eine gute Sache kämpfen. Sie sollen beten und warten. Falk ist da.
Auch für die Familien. Er telefonierte oft mit Emrahs Frau. Empfahl ihr
neue Anwälte, sagte ihr, wie lange die Verhandlung noch gehen wird,
bereitete sie "emotional" auf Emrahs Haftstrafe vor, sieben Jahre.
Bernhard Falk ärgert sich, dass Claudia Dantschke durch Deutschland
fährt und behauptet, die islamistischen Häftlinge seien Verlierer,
gestrauchelte Existenzen. Aber eine wirkliche Bedrohung sieht er nicht
in Dantschke, sie sei ja noch nicht einmal Muslimin, sagt er dann. Mehr
Angst machen ihm Männer wie Mustafa Cimșit. Er führt den Kampf, den
Dantschke auf deutschen Straßen führt, hinter Gefängnismauern. Cimșit
ist ein starker Gegner.
Wenn er über die Flure der JVA Frankfurt geht, schließt er Zellen
auf, grüßt Gefangene, sperrt sie wieder ein, geht weiter, und Gefangene
rufen ihm "Salam alaikum" zu, laden ihn zum Essen ein. Sie mögen ihren
Imam, ihren Prediger. Mustafa Cimșit hat viel zu tun, fünf Tage die
Woche, acht Stunden am Tag. Jeden Morgen läuft er durch neun
Sicherheitstüren zu seinem Büro, "Sprechraum, B.2.160, Imam". In den
Regalen stapeln sich Gebetsteppiche und Korane, an der Wand hängen
Blätter mit arabischer Schrift.
Jeder vierte Gefangene der JVA Frankfurt ist muslimischen Glaubens.
Jeden Freitag zieht Cimșit für sie seinen weißen Mantel über, hockt sich
in den Gebetsschrein und nimmt seinen Koran in die Hand. Der Altar wird
in ein weißes Tuch gehüllt, das Weihwasser abgedeckt, die Stühle für
den Gottesdienst kommen in den Nebenraum. Jesus am Kreuz wird ins Regal
wegsortiert, die roten Gebetsteppiche werden ausgerollt. Für wenige
Stunden verwandelt sich der Andachtsraum mit den aufgeklebten
Sonnenstrahlen in die Moschee der JVA.
Auch Emrah saß in den vergangenen Monaten oft auf jenem roten Teppich
und hörte die Predigt von Cimșit. Mustafa Cimșit mochte diesen
Häftling, er sei ein herzlicher Junge, er habe ihn oft umarmt, lustig
und sehr höflich sei er, wenn es nicht gerade um Jesus oder Buddha ging.
Cimșit erzählte, dass auch sie vielleicht von Gott geschickt wurden und
die Menschen sie dann Gott gleichsetzten. Buddha, ein Prophet? Emrah
ging es zu weit. Er nannte es Unglaube und verließ die Predigt.
Cimșit ließ ihn gehen, ging ihm nicht nach, er strafte ihn nicht, er
schickte ihm Grüße, legte eine islamische Quelle bei und einen
Schokoladenriegel. Emrah brauchte drei Wochen, dann kam er zurück,
umarmte Cimșit und sagte, dass es ihm leidtue, er seine Ansicht noch
nicht teile, aber akzeptiere.
"Die meisten kommen in meine Predigt, weil sie reden wollen", sagt
Cimșit. Reden über Heimweh und anstehende Besuchsanträge. Reden über die
Attentate von Paris und die Karikaturen, die ihren Propheten verhöhnen.
Über das Kalifat und die Enthauptungen. Über Verschwörungstheorien. Ob
das in Paris vielleicht doch die Amerikaner waren? Oder die Juden? Es
sind absurde Fragen, aber wenn sie nicht Mustafa Cimșit hätten, um über
sie zu reden, dann redeten sie nur untereinander, und niemand
widerspräche mehr.
Oft geht er mit den Gefangenen weiter, in seinen Gruppenraum.
