Sonntag, 15. Februar 2015
Karl Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus
unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung"'
Erster Teil: MILITARISMUS
II. Der kapitalistische Militarismus
1. "Militarismus nach außen", Marinismus und Kolonialmilitarismus
Kriegsmöglichkeiten und Abrüstung
Die Armee der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erfüllt ebenso wie die Armee der anderen Klassengesellschaftsordnungen einen doppelten Zweck.
Sie ist zuvörderst eine nationale Einrichtung, bestimmt zum Angriff nach außen oder zum Schutz gegen eine Gefährdung von außen, kurzum bestimmt für internationale Verwicklungen oder, um ein militärisches Schlagwort zu gebrauchen, gegen den äußeren Feind.
Diese Funktion der Armee ist auch durch die neuere Entwicklung keineswegs beseitigt. Für den Kapitalismus ist der Krieg in der Tat, um Moltkes Worte zu gebrauchen, "ein Glied in Gottes Weltordnung”.
In dem bekannten Briefe an Bluntschli (Dezember 1880) heißt es:
Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde die Welt in Materialismus versumpfen." Wenige Monate vorher hatte Moltke geschrieben: jeder Krieg ist ein nationales Unglück" ("Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten", Berlin o. J., Bd. V, S. 193, auch S. 200) und 1841 in einem Artikel der "Augsburger Allgemeinen Zeitung" gar: "Wir bekennen uns offen zu der viel verspotteten Idee eines allgemeinen europäischen Friedens."
Der Marinismus, der Flottenmilitarismus, ist das echte Geschwister des Landmilitarismus und trägt alle abstoßenden und bösartigen Züge dieses letzteren. Er Ist in noch höherem Maße als gegenwärtig der Landmilitarismus nicht nur Folge, sondern auch Ursache internationaler Gefahren, der Gefahr eines Weltkrieges
Wenn uns gute Leute und Betrüger glauben machen wollen, zum Beispiel die Spannung zwischen Deutschland und England [ ... ] sei nur etwelchen Mißverständnissen, Hetzereien böswilliger Zeitungsschreiber, prahlerischen Redensarten schlechter Musikanten der Diplomatie zu verdanken, so wissen wir es besser. Wir wissen, daß diese Spannung eine notwendige Folge der sich verschärfenden wirtschaftlichen Konkurrenz Englands und Deutschlands auf dem Weltmarkte ist, also eine direkte Folge der zügellosen kapitalistischen Entwicklung und internationalen Konkurrenz.
2. Proletariat und Krieg
Wenn oben die Funktion des Militarismus gegen den äußeren Feind als eine nationale bezeichnet ist, so ist damit nicht gesagt, daß es eine Funktion sei, die den Interessen, der Wohlfahrt und dem Willen der kapitalistisch regierten und ausgebeuteten Völker entspricht. Das Proletariat der gesamten Welt hat von jener Politik, die den Militarismus nach außen notwendig, macht, keinen Nutzen zu erwarten, seine Interessen widersprechen ihr sogar auf das Allerschärfste. Jene Politik dient mittelbar oder unmittelbar den Ausbeutungsinteressen der herrschenden Klassen des Kapitalismus. Sie sucht der regellos wilden Produktion und der sinnlos mörderischen Konkurrenz des Kapitalismus muss mit mehr oder weniger Geschick über die Welt hinaus den Weg zu bereiten, indem sie alle kulturellen Pflichten gegen die minder entwickelten Völkerschaften niedertrampelt; und sie erreicht doch im Grunde genommen nichts als eine wahnsinnige Gefährdung des ganzen Bestandes unserer Kultur durch die Heraufbeschwörung weltkriegerischer Verwicklungen.
Auch das Proletariat begrüßt den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung unserer Tage. Es weiß aber, daß sich dieser wirtschaftliche Aufschwung auch ohne den gewappneten Arm, ohne Militarismus und Marinismus ohne den Dreizack in unserer Faust und ohne die Bestialitäten unserer Kolonialwirtschaft friedlich entfalten könnte, sofern ihm vernünftig geleitete Gemeinwesen unter internationaler Verständigung und in Übereinstimmung mit den Kulturpflichten und Kulturinteressen dienen würden. Es weiß, daß unsere Weltpolitik zu einem großen Teil eine Politik der gewaltsamen und plumpen Bekämpfung und Verwirrung der inneren sozialen und politischen Schwierigkeiten ist, vor denen sich die herrschenden Klassen sehen, kurzum eine Politik bonapartistischer Täuschungs- und Irreführungversuche. Es weiß, daß die Arbeiterfeinde, ihre Suppe mit Vorliebe am Feuer des beschränkten Chauvinismus kochen, daß schon die von Bismarck skrupellos erzeugte Kriegsangst des Jahres 1887 der gemeingefährlichsten Reaktion gar trefflich Vorspann leistete und daß ein jüngst enthülltes sauberes Plänchen hochgestellter Persönlichkeiten dahin ging, im trüben kriegerischer Hurrastimmung dem deutschen Volk "nach Heimkehr eines siegreichen Heeres" das Reichstagswahlrecht wegzufischen. Es weiß, daß der Vorteil des wirtschaftlichen Aufschwunges, um dessen Ausnützung sich jene Politik bemüht, und daß im besonderen der Vorteil unserer Kolonialpolitik nur der Unternehmerklasse, dem Kapitalismus, dem Erbfeind des Proletariats, in die weiten Taschen rinnt. Es weiß, daß die Kriege, die die herrschenden Klassen für sich führen, gerade ihm die unerhörtesten Opfer an Gut und Blut auferlegen, für die es nach vollbrachter Arbeit mit jämmerlichen Invalidenpensionen, Veteranenbeihilfen, Leierkästen und Fußtritten aller Art regaliert wird. Es weiß, daß sich bei jedem Krieg ein Schlammvulkan an hunnischer Roheit und Gemeinheit über die beteiligten Völker ergießt und die Kultur auf Jahre hinaus rebarbarisiert. Es weiß, daß das Vaterland, für das es sich schlagen soll, nicht sein Vaterland ist, daß es für das Proletariat jedes Landes nur einen wirklichen Feind gibt: die Kapitalistenklasse, die das Proletariat unterdrückt und ausbeutet; daß das Proletariat jedes Landes durch sein eigenstes Interesse eng verknüpft ist mit dem Proletariat jedes anderen Landes; daß gegenüber den gemeinsamen Interessen des!, internationalen Proletariats alle nationalen Interessen zurücktreten,. und der internationalen Koalition des Ausbeutertums und der Knechtschaft die internationale Koalition der Ausgebeuteten, der Geknechteten gegenübergestellt werden muß. Es weiß, daß das Proletariat, sofern es in einem Kriege verwendet werden sollte, zum Kampfe gegen seine eigenen Brüder und Klassengenossen geführt würde und damit zum Kampfe gegen seine eigenen Interessen.
Das klassenbewußte Proletariat steht daher jener internationalen Aufgabe der Armee wie der gesamten kapitalistischen Ausdehnungspolitik nicht nur kühl bis ans Herz hinan, sondern in ernster und zielbewußter Feindschaft gegenüber. Es hat die vornehmste Aufgabe, den Militarismus auch in dieser Funktion bis aufs Messer zu bekämpfen, und es wird sich dieser seiner Aufgabe in immer stärkerem Maße bewußt.
3. Grundzüge des “Militarismus nach innen” und seine Aufgabe
Der Militarismus ist aber nicht nur Wehr und Waffe gegen den äußeren Feind, seiner harrt eine zweite Aufgabe, die mit der schärferen Zuspitzung der Klassengegensätze und mit dem Anwachsen des proletarischen Klassenbewußtseins immer näher in den Vordergrund rückt, die äußere Form des Militarismus und seinen inneren Charakter mehr und mehr bestimmend: die Aufgabe des Schutzes der herrschenden Gesellschaftsordnung, einer Stütze des Kapitalismus und aller Reaktion gegenüber dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Hier zeigt er sich als ein reines Werkzeug des Klassenkampfes, als Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen, dazu bestimmt, im Verein mit Polizei und Justiz, Schule und Kirche die Entwicklung des Klassenbewußtseins zu hemmen und darüber hinaus einer Minderheit, koste es, was es wolle, selbst gegen den aufgeklärten Willen der Mehrheit des Volkes die Herrschaft im Staat und die Ausbeutungsfreiheit zu sichern.
So steht der moderne Militarismus vor uns, der nicht mehr und nicht weniger sein will als die Quadratur des Zirkels, der das Volk gegen das Volk selbst bewaffnet, der den Arbeiter, indem er eine Altersklassenscheidung mit allen Mitteln künstlich in unsere soziale Gliederung hineinzutreiben sucht, zum Unterdrücker und Feind, zum Mörder seiner eigenen Klassengenossen und Freunde, seiner Eltern, Geschwister und Kinder, seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft zu machen sich vermißt, der gleichzeitig demokratisch und despotisch, aufgeklärt und mechanisch sein will, gleichzeitig volkstümlich und volksfeindlich.
