Sonntag, 8. Februar 2015

Der kleine Irrtum Putins (Ralph Hartmann)

Früher – ich muß es gestehen – hatte ich mich in die Kategorie der Putinversteher eingeordnet. Seit einiger Zeit muß ich davon gewisse Abstriche machen, denn in den letzten Monaten hat Präsident Wladimir Putin wiederholt das russische Vorgehen auf der Krim mit dem der NATO in Kosovo verglichen. So auch in seinem vieldiskutierten Exklusivinterview, das er der ARD vor einiger Zeit gewährte und in dem er seine Sicht der Ukraine-Krise darlegte. Hierbei unterlag er einem kleinen Irrtum, denn er stellte zwei politische Vorgänge gegenüber, die sich voneinander doch ein wenig unterscheiden. Etwas gröber gesagt: Putins Vergleich mit dem Kosovo hinkt, und das gleich aus mehreren Gründen: Erstens, Kosovo war seit ewigen Zeiten serbisches Land, im Mittelalter war es das politische, wirtschaftliche und religiöse Zentrum Serbiens, Sitz der Nemanjidendynastie und des serbisch-orthodoxen Patriarchen. Nach der serbischen Niederlage in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) im Jahre 1389 und dem Vorrücken der Türken veränderte sich schrittweise die ethnische Zusammensetzung seiner Bevölkerung. Viele Serben zogen nach dem Norden, vom Süden her drängten die Albaner in das riesige Tal zwischen dem Schargebirge und den Bergen des Prokletije nach, wo sie unter türkischer Herrschaft massenhaft islamisiert wurden. Für die Serben aber blieb Kosovo im Kampf gegen das Türkenjoch Bestandteil ihres Landes und galt allgemein anerkannt als »Wiege der serbischen Staatlichkeit und Kultur«. Als integraler Bestandteil des Vielvölkerstaates Jugoslawien erhielt es den Status eines autonomen Gebietes innerhalb Serbiens und, auch wenn das heutzutage geleugnet wird, eine vielfältige Unterstützung seitens der entwickelteren jugoslawischen Republiken. Die Krim dagegen war nicht Jahrhunderte, sondern lediglich einige Jahrzehnte Bestandteil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und ab 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, Teil des ukrainischen Staates. Zuvor hatte die Halbinsel seit den Zeiten der Zarin Katharina, die Große genannt, genauer: seit 1783 zu Rußland gehört. »Ukrainisch« wurde sie, als der Ukrainer Nikita Sergejewitsch Chruschtschow diesen unbestreitbar historischen Teil von Rußland im Februar 1954, viele sagen »nach reichlich Wodkagenuß«, mit einem Federstrich an sein Heimatland, die Ukrainische Sowjetrepublik, verschenkte, um seine Machtbasis im Kampf um die Sicherung seiner Führung in der KPdSU und in der UdSSR zu festigen. Die Bevölkerung der Krim, mehrheitlich Russen, wurde nicht befragt und hat von diesem Wechsel erst danach aus der Presse erfahren. So ist es nicht überraschend, wenn auch ein wenig verspätet, daß die Vorsitzende des russischen Föderationsrats, Walentina Matwijenko, jüngst vorgeschlagen hat, den Beschluß zur Übergabe der Krim an die Ukraine im Jahr 1954 für illegitim zu erklären. Und das Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat, Igor Morosow, betonte, daß die damalige Entscheidung ohne Referendum getroffen worden sei und somit auch gegen die Verfassung der Sowjetunion verstoßen habe. Zweitens, Kosovo wurde von der NATO aus Jugoslawien und der Republik Serbien mit einer völkerrechtswidrigen Aggression ohne UN-Mandat unter dem Vorwand herausgerissen, »eine humanitäre Katastrophe« zu verhindern, »nie wieder Auschwitz« zuzulassen (Außenminister Joseph Fischer), »Konzentrationslager« zu befreien und solchen serbischen Greueltaten wie die »Ermordung schwangerer Frauen, denen danach ihre Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt wurden«, Einhalt zu gebieten (Verteidigungsminister Rudolf Scharping). In dem verbrecherischen 78tägigen Luftkrieg, in dem bundesdeutsche Tornados voranflogen, wurde mehr Sprengstoff gezündet als während des Zweiten Weltkrieges gegen das damalige wesentlich größere jugoslawische Königreich. Tausende Frauen und Männer, Kinder und Greise wurden erschlagen, die Infrastruktur und ganze Bereiche der Wirtschaft zerstört, die Umwelt schwer geschädigt. Es gehört schon mehr als die übliche Chuzpe dazu, dieses ungesühnte Kriegsverbrechen und