Sonntag, 8. Februar 2015
Keine Strafen für Schwarzfahren!
Betroffene fordern Freisprüche und Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ++ Gerichtsprozesse in Gießen am 3. und 5. März
Fahrpreise halten Menschen davon ab, den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Würden mehr Menschen Busse und Bahnen nutzen, könnten mehr Linien in dichterem Takt fahren – auch in abgelegene Bezirke und Regionen. Innenstädte würden vom Autogedränge befreit und lebenswerter. Fahrpreise gelten als sozial ungerecht, weil alle gleich viel bezahlen müssten. Menschen, die unter den Armutsgrenzen leben, können sich Mobilität oft nicht leisten. Tausende, die das trotzdem machen, sitzen im Gefängnis – nur wegen Schwarzfahrens. Nicht-Deutsche werden abgeschoben – weil Schwarzfahren eine Straftat ist und sie so ihren Aufenthaltsstatus verlieren. „Es ist Wahnsinn, welchen Aufwand die willigen Vollstrecker des Systems in Robe und Uniform betreiben, nur um Kapitalinteressen zu dienen“, schimpft Jörg Bergstedt. Er hat eine Kampagne gegen das ständige Strafen angeleiert und träumt davon, dass der öffentliche Nahverkehr in Zukunft kostenlos wird. „Nulltarif für alle ist echte Umverteilung“. Zusammen mit einigen Mitstreiter_innen kritisiert er zudem die fehlende Effizienz von Fahrpreisen: Ein guter Teil der Einnahmen würde schon durch Fahrkartenverkauf, Automaten, Kontrolle und Werbung verschlungen. Hinzu kämen die Kosten für Strafverfolgung und –vollzug sowie die Kosten für Straßen, Parkplätze, Gesundheits- und Umweltschäden durch den massiven Autoverkehr.
Zwei Strafprozesse
Bergstedt steht am 3. und 5. März in Gießen vor Gericht. Der zweite Termin ist bereits die zweite Instanz. Das Amtsgericht hatte ihn wegen „Erschleichung von Leistungen“ verurteilt, obwohl er ein deutliches Hinweisschild trug. Den Richter hatte nicht interessiert, dass Urteile des Oberlandesgerichts in Frankfurt und des Bundesgerichtshofes nur solches Fahren ohne Fahrkarte unter Strafe stellen, welches den „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ erweckt. Kommentare zum Gesetzestext gehen noch weiter: „Kein Erschleichen ist es, wenn der Täter offen zum Ausdruck bringt, die Beförderung unentgeltlich in Anspruch zu nehmen.“ Genau das hatte Bergstedt gemacht. Nun muss das Landgericht den Spruch des Amtsgerichts überprüfen. Bergstedt hat wenig Hoffnung und viele schlechte Erfahrungen mit der Justiz in Gießen: „Die Justiz ist die Hure des Fürsten - so sagte es schon Georg Büchner. Heute sind die Regierenden und das Kapital die Fürsten. Für sie erfinden Polizei und Gerichte Straftaten, fälschen Beweise und beugen das Recht.“ Der Angeklagte war in der Vergangenheit mehrfach in spektakulären Prozessen verurteilt und sogar mit nachweislich erfundenen Straftaten eingesperrt worden. Höhere Gerichte bescheinigten der Gießener Polizei und Justiz damals Verfassungsbrüche und Anwendung von Recht aus Zeiten des Dritten Reiches. Ob es auch diesmal soweit kommt, werden die Tage Anfang März zeigen. Die endgültige Entscheidung wird voraussichtlich aber erst auf den höheren Ebenen fallen, wo dann die rechtlichen Fragen im Vordergrund stehen. Immerhin hat es auch schon Freisprüche für gekennzeichnetes Schwarzfahren gegeben.
Nulltarif im öffentlichen Verkehr
Der Gießener Angeklagte ist nicht der einzige, der mit Hinweisschild schwarz fährt und trotzdem mit der Justiz in Konflikt kommt. Fast zehn Personen stehen zur Zeit in verschiedenen Städten vor Gericht. „Nicht das gekennzeichnete Fahren ohne Fahrkarte ist rechtswidrig, sondern seine Bestrafung. Ich nenne das Schwarzstrafen, denn das Strafen ist der eigentliche Rechtsbruch dabei!“ Die Nulltarif-Streiter_innen habe ihre Kampagne denn auch „Schwarzstrafen“ getauft. „Es ist absurd: Jedes Gericht denkt sich einen anderen Trick aus, um verurteilen zu können: In Bonn muss mensch beim Schaffner einsteigen, in Starnberg dem Lokführer Bescheid geben. In Gießen soll der Spruch „Ich fahre umsonst“ nicht eindeutig sein – in anderen Städten wird er verstanden.“ Die ständigen Verurteilungen trotz entgegenstehender Rechtsgrundlagen würden die politischen Interessen zeigen, die hinter Gerichtsverhandlungen stehen. Dabei handeln die Betroffenen nicht einmal nur eigennützig, sondern wollen eine überregionale Kampagne für Gratis-Nahverkehr anstoßen. Ihre Strategie: „Wenn Schwarzfahren mit Kennzeichnung straffrei ist, darf mensch dazu aufrufen und dafür sorgen, dass es viele machen. Dann muss sich der Gesetzgeber bewegen.“ Es käme dann auf ausreichenden politischen Druck an, dass statt einer Verschärfung des Gesetzes die Einführung des Nulltarifs kommt. Ihre Ziele haben sie auf einer Internetseite (www.schwarzstrafen.de.vu) zusammengefasst. Bis dahin wäre es ein weiter Weg. Ein erster Schritt und überregionales Signal wären Freisprüche am 3. und 5. März in Gießen.
Die genauen Termine:
Di, 3.3., ab 9.30 Uhr im Amtsgericht Gießen (Gutfleischstr. 1, 35390 Gießen): Saal 204 im Gebäude A): Verhandlung wegen Schwarzfahrens mit Hinweisschild - eine rechtlich komplett frei konstruierte Straftat (gibt es gar nicht) ++ zweite Anklage gegen dieselbe Person innerhalb kurzer Zeit mit Anklageschrift (Haftstrafe droht)
Do, 5.3. ab 8.30 Uhr im Landgericht Gießen (Ostanlage/Ecke Gutfleischstraße, Raum 015): Berufungsverhandlung wegen Schwarzfahrens mit Hinweisschild - eine rechtlich komplett frei konstruierte Straftat (gibt es gar nicht) ++ zweite Instanz (also anderes Verfahren als das vom 3.3.)
Informationen, Gesetzestexte und –kommentare, Urteile und Studien zum Nulltarif unter www.schwarzstrafen.de.vu.
Kontakt zum Angeklagten: c/o Projektwerkstatt, 06401-903283, kobra@projektwerkstatt.de
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