Allerdings soll nicht vergessen werden, daß sich der Militarismus auch gegen den inneren nationalen, selbst religiösen "Feind" in Deutschland zum Beispiel gegen die Polen Elsässer und Dänen richtet und auch bei Konflikten innerhalb der nichtproletarischen Klassen [ ... ] Verwendung finden kann, daß er eine sehr vielgestaltige und wandlungsfähige Erscheinung ist und daß der preußischdeutsche Militarismus durch die besonderen halbabsolutistischen, feudal‑bürokratischen Verhältnisse Deutschlands zu einer ganz besonderen Blüte gediehen ist. Dieser preußisch‑deutsche Militarismus trägt alle schlechten und gefährlichen Eigenschaften irgendeiner Form des kapitalistischen Militarismus an sich, so daß er sich am besten als Paradigma zur Darstellung des Militarismus in seinem gegenwärtigen Zustand, in seinen Formen, seinen Mitteln und seinen Wirkungen eignet. Wie uns angeblich noch keiner ‑ um mit Bismarck zu reden ‑den preußischen Leutnant nachgemacht hat, so hat uns in der Tat noch keiner den preußisch‑deutschen Militarismus ganz nachzumachen vermocht, der da nicht nur ein Staat im Staate, sondern geradezu ein Staat über dem Staate geworden ist.
III. Mittel und Wirkungen des Militarismus
1. Das unmittelbare Ziel
Wir gehen nun zu einer speziellen Betrachtung der Mittel und der Wirkungen des Militarismus über und halten uns hierbei an das Paradigma des preußisch‑deutschen bürokratisch‑feudal‑ kapitalistischen Militarismus, dieser schlimmsten Form des kapitalistischen Militarismus, dieses Staates über dem Staate.
Wenn es auch richtig ist, daß der heutige Militarismus nichts anderes als eine Manifestation unsrer kapitalistischen Gesellschaft ist, so ist er doch eine Manifestation, die sich fast verselbständigt hat und nahezu Selbstzweck geworden ist.
Der Militarismus muß, um seinen Zweck zu erfüllen, die Armee zu einem handlichen, gefügigen, wirksamen Instrument machen. Er muß sie in militärisch‑technischer Beziehung auf eine möglichst hohe Stufe heben und andrerseits, da sie aus Menschen, nicht Maschinen, besteht, also eine lebendige Maschinerie ist, mit dem richtigen "Geist” erfüllen.
Die erste Seite der Sache löst sich schließlich in eine finanzielle Frage auf ; diese wird unten näher erörtert werden. Die zweite Seite soll uns hier zunächst näher beschäftigen.
Sie hat einen dreifachen Inhalt. Der Militarismus sucht den militärischen Geist zunächst und in erster Linie im aktiven Heere selbst, sodann in denjenigen Kreisen, die für die Ergänzung des Heeres im Mobilmachungsfalle als Reserve und Landwehr in Betracht kommen, und schließlich in allen übrigen Kreisen der Bevölkerung, die als Milieu und Nährboden für die militaristisch und für die antimilitaristisch zu verwendenden Bevölkerungskreise von Bedeutung sind, zu erzeugen und zu fördern.
2. Militaristische Pädagogik
Soldatenerziehung
Jener richtige "militärische Geist", auch patriotischer Geist‑ und in Preußen‑Deutschland "Geist der Königstreue" benannt, bedeutet kurzweg jederzeitige Bereitschaft, auf den äußeren und auf den inneren Feind nach Kommando loszuschlagen. Zu ihrer Erzeugung ist an und für sich am geeignetsten völliger Stumpfsinn, wenigstens eine möglichst niedrige Intelligenz, die es ermöglicht, die eine Herde Vieh zu treiben, wohin es das Interesse der "bestehenden Ordnung” vorschreibt. Das Geständnis des preußischen Ministers von Einem, ihm sei ein königstreuer Soldat, auch wenn er schlecht schieße, lieber als ein minder gesinnungstüchtiger, selbst wenn er noch so gut schieße, ist sicherlich dem tiefsten Herzen dieses Vertreters des deutschen Militarismus entsprungen.
Aber der Militarismus befindet sich hier in einer bösen Zwickmühle. Waffentechnik, Strategie und Taktik fordern heute von dem Soldaten ein nicht geringes Maß an Intelligenz [ ... 1 und machen den intelligenteren Soldaten ceteris paribus auch zu dem tüchtigeren. [ ... ]
Schon darum könnte der Militarismus mit einer bloß stumpfsinnigen Masse heutzutage nichts mehr anfangen. Eine solch stumpfsinnige Masse kann der Kapitalismus aber schon wegen der wirtschaftlichen Funktionen der großen Masse, insbesondere des Proletariats, nicht gebrauchen. Der Kapitalismus ist, um ausbeuten zu können, um eine möglichst hohe Profitrate herauszuschlagen ‑ was ja seine unentrinnbare Lebensaufgabe ist ‑ durch ein tragisches Verhängnis gezwungen, in weitem Umfange unter seinen Sklaven dieselbe Intelligenz systematisch zu erzeugen, die ihm, wie er genau weiß, Tod und Vernichtung bringen muß. Alle Versuche, durch geschicktes Lavieren, durch raffiniertes Zusammenwirken von Kirche und Schule das Schifflein des Kapitalismus zwischen der Scylla einer allzu niedrigen, die Ausbeutung allzusehr erschwerenden, den Proletarier selbst zum Arbeitstier ungeeignet machenden Intelligenz und. der Charybdis einer die Köpfe der Ausgebeuteten revolutionierenden, der überall heranströmenden Klassenerkenntnis weit öffnenden, für den Kapitalismus notwendig verderblichen Bildung hindurchzubugsieren, sind trost‑ und hoffnungslos. Nur die ostelbischen Landarbeiter, die nach dem berühmten Kröcherschen Wort in der Tat als dümmste Arbeiter noch die, notabene für den Junker, besten Arbeiter sein können, bieten in größerem Umfange dem Militarismus ein Material, das sich rein sklavisch‑herdenmäßig ohne weiteres auf Kommando lenken, aber freilich wegen seiner selbst für den Militarismus allzu geringen Intelligenz im Heer nur mit Vorsicht und innerhalb gewisser Grenzen gut gebrauchen läßt.
Unsre besten Soldaten sind Sozialdemokraten, lautet ein viel zitiertes Wort. Man erkennt daran die Schwierigkeit der Aufgabe, die Armee der allgemeinen Wehrpflicht mit dem richtigen militärischen Geist zu versorgen. Da der bloße Sklaven‑ oder Kadavergehorsam nicht ausreicht, aber auch nicht mehr möglich ist, muß der Militarismus sich den Willen seiner Mannschaft auf einem Umwege zu eigen machen, um sich auf diese Weise "Schießautomaten" zu schaffen. [ ... ] Er muß ihn durch geistige und seelische Beeinflussung oder durch Gewaltmittel beugen, er muß ihn ködern oder zwingen. "Zuckerbrot und Peitsche" heißt es auch hier. Der richtige "Geist", den der Militarismus braucht , ist erstens mit Rücksicht auf seine Funktion gegenüber dem äußeren Feind : chauvinistische Verbohrtheit, Engherzigkeit und Selbstüberhebung, zweitens mit Rücksicht auf seine Funktion gegenüber dem inneren Feind : Unverständnis oder selbst Haß gegen jeden Fortschritt, gegen jede die Herrschaft
der augenblicklich herrschenden Klasse auch nur im entferntesten bedrohende Unternehmung und Bestrebung. In diese Richtung hat der Militarismus, soweit er mit dem Zuckerbrot ködern will, das Denken und Empfinden der Soldaten zu lenken, denen ihr Klasseninteresse jeden Chauvinismus vom Leibe hält und jeden Fortschritt bis zum Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung als einzig verständiges Ziel erscheinen läßt.
IV. Besonderes von einigen Hauptsünden des Militarismus
2. Die Kosten des Militarismus oder La douloureuse
Man vergleiche den Gesamtetat‑ des Deutschen Reiches für 1906/1907 in Höhe von 2.397.324.000 Mark mit dem Anteil, der auf Heer und Marine entfällt, ‑und man sieht, daß alle übrigen Posten gegenüber diesem einen gewaltigen nur die Rolle kleiner Trabanten spielen, daß sich alles Steuerwesen, die gesamte Finanzwirtschaft um das Militärbudget gruppiert, "wie der Sterne Heer sich um die Sonne stellt".