Flatscreen, Musikanlage, ein Holztisch mit roten Tulpen. Cimșit kocht
ihnen Tee, kocht ihnen Kaffee, bringt Döner mit, manchmal den Käsekuchen
seiner Frau, Tiramisu, türkische Zuckerteile. Er sagt, Vertrauen sei
wichtig. Essen auch. Dass seine Frau für sie in der Küche stehe, bringe
Respekt, Zugang.
Während sie Kuchen essen, redet Mustafa Cimșit. Er hat gehört, dass
einige von ihnen die Enthauptungen des IS "nicht so schlimm" finden. Er
erklärt ihnen dann, dass der ideale Muslim dem Schlachttier die Augen
zubinde, damit es das Blut der anderen Tiere nicht sehe. Dass Muslime
ein scharfes Messer nähmen, um das Tier so "sanft" wie möglich zu töten.
So stehe es in den Schriften, so sei es Gesetz. Und sie sollten jetzt
darüber nachdenken, was es mit ihrer Religion zu tun haben könne, dass
die Barbaren vom IS Menschen mit "stumpfen" Messern enthaupten, dass sie
Bilder davon ins Internet stellen, wenn doch wahre Muslime den Tieren
sogar die Augen zubinden, damit sie wenig leiden.
Vor einigen Wochen kam ein Gefangener zu Cimșit und sagte: "Hey,
Imam, wenn ich hier raus bin, fahre ich nach Syrien." Cimșit habe Wochen
gebraucht, um den Gefangenen davon zu überzeugen, dass ihn dort kein
Mensch brauche. Ja, Muslimen widerfahre Unrecht in der Ferne, aber wer
weder die Sprache spreche noch die Wege kenne und auch keine
Kampfausbildung habe - was wolle der in Syrien?
Cimșit predigt jene Worte oft, im Freitagsgebet, auf dem Flur, bei
Einzelgesprächen, er tat es auch in Emrahs Zelle. Der wahre Kampf
beginnt vor der eigenen Haustür. Gott habe die Muslime nicht umsonst
dorthin geschickt, wo sie sind. Es sei "faul", in einen Krieg zu ziehen,
anstatt einen Ausbildungsplatz zu suchen.
Cimșit sagt, er fühle sich in solchen Gesprächen wie ein Psychologe,
oft als großer Bruder, manchmal wie ein Sozialarbeiter. Bei Männern wie
Emrah gehe es in erster Linie nicht um den Islam, es sei der
Extremismus, der immer diejenigen infiziere, die sich ungebraucht
fühlten. Cimșit will sie herausholen aus ihrer Opferrolle, aber anders.
Sie sollen lernen, sich zu wehren gegen Unrecht, mit Anträgen, mit einem
Studium und nicht mit einer Kalaschnikow.
Wenn Männer wie Emrah ihm nicht zuhören wollen, sagt Cimșit: "Ich bin
Muslim, du bist Muslim, du sitzt in einer Zelle, ich habe ein eigenes
Büro hier im Knast, um dir zu helfen, denk mal darüber nach." Emrah habe
nachgedacht, sagt Cimșit.
Der Imam ist 43 Jahre alt, in einem kleinen Dorf im Osten der Türkei
geboren und aufgewachsen in Hettenleidelheim in der Pfalz. Cimșit war
ein frommer Junge, der Sohn von Gastarbeitern, der einzige Türke auf dem
Gymnasium. Er verkaufte Software danach, fand keinen Sinn darin und
studierte Religionswissenschaften.
Mustafa Cimșit ist sich sicher, dass die Zahl der Islamisten in
deutschen Gefängnissen weiter steigen wird. Und auch diejenigen, die
nicht als Islamisten hinter Gitter kommen, sind in Gefahr, dazu zu
werden, durch Inhaftierte wie Emrah, durch falsche Freunde wie Falk.
Mustafa Cimșit sagt, die Zeit im Gefängnis sei eine Gelegenheit, um
auf die Verwirrten einzuwirken, damit sie keine Täter werden.