die Okkupation Kosovos, wie es NATO-Konzernmedien, ihre politischen Vorredner und sogenannte Völkerrechtler tun, zu rechtfertigen und die »Annexion der Krim« als »schweren Bruch des Völkerrechts« zu verurteilen. Der Unterschied liegt doch auf der Hand: Nach dem von den USA, der Bundesrepublik und ihren Verbündeten mit massiver Einmischung unterstützten Staatsstreich in Kiew, der antirussischen Politik der neuen Machthaber und der beginnenden Diskriminierung der Russisch sprechenden Bewohner hat Rußland ohne einen Schuß und mittels eines Referendums mit überwältigendem Ausgang das zweifelhafte »Geschenk« Chruschtschows zurückgenommen und die Krim in die Russische Föderation zurückgeführt. Und was machen die ach so demokratischen Wirtschafts- und Kriegsbündnisse EU und NATO? Sie lobpreisen die NATO und dämonisieren Putin, verhängen Wirtschaftssanktionen und drohen mit einer weiteren militärischen Einkreisung Rußlands. Drittens, sowohl im noch immer de facto von der NATO besetzten Kosovo als auch auf der Krim gibt es Militärstützpunkte, zwischen denen es ebenfalls geringfügige Unterschiede gibt. Im äußersten Südwesten der Halbinsel Krim liegt Sewastopol, seit Ende des 18. Jahrhunderts Heimathafen und Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Im Zweiten Weltkrieg versuchte die Hitlerwehrmacht diese strategische Position zu erobern, um sie nach dem erhofften Sieg in »Theoderichshafen« umzubenennen. In verlust- aber letztlich siegreicher Schlacht wurden die deutschen Aggressoren geschlagen und vertrieben. In der Folgezeit baute die Sowjetunion und nach deren Zerfall Rußland die Militärbasis aus. Als die Krim dank der erwähnten »Großzügigkeit« Chruschtschows der Ukraine zugeschlagen worden war, blieb der Hauptteil des Stützpunktes in russischer Hand. Er ist für Rußland strategisch bedeutsam, schützt die Südgrenzen am Schwarzen Meer und gewährleistet den Zugang in die südlichen Gewässer. Um keinen Preis ist Moskau bereit zuzulassen, daß die NATO in Sewastopol ihre Flagge hißt. Dagegen flattern das NATO- und das Sternenbanner im okkupierten Kosovo, in der US-Militärbasis Camp Bondsteel in der Nähe des kleinen Ortes Ferizaj – 7000 Kilometer von den Vereinigten Staaten entfernt. Errichtet wurde die Basis unmittelbar nach der Eroberung des serbischen autonomen Gebietes durch die USA, die BRD und ihrer NATO-Verbündeten im Sommer 1999. Sie umfaßt 386 Hektar, auf denen 7000 US-Soldaten nicht nur mit modernster Waffentechnik ausgerüstet, sondern auch mit all dem ausgestattet sind, was zu einem dauerhaften ordentlichen US-Stützpunkt fern der Heimat gehört: ein Filmtheater, mehrere Fitneß-Studios, verschiedene Bars, Restaurants, ein Supermarkt und zur seelischen Ertüchtigung auch zwei Kapellen. Die Ausgaben lohnen sich, denn Camp Bondsteel ist aufgrund seiner Größe und Lage für die globale Strategie des Pentagons von mehrfacher Bedeutung. Es dient der Überwachung weiter Gebiete am Schwarzen und Mittelmeer, im Nahen und Mittleren Osten, der Kontrolle der Erdölströme nach Westeuropa, und nicht zuletzt ist es ein wichtiges Glied in der Kette der militärischen Umzingelung Rußlands. Im Gegensatz dazu kann man schwerlich behaupten, daß der russische Marinestützpunkt auf der Krim der Einkreisung der USA dient. Präsident Obama sieht das ein wenig anders – schließlich ist er Friedensnobelpreisträger und Oberhaupt einer bewährten Friedensmacht – und so erklärte er auf dem G20-Gipfel in Australien, daß Moskaus Ukraine-Politik »eine Gefahr für den Frieden darstelle«, denn »man marschiert nicht in andere Länder ein«. In dieser vielfach bewiesenen Kriegsverhinderungspolitik weiß er starke Verbündete an seiner Seite: die NATO- und EU-Staaten sowie natürlich die ukrainischen Maidan-Sieger, darunter den Ex-Verteidigungsminister Waleri Geletej, der die Siegesparade in Sewastopol abhalten will. Daraus wird wohl vorerst nichts werden. Aber Präsident Putin wäre gut beraten, wenn er künftig bei Vergleichen zwischen der Wiedereingliederung der Krim und der Okkupation Kosovos auf gewisse Unterschiede hinweisen würde, und seien diese auch noch so klein.

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