So wird der Militarismus zum gefährlichen Hemmschuh, oft zum 'Totengräber selbst desjenigen kulturellen Fortschritts, der an und für sich im Interesse auch der heutigen Gesellschaftsordnung läge.
Schule, Kunst und Wissenschaft, öffentliche Hygiene, Verkehrswesen: Alles wird aufs äußerste stiefmütterlich behandelt, da wir für Kulturaufgaben, um ein bekanntes Wort zu gebrauchen ' bei Molochs Gefräßigkeit nichts übrig haben/Das Ministerwort: Die Kulturaufgaben leiden nicht, wurde höchstens von den ostelbischen Junkern bei ihren geringen Kulturansprüchen mit überzeugter Zustimmung aufgenommen, während es selbst den sonstigen Vertretern der kapitalistischen Gesellschaft nur ein Augurenlächeln abzunötigen vermochte.
Zahlen beweisen. Eine Gegenüberstellung der eineindrittel Milliarde des deutschen Militäretats von 1906 und der 171 Millionen, die Preußen 1906 für Unterricht aller Art aufgewendet hat, der 420 Millionen, die Österreich‑Ungarn 1900 für militärische Zwecke, und der fünfeinhalb Millionen, die es für Volksschulen verausgabt hat, genügt. Das neueste preußische Schulunterhaltungsgesetz mit seiner kleinlichen Regelung der Lehrergehaltsfrage sowie der berüchtigte Studtsche Erlaß gegen die Aufbesserung der Lehrergehälter in den Städten sprechen Bände.
Deutschland wäre reich genug, alle Kulturaufgaben zu erfüllen; und je mehr diese Aufgaben erfüllt würden, um so leichter würde es ihm, ihre Kosten zu tragen. Aber die Barriere des Militarismus versperrt den Weg.
Die Art, in der die militärischen Kosten in Deutschland aber anderwärts, zum Beispiel in Frankreich, kaum minder ‑ aufgebracht werden, stachelt ganz besonders auf. Der Militarismus ist, man kann fast sagen, der Schöpfer und Erhalter unsres erdrückenden ungerechten indirekten Steuerwesens. Die gesamte Reichszoll‑ und Reichssteuerwirtschaft, die auf eine Auspowerung der großen Masse, das heißt der bedürftigen Masse unsrer Bevölkerung, hinausläuft und der es im wesentlichen zu verdanken ist, wenn sich zum Beispiel im Jahre 1906 die Kosten der Lebenshaltung für die Masse des Volks gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 1900 bis. 1904 allein um 10 bis 15 Prozent gesteigert haben, dient neben dem Junkertum, dieser Schmarotzerklasse, deren zärtliche Versorgung zu einem sehr großen Teil wiederum durch militaristische Gründe verursacht ist, in erster Linie militaristischen Zwecken.
Nicht minder haben wir es hauptsächlich dem Militarismus zu danken, wenn unser Kommunikationswesen, dessen Ausbildung und Vervollkommnung übrigens gerade im höchsten Interesse eines verständigen und seines Interesses klug bewußten Kapitalismus liegt, dennoch längst nicht den Anforderungen des Verkehrs und der Entwicklung der Technik entspricht, sondern als milchende Kuh zu einer besonderen indirekten Besteuerung des Volks ausgenutzt wird.
Kein Zweifel, der Militarismus ist dem Kapitalismus in vieler Hinsicht selbst eine Last, aber diese Last sitzt ihm so fest auf dem Nacken, wie der geheimnisvoll mächtige Greis auf den Schultern Sindbads, des Seemanns. Er bedarf seiner, wie man im Kriege der Spione bedarf und in Friedenszeiten der Scharfrichter und Henkersknechte. Er mag ihn hassen, aber er kann ihn nicht entbehren, so wie der christliche Kulturmensch die Sünden gegen das Evangelium verabscheut und ohne sie doch nicht leben kann. Der Militarismus ist eine Erbsünde des Kapitalismus, die zwar hie und da der Besserung zugänglich ist [ ... ], von der ihn aber erst das Fegefeuer des Sozialismus läutern wird.
3. Die Armee als Werkzeug gegen das Proletariat im wirtschaftlichen Kampf
Vorbemerkung
Wir haben oben gesehen, wie der Militarismus geradezu die Achse geworden ist, um die sich unser politisches, soziales und wirtschaftliches Leben mehr und mehr dreht, wie er der Drahtzieher ist, der an dem "Drahte", dem nervus rerum, die Puppen des kapitalistischen Puppentheaters tanzen läßt. Wir haben gesehen, welchem Zweck der Militarismus dient, wie er diesen Zweck zu erreichen sucht und wie er bei Verfolgung dieses Zweckes mit Naturnotwendigkeit das Gift selbst erzeugen muß, an dem er sterben soll. Wir haben auch erörtert, welche wichtige staatserhaltende, leider nur wenig erfolgreiche Rolle er als Gesinnungspaukschule für das Volk im bunten Rock und in Zivil spielt. Damit begnügt er sich aber nicht, sondern übt schon heute in ruhigen Zeiten seine staatsstützende Einwirkung nach verschiedenen andern Richtungen aus, zur Vorbereitung, zur Vorübung für seinen großen Tag, wo er nach langer Lehrlings‑ und Gesellenzeit sein Meisterstück zu liefern hat, für den Tag, da sich das Volk frech und unbotmäßig wider seine Herren erhebt, den Tag des großen Kladderadatsches.
An diesem Tage, den seine Leibgarde lieber heute als morgen aufgehen sähe, weil sie ihn um so sicherer zu einer Sintflut für die Sozialdemokratie zu machen hofft, wird er nach Herzenslust mit Gott für König und Vaterland en gros füsilieren, kartätschen, massakrieren; der 22. Januar 1905, die blutige Maiwoche des Jahres 1871 werden ihm Ideal und Vorbild sein. [...]
Also der gepanzerte Arm ist stets erhoben, bereit, zerschmetternd einzuschlagen. Man heuchelt: "zur Sicherung der Ordnung", zum Schutz der Freiheit der Arbeit", und man meint: "zur Sicherung der Unterdrückung", "zum Schutz der Ausbeutung". Regt sich das Proletariat in unbequemer Lebhaftigkeit und Macht, gleich sucht es der Militarismus säbelrasselnd zurückzuscheuchen ider Militarismus, der allgegenwärtig und allmächtig hinter jeder arbeiterfeindlichen Aktion unsrer Staatsgewalt steht und ihr den letzten, heute noch unüberwindlichen Nachdruck verleiht, der sich aber nicht nur für die großen Momente im Hintergrunde, hinter der Vorhut der Polizei und Gendarmerie hält, sondern zielbewußt stets bereit steht, auch die Alltagsarbeit zu unterstützen und in zähem Kleinkam die Pfeiler der kapitalistischen Ordnung zu festigen. Gerade die vielgeschäftige Vielseitigkeit kennzeichnet in ihrem Raffinement den kapitalistischen Militarismus.
Soldaten als Konkurrenten gegen freie Arbeiter
Der Militarismus ist sich als Funktionär des Kapitalismus sehr wohl dessen bewußt, daß die Förderung des Unternehmerprofits seine höchste und heiligste Aufgabe ist. So hält er sich für wohl befugt, selbst verpflichtet, die Soldaten dem Unternehmertum, besonders dem Junkertum zur Steuerung der durch unmenschliche Ausbeutung und Brutalisierung der Landarbeiter hervorgerufenen Leutenot offiziell oder offiziös als Arbeitsvieh zu gestellen.
Armee und Streikbruch
Unmittelbar greift der Militarismus in die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterschaft ein, indem er Soldaten zu Streikbrecherdiensten militärisch kommandiert. [ ... ]
Besonders berüchtigt ist aus Deutschland noch jene beim Nürnberger Streik vom Sommer 1906 geübte Methode, die zur Entlassung kommenden Mannschaften mit sanftem Druck in die Reihen der Streikbrecher zu schieben.
[ ... ]
Daß die militärische Erziehung Arbeitswilligkeit systematisch züchtet und die aus der aktiven Armee entlassenen Arbeiter durch ihre Bereitschaft, den Klassengenossen in den Rücken zu fallen, dem kämpfenden Proletariat gefährlich werden, zählt gleichfalls zu den internationalen militaristischen Errungenschaften
4. Säbel‑ und Flintenrecht gegen Streiks
Vorbemerkung
Die Militärbehörden allerorten sind seit jeher durchdrungen von der kapitalistischen Wahrheit des Wortes, daß hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauere. So ist die Armee allezeit auf dem Posten, um, wo Polizeifaust, Polizeisäbel und Polizeirevolver gegenüber sogenannten Streikexzessen nicht sofort hinreichen, mit ihrem hauenden Säbel und ihrer schießenden Flinte die unbotmäßigen Unternehmersklaven zu Paaren zu treiben.