Radikalisierung sei ein langer Prozess, und wer ihn durchlaufen habe,
komme nicht schnell wieder davon los, man dürfe keine "Expressheilung"
erwarten.
Mit Emrah sei es ein harter Kampf gewesen. Viele Stunden, viele
Gespräche. Cimșit traf sich mit Emrahs Frau, spielte mit seinen Kindern,
die Emrah nur hinter einer Trennscheibe sehen darf. Er verbrachte viel
Zeit mit Emrah allein. Damit er sich überhaupt traue, laut zu bereuen.
Emrah habe oft geweint, wenn er erzählte, von seinem Bruder, vom Krieg,
dann umarmte Cimșit ihn, obwohl Gefängnisangestellten der Körperkontakt
zu Insassen nach den Vorschriften verboten ist. Aber seitdem er durch
die Flure der JVA Frankfurt läuft, hat sich viel verändert. Cimșit
kämpft, jeden Tag, mit seinen Mitteln.
Es geht um Emrah und seine Brüder. Darum, dass sie in deutschen
Gefängnissen nicht neue Brüder finden. Es geht darum, dass Deutschland
weiterhin verschont bleibt, dass keine Vorortzüge explodieren, keine
Busse, dass nicht Menschen niedergeschossen werden. Und es geht darum,
dass der deutsche Staat viel will und dass er fast nichts dafür tut.
Es gibt einen Beschluss der Justizministerkonferenz von 2013, in dem
festgelegt wurde, dass es Programme der Deradikalisierung in
Gefängnissen geben müsse; seitdem ist nicht viel passiert. Viele
zuständige Stellen und Behörden haben erst in den vergangenen Monaten
angefangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und während Claudia
Dantschke Vorträge hält, Mustafa Cimșit sich um seine Islamisten
kümmert, die zufällig bei ihm landen, Bernhard Falk weiter Briefe
schreibt, sitzt Innenminister Thomas de Maizière bei "Maybrit Illner"
und debattiert. Und auf die Fragen, was für konkrete Pläne es denn gebe
und welche finanziellen Mittel, um die Radikalisierung in deutschen
Gefängnissen zu verhindern, antwortet de Maizière erst gar nicht, und
dann sagt er, Gefängnisse seien Ländersache.
Fragt man die Länder ab, bekommt man ein Potpourri aus Antworten.
Niedersachsen hat irgendein muslimisches Seelsorgeprogramm, Bayern und
Berlin beschäftigen sich seit den Anschlägen von Paris gezielter mit dem
Thema. Während die Justizministerien der Länder noch prüfen, beobachten
und Pilotprojekte planen, werden in Bremen und Hessen Razzien
durchgeführt und potenzielle Attentäter festgenommen. In Dresden wird
eine Demonstration wegen Anschlagswarnungen abgesagt, in Braunschweig
der ganz Karnevalsumzug. Und an den Bahnhöfen der Republik
patrouillieren wieder Polizisten.
Vor einigen Wochen hat sich Mustafa Cimșit von Emrah verabschiedet,
sie haben sich umarmt, immer wieder, Gott soll dich schützen, hat Cimșit
ihm gesagt. Gott soll dich schützen, Imam, hat Emrah erwidert. Emrah
wurde verlegt, in die JVA Hagen.
Cimșit konnte Emrah dann doch nicht ganz Gott überlassen, er rief in
der JVA Hagen an und verlangte den Imam, um ihm ein paar Tipps zu geben
und ihm zu sagen, dass er geduldig sein müsse mit Emrah. Die Frau am
Telefon sagte, sie könne Cimșit nicht durchstellen, die JVA Hagen habe
doch gar keinen Imam. Cimșit überlegte. Vielleicht könne der
Anstaltspfarrer helfen? Cimșit wartete, es knackte in der Leitung, der
Pfarrer ging nicht ran, Mustafa Cimșit legte irgendwann auf.
Er saß einen Moment lang still da, für sich. Dann betete er zu Gott, für Emrah, für Deutschland. ■
Von Özlem Gezer
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