[ ... ]
Wesensverwandt mit dieser Verwendung der Militärgewalt ist die Tätigkeit der Kolonialarmeen und Schutztruppen gegen die Eingeborenen der Kolonien, die sich nicht gutwillig in das Joch der schnödesten Ausbeutung und Habgier pressen lassen wollen. Indessen können wir auf dieses Gebiet nicht näher eingehen,
Wohl aber läßt sich hier oft keine scharfe Grenzscheide zwischen der eigentlichen Armee und der Gendarmerie sowie der Polizei ziehen, die Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig ersetzen und ergänzen und auch schon darum eng zusammengehören, weil ja gerade die Eigenschaft, auf die es hier ankommt, die gewalttätige Draufgängerei, die Bereitwilligkeit und Bereitschaft, rücksichtslos und schneidig mit blanker Waffe gegen das Volk zu wüten, auch bei Polizei und Gendarmerie in der Hauptsache ein echtes Produkt der Kaserne, eine Frucht militaristischer Pädagogik und Ausbildung ist.
[ ... ]
8. Der Militarismus, eine Gefährdung des Friedens
Nationalistische Gegensätzlichkeiten das Bedürfnis nationaler Ausdehnung infolge der Bevölkerungsvermehrung, das Bedürfnis nach Einverleibung von Gebieten mit natürlichen Schätzen zur Hebung des Nationalreichtums (will sagen: des Reichtums der herrschenden Klassen) und zur Verselbständigung des Staats zu einer in der Produktion sich möglichst selbst genügenden Wirtschaftseinheit (eine natürliche Ergänzungstendenz zur Schutzzollpolitik, eine Tendenz, die freilich gegenüber der sich immer stärker durchsetzenden weitausgreifenden internationalen Arbeitsteilung nur von verschwindender Bedeutung sein kann), das Bedürfnis nach Erleichterung des Verkehrs im Inland und mit dem Ausland (zum Beispiel durch Erwerbung von schiffbaren Flüssen, von Seehäfen usw.), des Verkehrs, der das Mittel ist, durch das sich der Stoffwechsel des Wirtschaftskörpers, der Handel, vollzieht ‑ und Gegensätze des allgemeinen kulturellen Niveaus, insbesondere auch der politischen Entwicklungsstufe, können sehr wohl auch heute noch internationale politische Spannungen erzeugen. Die wichtigsten politischen Spannungen, die heute zu internationalen kriegerischen Verwicklungen führen können, entstehen aber, wie oben bereits dargelegt, durch die Konkurrenz der einzelnen Staaten innerhalb der Weltwirtschaft, durch den Welthandel, durch die Weltpolitik mit all ihren Komplikationen, insbesondere die Kolonialpolitik. Hauptträger dieser Spannungen sind die mächtigen Expansionsinteressenten der Industrie und des Handels, die als Interessenten an einem erfolgreichen Krieg bezeichnet werden mögen.
Es kann aber nicht verkannt werden, daß die Existenz der stehenden Heere, in denen sich der Militarismus in seiner ausgeprägtesten Form sedimentiert, an und für sich den internationalen Frieden bedroht, eine selbständige Kriegsgefahr bildet. Dabei mag ganz davon abgesehen werden, daß die Steigerung der militärischen Lasten, jene »Schraube ohne Ende", zu der Neigung führen kann, einen günstigen Augenblick jeweiliger militärischer Überlegenheit nicht unbenützt verstreichen zu lassen oder eine nun einmal doch für notwendig gehaltene kriegerische Auseinandersetzung vor einer weiteren ungünstigen Verschiebung des militärischen Stärkeverhältnisses zum Austrag zu bringen, eine Neigung, die bekanntlich bei dem jüngsten Marokkokonflikt in Frankreich nicht ohne Einfluß war [ ... ], die aber stets mehr für den Zeitpunkt des Kriegsausbruchs als für den Ausbruch selbst maßgebend ist.
Aber das stehende Heer erzeugt, wie in viel geringerem Maße ja auch die Miliz, eine moderne Kriegerkaste, eine Kaste von Personen, die sozusagen von Kindesbeinen auf den Krieg dressiert sind, eine privilegierte Konquistadorenkaste, die im Kriege Abenteuer und Beförderung sucht. Hinzu kommen diejenigen Kreise, die im Falle eines Kriegs ihr besonderes Schäflein scheren, die Lieferanten von Waffen, Munition, Kriegsschiffen, Pferden, Ausrüstungs- und Bekleidungsmaterial, Verpflegungs- und Transportmitteln, kurz: die Armeelieferanten, deren es natürlich auch aber minder in Milizstaaten gibt. Beide Gruppen von speziellen Kriegsinteressenten, das heißt von Interessenten am Kriege, an der Kriegsführung selbst die abenteuerlustige der Offiziere und die vom Kriegserfolg ganz unabhängige der Armeelieferanten, sitzen, um einen populären Ausdruck zu gebrauchen, dicht an der Spritze. Sie sind versippt mit den höchsten Staatsämtern und besitzen großen Einfluß auf diejenigen Instanzen, die formell über Krieg und Frieden zu entscheiden haben. Sie lassen keine günstige Gelegenheit vorüber ohne zu versuchen, diesen Einfluß, den sie meist durch ihre Bewucherung des Militarismus erst erworben haben, in pures Gold umzusetzen und Hekatomben von Proletariern auf dem Altar ihres Profit's opfern zu lassen. Sie hetzen als Kolonialtreiber das "teure Vaterland" in gefährliche, kostspielige, für sie höchst profitable Abenteuer, um dann als Flottentreiber dieses selbige Vaterland auf Kosten anderer in einer für sie wiederum höchst profitablen Manier zu retten.10
So bedeutet Kampf gegen die stehenden Heere und den chauvinistisch-militaristischen Geist Kampf gegen eine Gefahr für den Völkerfrieden. Das alte Wort: Si vis pacem, para bellumil mag für den einzelnen von militaristischen Staaten umgebenen Staat immerhin gelten, keinesfalls aber gilt es für die Gesamtheit der kapitalistischen Staaten, an die sich die internationale Agitation der Sozialdemokratie richtet. Und noch weniger spricht dieser Satz für die Notwendigkeit, sich auf den Krieg gerade in Form des stehenden Heeres vorzubereiten, auf das im Gegenteil der genau umgekehrte Satz zutrifft: Si vis bellum, para pacem12 keine größere Kriegsgefahr als eine solche Friedenssicherung! Für den aggressiven wirtschaftlich politischen Imperialismus unsrer Tage freilich ist das stehende Heer die adäquate Form der Kriegsvorbereitung.
So wahr aber der Völkerfriede im Interesse des internationalen Proletariats und darüber. hinaus im Kulturinteresse der gesamten Menschheit liegt, so wahr ist der Kampf gegen den Militarismus, der da alles in allem gleich ist der Völkerverhetzung, der Summe und dem Extrakt aller friedenstörenden Tendenzen des Kapitalismus kurzum, der da die ernste Gefahr des Weltkrieges ist, ein Kulturkampf, den zu führen das Proletariat stolz ist, den es in seinein ureigensten Interesse führen muß und den zu führen keine andre Klasse als solche (einzelne wohlmeinende Schwärmer bestätigen hier nur die Regel) ein nur entfernt ebenso großes Interesse besitzt.
Der Militarismus stört aber auch den inneren Frieden, nicht nur durch die ihm eigene Verrohung der Bevölkerung, durch die schweren wirtschaftlichen Lasten, die er dem Volk auferlegt und durch den so geschaffenen Steuer‑ und Zolldruck, nicht nur durch die Hand in Hand mit ihm einhergehende Korruption (vergleiche die Woermann, Fischer, von Tippelskirch, Podbielski und Genossen), nicht nur durch die Zerreißung des unter der Klassentellung schon genugsam seufzenden Volks in zwei Kasten, nicht nur durch Militärmißhandlungen und Militärjustiz, sondern vor allem dadurch, daß er ein mächtig wirksamer Hemmschuh gegen jeden Fortschritt, daß er ein kunstvolles und höchst kräftiges Instrument ist, um das Ventil des sozialen Dampfkessels gewaltsam zuzupressen. Wer immer eine Fortentwicklung des Menschengeschlechts für unvermeidlich hält, für den ist das Bestehen des Militarismus das wichtigste Hindernis für die Friedlichkeit und Stetigkeit einer solchen Entwicklung, dem ist der ungebrochene Militarismus gleichbedeutend mit der Notwendigkeit blutigroter Götzendämmerung des Kapitalismus.
9. Die Schwierigkeiten der proletarischen Revolution
So Ist die Beseitigung oder möglichste Schwächung des Militarismus eine Lebensfrage für den politischen Emanzipationskampf, dessen Form und Art der Militarismus in gewissem Sinne degeneriert und damit entscheidend beeinflußt, eine Lebensfrage um so mehr, als die Überlegenheit der Armee über das Volk ohne Waffen, Über das Proletariat, infolge der hochentwickelten Technik und Strategie, infolge der Riesenhaftigkeit der Armeen, infolge der ungünstigen lokalen Gliederung der Klassen und bei dem für das Proletariat besonders ungünstigen wirtschaftlichen Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie eine weit größere ist als je, und schon darum wird Jede künftige proletarische Revolution bei weitern schwieriger sein als jede bisherige Revolution. Es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu halten, daß in der bürgerlichen Revolution das treibende revolutionäre Bürgertum längst wirtschaftlich das Heft in Händen hatte, bevor die Revolution im engeren Sinne zum Ausbruch kam, daß es eine zahlreiche, ihm wirtschaftlich unterworfene und seinem politischen Einflusse preisgegebene Klasse für sich in das Feuer treiben und sich die Kastanien aus dem Feuer holen lassen konnte, daß es den alten Plunder des Feudalismus gewissermaßen erst angekauft hatte, bevor es ihn zertrümmerte oder in die Rumpelkammer warf, während das Proletariat alles, was dort mit Reichtum errungen ist, mit Hunger und mit den eigenen nackten Leibern erobern muß.
Zweiter Teil: ANTIMILITARISMUS
IV. Antimilitaristische Taktik
1. Taktik gegen den äußeren Militarismus [ ...]
Das letzte Ziel des Antimilitarismus ist die Beseitigung des Militarismus, das heißt: Beseitigung des Heeres in jeder Form, mit der dann notwendig alle die gekennzeichneten sonstigen Erscheinungen des Militarismus fallen, die sich im Grunde nur als Nebenwirkungen der Existenz des Heeres darstellen. Der Mantel fällt, der Herzog muß nach.
Dieses Ziel würde auch das Proletariat nur unter der Voraussetzung sofort verwirklichen dürfen, daß ein internationaler Zustand besteht, in dem jede Notwendigkeit, das Heer im Interesse des Proletariats zu verwenden, ausgeschlossen ist, wobei die Interessen des Proletariats den nationalen Interessen keineswegs zu widersprechen brauchen.
Die Notwendigkeit des Heerwesens auch für den Kapitalismus könnte, logisch betrachtet, beseitigt werden durch Beseitigung der Konfliktmöglichkeiten oder durch gleichmäßige internationale Wehrlosmachung.
Die Beseitigung der Konfliktmöglichkeiten hieße vor allem Beseitigung der Expansionspolitik, die, wie an anderer Stelle erwähnt in einer Vertrustung des Erdballs unter die Großmächte möglicher` weise dereinst ihren natürlichen Abschluß finden wird; es hieße auch, was jedoch am letzten Ende das nämliche wäre: Schaffung eines Weltbundesstaates.
Das ist aber vorläufig romantische Zukunftsmusik; alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Weltpolitik diesen ihren "Beharrungszustand nicht erreichen wird, bevor das Proletariat sein Endziel verwirklicht und seine Weltpolitik an Stelle der kapitalistischen gesetzt haben wird.
Und mit der internationalen Wehrlosmachung liegt es noch schlimmer. Sie bedeutet nicht nur ein Aufgeben des militärischen Wettrennens durch alle Militärstaaten und damit einen Verzicht auf die Gewinnchancen, die der eine oder der andere gerade der mächtigsten und auf das Zustandekommen einer solchen Wehrlosmachung einflußreichsten Staaten hat oder zu haben glaubt (daher der Vermittelungsvorschlag der verhältnismäßigen Kontingentierung der einzelnen Armeen!); sie bedeutet außerdem nicht mehr und nicht weniger als eine Preisgabe derjenigen internationalen Interessen, die die herrschenden Klassen, den Kapitalismus, zum Appell an die ultima ratio regum (das letzte Mittel der Könige) veranlassen könnten, das heißt aber gerade solcher Interessen, die vom Kapitalismus für höchst wichtig, ja für Lebensinteressen gehalten werden, besonders der Expansionspolitik. Der Glaube, daß all dies unter der Herrschaft des Kapitalismus vor Erreichung jenes natürlichen weltpolitischen Beharrungszustandes durchgesetzt werden könne, ist ein wahrer Köhlerglaube. Gewiß verstärkt sich der antiweltpolitische, weltbundesfreundliche Einfluß des Proletariats auf die äußere Politik auch in zurückgebliebenen Ländern mehr und mehr und mag zur Abschwächung der Kriegsgefahren, zur Friedhaftmachung der Weltpolitik beitragen; aber die Steigerung des proletarischen Einflusses steigert auch die Gefahr bonapartistischer Kunststücke, so daß zweifelhaft sein mag, ob auch nur die Summe der Kriegsmöglichkeiten vermindert wird, von ihrer Beseitigung aber keine Rede sein kann.
[ ... ]
Bis der wirtschaftliche und soziale Beharrungszustand, den die Sozialdemokratie erstrebt, die Aufhebung des Klassencharakters der Gesellschaft, international verwirklicht ist, gibt es Kriegsmöglichkeiten, denen sich auch die Sozialdemokratie, oder gerade die Sozialdemokratie, nicht verschließen kann. [ ... 1 Natürlich kann es infolge und im Verlaufe solcher Kriege zu Aufständen, zu Revolutionen kommen und jeder der Kriegsmächte die Notwendigkeit aufgezwungen werden, die Waffen gegen das eigene Proletariat zu kehren, und damit auch eine Interessensolidarität der herrschenden Klassen der kriegführenden Mächte gegen das Proletariat dieser Mächte zustande kommen: Das wird dann aber meist eine Tendenz zur Beendigung des Krieges auslösen. Und ebenso natürlich ist, daß jeder glückliche Krieg aus kapitalistischen Motiven, ob bezweckt oder nicht, bonapartistische Wirkungen zeitigt, während bei ungünstigem Verlauf der sicheren kulturellen Schädigung allerdings die Chance eines Zusammenbruchs der kapitalistischen Reaktion gegenübersteht. So ist für das Proletariat ein außerordentlich starker Antrieb zur Aktion gegen den Krieg gegeben. [ ... ]
Natürlich ist die Frage der grundsätzlichen Stellung zum Krieg von höchster praktischer Wichtigkeit und keineswegs eine theoretische Spintisiererei. Sie entscheidet sich auch nicht etwa von selbst, wenn ein konkreter Fall vorliegt; im Gegenteil: Gerade ein solcher konkreter Fall bringt mit der Erregtheit der Situation gar leicht eine Tendenz zur Verwirrung der klaren Einsicht. [ ... ]
Weiter ist in jedem einzelnen Fall neben der Frage, was grundsätzlich erwünscht, zu prüfen, was praktisch erreichbar ist. Und auch hier ist Herv6 von gefährlichen Illusionen durchdrungen. Zum Generalstreik und Militärstreik gegen jeden der Arbeiterklasse schädlichen Krieg ist die Zeit noch nicht reif. Herve ruft: Energische antimilitaristische und antipatriotische Agitation, und der Berg wird zu Mohammed kommen! Hier schillert er anarchistisch. Wir müssen sagen: Das Proletariat ist in seiner überwiegenden Masse noch nicht klassenbewußt, noch nicht sozialdemokratisch aufgeklärt, geschweige denn in jedem Fall für jene antipatriotische Aktion zu haben, die ebensoviel Opferwilligkeit und kalten Mut wie Besonnenheit im Strudel der leidenschaftlichsten chauvinistischen Brandung heischt. Ein voller Erfolg ist nicht zu erzielen; das Maß des Erfolges, der Wehrlosmachung, wird im direkten Verhältnis zu dem Maße an Schulung und Bildung stehen, deren die Arbeiterklasse jedes Landes teilhaftig ist: Das rückständigste Volk bleibt am wehrhaftesten. Eine Aktion dieser Art wäre so lange eine Prämie auf kulturelle Rückständigkeit, als nicht die Schulung und Kampfbereitschaft der großen Masse des Proletariats in den vom Kriege betroffenen Ländern fast gleichmäßig aufs höchste gesteigert ist. Organisation und allgemeine revolutionäre Aufklärung der Arbeiterschaft sind die Vorbedingungen für einen erfolgreichen General- und Militärstreik im Falle eines Krieges. Die bloße antimilitaristische Propaganda dazu zu verwenden wäre Phantastik.
Hier liegt es in der Tat für den Normalfall so: Wenn das Proletariat erst so weit ist, solche Aktionen durchführen zu können, ist es weit genug, sich die politische Macht zu erobern. Denn ungünstigere Verhältnisse zur Entfaltung der proletarischen Macht, als sie beim Kriegsausbruch normalerweise vorliegen, gibt es nicht.
3. Anarchistischer und sozialdemokratischer Antimilitarismus
Die Ursache der antimilitaristischen Bewegung ist für Anarchismus wie Sozialdemokratie insofern dieselbe, als beide in dem Militarismus ein besonders mechanisch‑gewalttätiges Hemmnis der Verwirklichung ihrer sozialen Pläne erblicken. Im übrigen ist sie für beide so verschieden, wie eben nur die anarchistische und sozialdemokratische Weltauffassung verschieden sind. Es kann hier nicht näher ausgeführt werden, wie wenig der Anarchismus den organisch kapitalistischen Charakter des Militarismus und die danach auf ihn anzuwendenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgesetze konsequent begreift. Hier liegt die Wurzel für alle übrigen wesentlichen Differenzen zwischen dem sozialistischen und dem anarchistischen Antimilitarismus, die sich kurz dahin zusammenfassen lassen: Der sozialdemokratische Antimilitarismus führt den Kampf gegen den Militarismus als gegen eine Funktion des Kapitalismus, in Erkenntnis und unter Anwendung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgesetze. Der Anarchismus betrachtet den Militarismus mehr als etwas Selbständiges, willkürlich‑zufällig von den herrschenden Klassen Hervorgebrachtes und führt den Kampf gegen ihn, wie überhaupt den Kampf gegen Kapitalismus, von einem phantastisch‑ideologischen Standpunkte aus, der die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsgesetze verkennt und, an der Oberfläche haftend, durch eine in der Luft schwebende Aufreizung der individuellen Entschließung, kurzum, auf individualistischern Wege den Militarismus aus dem Sattel zu heben sucht. Er ist eben nicht nur je nach seiner Spielart in verschiedenem Grade individualistisch in seinem gesellschaftlichen Ziele, sondern auch in seiner historischen, sozialen und politischen Auffassung und in seinen Mitteln.
Das Endziel ist für den anarchistischen wie für den sozialdemokratischen Antimilitarismus, wenn man sich mit einem Schlagwort begnügt, das gleiche: Beseitigung des Militarismus, und zwar des Militarismus nach außen wie des Militarismus nach innen. Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus ‑der letzten Klassengesellschaftsordnung ‑ zugleich kann der Militarismus fallen.
[ ... ]
Die sozialdemokratische antimilitaristische Propaganda ist Klassenkampfpropaganda und wendet sich daher grundsätzlich und ausschließlich an diejenigen Klassen, die im Klassenkampf notwendig Feinde des Militarismus sind, wenn sie natürlich auch die im Verlaufe der Zersetzung für sie abfallenden bürgerlichen Späne ganz gern sieht. Sie klärt auf, um zu gewinnen, aber sie klärt nicht auf über kategorische Imperative, humanitäre Gesichtspunkte, ethische Postulate von Freiheit und Gerechtigkeit, sondern über den Klassenkampf, die Interessen des Proletariats in dem Klassenkampf, die Rolle des Militarismus im Klassenkampf und die Rolle, die das Proletariat im Klassenkampf spielt und zu spielen hat. Sie folgert die Aufgaben des Proletariats gegenüber dem Militarismus aus den Klassenkampfinteressen des Proletariats. [ ... ]
V. Die Notwendigkeit
einer besonderen antimilitaristischen Propaganda
Die besondere Gefährlichkeit des Militarismus ist dargelegt. Dem Proletariat steht er als ein bis an die Zähne bewaffneter Räuber gegenüber, dessen Ultimatum aber nicht lautet: la bourse ou la vie Geld oder Leben! sondern, die Räubermoral übertrumpfend: la bourse et la vie: Geld und Leben! Er ist außer der großen künftigen eine stets gegenwärtige, stets verwirklichte Gefahr, auch wenn er nicht gerade zuschlägt. Nicht nur ist er der Moloch des Wirtschaftslebens, der Vampir des kulturellen Fortschritts, der Hauptfälscher der Klassengruppierung. Er ist auch der geheime oder offenbare letzte Regulator der Form, in der sich die politische und gewerkschaftliche Bewegung des Proletariats abspielt, der Klassenkampftaktik, die sich in allen wichtigen Fragen nach ihm als dem Hauptpfeiler der brutalen Macht des Kapitalismus richtet. [...]
Schwächung des Militarismus heißt Förderung der Möglichkeiten friedlich organischer Fortentwicklung oder wenigstens Einschränkung der Möglichkeiten gewaltsamer Zusammenstöße; sie heißt aber weiter und vor allem Gesundung, Auffrischung des politischen Lebens, des Parteikampfes. Schon der rücksichtslose und systematisierte Kampf an und für sich gegen den Militarismus führt zur revolutionären Befruchtung und Kräftigung der Partei, ist ein Jungborn revolutionären Geistes.
Aus alledem folgt die Notwendigkeit nicht nur einer Bekämpfung, sondern auch einer speziellen Bekämpfung des Militarismus. Ein so verzweigtes und gefährliches Gebilde kann nur durch eine ebenso verzweigte, energische, große, kühne Aktion gefaßt werden, die den Militarismus rastlos in alle seine Schlupfwinkel hinein verfolgt, toujours en vedette (stets auf dem Posten). Auch die Gefährlichkeit des Kampfes gegen den BL1itarismus zwingt eine soIche besondere Aktion auf, die elastischer und anpassungsfähiger sein kann als die allgemeine Agitation.
[ ... ]
Die Forderung einer solchen besonderen Propaganda hat ganz und gar nichts zu tun mit jener unhistorischen, anarchistischen Auffassung über den Militarismus. Wir sind uns aufs klarste der Rolle bewußt, die der Militarismus innerhalb des Kapitalismus spielt, und denken natürlich nicht im entferntesten daran, ihn über oder neben den Kapitalismus zu setzen, weil er eben nur ein Teil des Kapitalismus ist, ein Teil oder richtiger eine besonders schädliche und gefährliche Lebensäußerung des Kapitalismus. Aber unsre ganze Agitation richtet sich gegen die Lebensäußerungen des Kapitalismus, in denen er sich realisiert. Man kann das Gebiet des antimilitaristischen Kampfs gewissermaßen als ein besonderes neben dem des allgemeinen politischen Kampfs, neben dem des gewerkschaftlichen Kampfs, meinetwegen auch
neben dem des genossenschaftlichen und des Bildungskampfs, bezeichnen. Mit anderen Worten: Wir sind Antimilitaristen als Antikapitalisten.
VI. Der Antimilitarismus in Deutschland und die deutsche Sozialdemokratie
[ ... ]
Wiederholt ist dem Versuch, eine besondere antimilitaristische Propaganda in Deutschland ins Leben zu rufen, von einflußreichen Führern der Sozialdemokratie entgegengehalten worden, es gäbe keine sozialdemokratische Partei in der ganzen Welt, die soviel gegen den Militarismus kämpfe wie die deutsche Sozialdernokratie. Daran ist viel Wahres. Seit Bestehen des Deutschen Reiches wird im Parlament und in der Presse von der deutschen Sozialdemokratie die schonungsloseste Kritik an dem Militarismus, seinem gesamten Inhalt und all seinen Schädlichkeiten unablässig geübt, das Anklagematerial gegen ihn zu ungeheuren Scheiterhaufen aufgeschichtet und innerhalb der allgemeinen Agitation der Kampf gegen den Militarismus mit großem, zähem Nachdruck geführt,
Indessen, an wen wendet sich unsre allgemeine Agitation? Sie ist und war mit Fug und Recht und Notwendigkeit zugeschnitten auf den erwachsenen Arbeiter, die erwachsene Arbeiterin. Wir wollen aber nicht nur die erwachsenen Proletarier haben, sondern auch die Proletarierkinder, die proletarische Jugend. Denn die Zukunft der proletarischen Jugend ist das zukünftige Proletariat, ist die Zukunft des Proletariats. "Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft."
Hier wird wiederum eingeworfen: Wer die Eltern hat, der hat die Kinder dieser Eltern, der hat die Jugend! Allerdings wäre der ein jämmerlicher Sozialdemokrat, der seine Kinder nicht nach Kräften mit sozialdemokratischem Geiste durchtränken, zu Sozialdemokraten erziehen würde; und daß der Einfluß der Eltern ‑ in Verbindung mit dem Einfluß der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, unter denen die proletarische Jugend aufwächst und die als das schwerwiegendste, aber auch selbstverständlichste und durch die Parteitätigkeit nicht zu beeinflussende Agitations‑ und Aufklärungsmittel hier prinzipiell außer acht gelassen werden müssen ‑ mit allen Versuchen der Reaktion und des Kapitalismus, die kindliche Seele heimtückisch für sich einzufangen, spielend leicht fertig wird, entspricht selbstverständlich auch unsrer Auffassung. Aber damit ist die Sache noch durchaus nicht abgetan. Gerade eine klare Durchprüfung des obigen Gedankenganges zeigt, wo das Manko unsrer bisherigen Agitation liegt, das sich fortgesetzt vergrößert und dringend nach Deckung verlangt,
"Jeder Sozialdemokrat erzieht seine Kinder zu Sozialdemokraten"; aber doch nur nach besten Kräften. Hier ist das erste bedeutsame Manko. Wie viele Menschen verstehen überhaupt zu erziehen, selbst wenn sie Zeit und guten Willen haben, und wie viele sozialdemokratische Proletarier, selbst wenn sie den besten Willen haben, haben zur Erziehung die nötige Zeit, und wie viele haben die nötigen Kenntnisse, und bei wie vielen sind leider noch die Frauen und allerhand andere, in der Aufklärung zurückgebliebene Angehörige ein schwerwiegendes Gegengewicht gegen den etwaigen erziehlichen Einfluß des klassenbewußten Vaters. Hier muß noch an allen Ecken und Enden, wenn die Partei ihre volle Pflicht tun will, der häuslichen Erziehung zu Hilfe gekommen werden durch die allgemeinen Jugendbildungsbestrebungen und im besonderen auch durch eine besondere Jugendagitation, die notwendig eine antimilitaristische Spitze haben muß.
Aber weiter: Wie viele Proletarier sind wirklich aufgeklärte Sozialdemokraten, so aufgeklärt, daß sie ihrerseits andere über die Grundlagen der sozialdemokratischen Kritik und der sozialdemokratischen Bestrebungen aufzuklären vermögen? Und wie viele Proletarier sind in ruhigen Zeiten so opferbereit und rastlos, daß sie die zähe, mühselige, unablässige tägliche und alltägliche Erziehungsarbeit nach besten Kräften auch nur zu leisten gewillt sind? Und von diesen Viertel und Halbaufgeklärten und diesen Lauen, die eine ungeheure Masse bilden, abgesehen: Welch gewaltige Zahl von Proletariern steht der Sozialdemokratie überhaupt noch gänzlich fremd gegenüber. Hier liegt ein gewaltiges Feld voll von den besten proletarischen Keimen schier unübersehbar vor uns, dessen Beackerung und Bestellung keineswegs erst begonnen werden darf, wenn diese rückständigen Teile des erwachsenen Proletariats für uns gewonnen sind. Natürlich ist es leichter, die Jugend aufgeklärter Eltern zu bearbeiten, aber das beseitigt nicht die Möglichkeit und die Pflicht, auch den schwierigeren Teil der proletarischen Jugend in Bearbeitung zu nehmen.
Damit ist das Bedürfnis nach einer Jugendagitation außer Zweifel gerückt, und da diese Jugendagitation ihrer Bestimmung gemäß grundsätzlich mit anderen Mitteln entsprechend den andern Lebensverhältnissen, dem andern Verständnis, den andern Neigungen und dem andern Charakter der Jugend operieren muß, so ergibt sich die Folgerung, daß diese Agitation spezialisiert werden, eine besondere Rolle neben der allgemeinen Agitation zugeteilt bekommen und verständigerweise wenigstens in einem gewissen Umfange in die Hände besonderer Organe gelegt werden muß. Unsere Agitation ist nun einmal mit dem Wachstum des Umfanges und der Aufgabe der Partei und mit dem Immernäherrücken entscheidender Kämpfe eine so außerordentlich umfangreiche und verzweigte geworden, daß die Notwendigkeit der Arbeitsteilung sich immer mehr aufzwingt, einer Arbeitsteilung, deren relative, aber auch nur relative Bedenklichkeit wir durchaus nicht verkennen.
Und nun noch einen Schritt weiter. Innerhalb der Jugendagitation wiederum fällt der antimilitaristischen Agitation eine ganz besondere und eigentümliche Rolle zu. Sie muß sich wenden an Kreise, die den Jugendbildungsbestrebungen der Sozialdemokratie vielfach nicht zugänglich sind; sie muß weit ausgreifen, viel mehr, als dies allgemeine Bildungsbestrebungen vermögen, auch diejenigen Teile der proletarischen Jugend, die nicht zum Besuch von Arbeiterbildungsschulen, Unterrichtskursen, Vortragszyklen und nicht zu regelmäßigem Lesen der allgemeinen Jugendliteratur zu bewegen sind, erfassen; sie muß sich auch wenden an diejenigen jugendlichen Proletarier, die nach ihrem immerhin höheren Alter für diese allgemeinen Bestrebungen nicht mehr leicht in Frage kommen. Ja, ihr eigentliches Gebiet sind gerade die Altersklassen von 17 bis 21 Jahren! Sie trägt auch einen weit mehr agitatorischen Charakter als jene allgemeinen Bildungsbestrebungen. Sie muß in ihren Formen von den Formen dieser abweichen, wenigstens zu einem Teil. Sie ist auch wegen ihrer ganz besonderen Gefährlichkeit am besten mit jenen allgemeinen Bestrebungen nicht zu verkoppeln: einerseits um diese allgemeinen Bestrebungen selbst nicht mehr als unbedingt nötig zu erschweren und zu diskreditieren, andererseits um zu sichern, daß die Gefahren der antimilitaristischen Agitation unter der Leitung speziell geschulter und mit allen Fußangeln vertrauter Personen nach Kräften vermieden werden. Und schließlich ist gerade das antimilitaristische Material ein so kolossales und zersplittertes man denke zum Beispiel der Soldatenmißhandlungen, der militärischen Justiz usw. , daß auch hier eine Arbeitsteilung, eine Spezialisierung einfach im Interesse einer möglichsten Ausnutzung alles verfügbaren Stoffes liegt; und nicht nur der Ausnutzung, sondern auch der Sammlung, Sichtung und Bearbeitung.
Gerade das letztere Argument zeigt, daß die antimilitaristische Agitation auch unter den Erwachsenen durch eine Spezialisierung dieser Agitation noch gar vielerlei gewinnen kann.
Also: Arbeitsgelegenheit, lohnende Arbeitsgelegenheit in Fülle
Wie dem auch sei: Die deutsche Sozialdemokratie darf sich der Erkenntnis nicht länger verschließen, daß gegenüber dem Militarismus das Wort gelten muß: Si vis pacern, para bellum! Beginne so früh wie möglich mit der antimilitaristischen Propaganda, um die Gefährlichkeit des Militarismus für das Proletariat von vornherein nach Möglichkeit zu mindern!
Und die besondere Schwierigkeit dieser Propaganda in Deutschland darf hier wahrlich kein Grund zu ihrer Verzögerung, sondern muß ein Ansporn zu ihrer Beschleunigung sein.
Reif genug ist das deutsche Proletariat nunmehr, und die allgemeine innerpolitische Situation, unter der das deutsche Proletariat seufzt, ist dreimal reif.
VII Die antimilitaristischen Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie
Die deutsche Sozialdemokratie hat keineswegs auch nur in bezug auf die Sammlung des Anklagematerials gegen den Militarismus genug getan. Nur das Militärbudget, die Steigerung der unmittelbaren Militärlasten und der Präsenzstärke sind des öfteren eingehender zusammengefaßt dargestellt. Aber schon der Zusammenhang zwischen den Militärlasten und der Zoll‑ und Steuerpolitik harrt noch einer eingehenden Untersuchung. Was vor allem aber fehlt, sind zusammenfassende Darstellungen der Militärmißhandlungen, der Leistungen der Militärjustiz, der Soldatenselbstmorde, der Gesundheitsverhältnisse in der Armee, der Dienstbeschädigungen, der Gehaltsund Pensionsverhältnisse, sodann der Verwendung von Soldaten zur Lohndrückerei und der hierauf bezüglichen Korpserlasse, der Verwendung von Soldaten und zur Entlassung kommender Soldaten als Streikbrecher, weiter der militärischen und der bewaffneten polizeilichen Eingriffe in Streiks, der hierbe4 gefallenen Opfer, des Militärboykottwesens, des militärischen Eingreifens bei politischen Aktionen, der Ausnutzung der Kriegervereine im sozialpolitischen und politischen Kampf, ferner der Leistungen des Militarismus auf allen diesen Gebieten, insbesondere im wirtschaftliichen und politischen Kampf, in andern Ländern, wobei, soweit angängig, je ein besonderes Konto für den Landmilitarismus, den Marinismus und den Kolonialmilitarismus anzulegen sein wird. Es fehlt auch eine genügende Kenntnis und Zusammenstellung des auf die militaristischen Jugendvereine der Gegner bezüglichen Materials und dessen, was sich auf die antimilitaristische Bewegung und deren Bekämpfung bezieht.
Die laufende Sammlung, Sichtung und vergleichende Bearbeitung all dieses Materials muß systematisch in die Hand genommen werden, so nebenher in der allgemeinen Agitation ist das nicht möglich.
Dieses Material wird natürlich zunächst innerhalb der allgemeinen Agitation, im Parlament, in der Presse, in allgemeinen Flugblättern und Versammlungen zu verwerten sein. Es muß aber auch nach ganz bestimmten Stellen gelenkt werden, in ganz bestimmte Kanäle geleitet werden, um die für den Antimilitarismus besonders wichtigen Schichten der Bevölkerung mit ihm zu durchtränken, zu befruchten. In erster Linie kommt hier nicht die noch nicht militärpflichtige Jugend selbst in Frage, sondern die Eltern, besonders die Mütter, die für die antimilitaristische Jugenderziehung systematisch zu mobilisieren sind; ebenso die älteren Arbeiter, deren Einfluß auf die jugendlichen Arbeiter und Lehrlinge in dieser Richtung nach Möglichkeit auszunutzen ist. Und schließlich gilt es, den Kampf gegen die Kriegervereine nachdrücklicher und planmäßiger zu gestalten.
Die Agitation wird nirgends direkt oder indirekt zu militärischem Ungehorsam auffordern dürfen, sondern ihren Zweck vollständig erfüllen, wenn sie Klarheit über das Wesen des Militarismus und seine Rolle im Klassenkampf schafft und wenn die Empörung und der Abscheu gegen ihn, durch wirkßame Darstellungen seiner volksfeindlichen Eigenschaften und Taten erweckt werden.
Wo die Gesetze es zulassen, werden Hauptträger dieser Propaganda die Jugendorganisationen sein müssen, die freilich schon durch Förderung des Klassenbewußtseins an und für sich den Militarismus oder die militaristische Gesinnung untergraben. Die Jugendvereine werden durch Zeitungen, durch Broschüren, Flugblätter, durch Vorträge, Vortragszyklen und Unterricht den antimilitarist!sehen Geist in der dem Jugendverständnis angemessenen Form immer mehr zu verbreiten haben. Festlichkeiten und künstlerische Veranstaltungen werden zu dem gleichen Zweck auszunutzen sein. Die Mitglieder der Vereine wiederum werden zu Propagandisten des Antimilitarismus erzogen werden müssen. Durch die Agitation von Mund zu Mund unter ihren Klassen‑ und Altersgenossen, durch Weiterverbreitung ihrer Literatur wird die Familie, werden Verwandte und Freunde und wird die Werkstatt und Fabrik von den Mitgliedern der Jugendorganisationen zu Rekrutierungsgebieten des Antimilitarismus gemacht werden.
Die Jugendorganisation selbst aber hat ihre Agitation nicht nur auf die Mitglieder zu beschränken, sondern in einen möglichst weiten Kreis hinauszutragen. Sie hat sich an die Gesamtheit der jugendlichen Arbeiter zu wenden. Ihr liegt es auch ob, die älteren Arbeiter in der oben beschriebenen Weise heranzuziehen. Durch die Presse, durch Flugblätter, Broschüren, allgemeine Versammlungen, öffentliche Vorträge, künstlerische Veranstaltungen, Feste und dergleichen, die sowohl für die Jugend im allgemeinen wie für die Erwachsenen zu veranstalten sind und bei denen diese für die antimilitaristische Jugendagitation zu gewinnen sind, ist systematisch zu wirken. Die Rekrutenabschiede und Demonstrationen aller Art, wo sie zulässig sind, müssen dem gleichen Zweck dienen.
Daneben muß die Partei sich, wie bisher, aber in immer verstärktem Maße, systematisch der Soldaten und auch der Unteroffiziere annehmen, ihre materiellen und sozialen (dienstlichen) 13 Interessen in Presse und Parlament energisch vertreten und so in gesetzlich nicht zu beanstandender Weise die Sympathien dieser Kreise zu erwerben suchen.
Die Gründung besonderer Vereinigungen ehemaliger Militärs nach Art der belgischen und holländischen, mit der besonderen Aufgabe, den Kriegervereinen entgegenzutreten, dürfte in Deutschland nicht angezeigt sein: Die allgemeinen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen genügen hier.
Betrachten wir, was in anderen Ländern geschehen ist, so sehen wir, wieviel uns zu tun hier noch übrigbleibt, und überfliegen wir das obige Programm, so erkennen wir, daß die Partei, mag sie noch soviel auf antimilitaristischem Gebiet getan haben, doch nur gerade erst begonnen hat, ihre Schuldigkeit zu tun, daß sie gewissermaßen noch in den Kinderschuhen der antimilitaristischen Propaganda steckt.
Daß alle jene vielfältigen Aufgaben nicht von einer Zentralstelle aus erfüllt werden können, liegt auf der Hand, ebenso aber, daß sie von einer Zentralstelle aus geleitet und kontrolliert werden können und müssen. Die Einrichtung eines Zentralausschusses zu diesem Zweck erscheint als ein Gebot der Notwendigkeit auch schon um deswillen, weil nur so die vorsichtige Ausnutzung aller gesetzlichen Agitationsmöglichkeiten gesichert werden kann.
Wie ein weitverzweigtes Netz soll sich die antimilitaristische Propaganda über das ganze Volk breiten. Die proletarische Jugend muß von Klassenbewußtsein und von Haß gegen den Militarismus systematisch durchglüht werden. Der jugendliche Enthusiasmus wird die Herzen der jungen Proletarier einer solchen Agitation begeistert entgegenschlagen lassen.
[ ... ]
Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften"Bd. I, S. 267-269, 274-278, 288-291, 322-330, 357-361, 419-424, 431-432, 434, 440-441, 444-448, 451, 452-456.
2 Vgl. Hamburger Nachrichten" vom 3. November 1906.
3 Die Opfer der Kriege von 1799 bis 1904 (außer dem RussischJapanischen) an Menschenleben werden auf etwa 15 Millionen veranschlagt.
4 Vgl. Fußnote S. 115 des vorliegenden Bandes und Moltke, "Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten", Bd. II, S. 288. Danach soll der Krieg die Sittlichkeit und Tüchtigkeit bis aufs äußerste steigern, besonders die moralische Energie fördern.
5 Auch die Aufgabe, die bestehende Innere Ordnung zu verbarrikadieren, fällt dem Militarismus nicht nur in der kapitalistischen, sondern in allen Klassengesellschaftsordnungen zu.
6 Vgl. den französischen Kulturkampf während des Konflikts vom Dezember 1906.
7 Vgl. die oberschlesischen Wahlkrawalle von 1903.
8 Vgl. dazu die bewegliche Klage Caprivis in der Reichstagssitzung vom 27. Februar 1891.
10 Vgl. die "Rheinisch-Westfälische Zeitung" vom 5. Dezember 1906.
11 Wenn du den Frieden willst, rüste zum Krieg. Die Red.
12 Wenn du den Krieg willst, rüste im Frieden. Die Red.
13 Besserung von Besoldung, Verpflegung, Bekleidung, Unterkunftsräumen, Behandlung, Erleichterung des Dienstes, Bekämpfung der Mißhandlungen, Reform des Beschwerde, des Disziplinar- und Strafrechts sowie der Militärjustiz usw.
2. Aus: Bericht über die Rede auf der
Ersten Internationalen Konferenz der
Sozialistischen Jugendorganisationen in Stuttgart
26. August 1907
Jugend im Kampf gegen den Militarismus
Der Militarismus ist aber nicht nur die Armee in ihren verschiedenen Gestalten. Er greift auch weit aus in die bürgerliche Welt, unser ganzes öffentliches Leben umklammernd und bis in seine feinsten Fasern durchdringend. Er ist ein ungeheurer raffinierter Apparat zu dem Zwecke, sich den natürlichen Entwicklungsgesetzen entgegenstellend, die menschliche Gesellschaft autokratisch und souverän im Interesse des Kapitalismus und überhaupt der herrschenden Gewalten nach seinem Bilde, nach seinem Willen einzurichten.
Schließlich besitzt der Militarismus als Arbeitgeber ein beträchtliches Mittel zur Beeinflussung der Bevölkerung. Ein großes Arbeiterheer ist ihm untertan. Die Militärlieferanten haben ihre recht kräftigen Hände unmittelbar mit an der Kurbel unserer Staatsmaschinerie. Wenn sie auch schon beim bewaffneten Frieden ihr Schäflein scheren, so winkt ihnen im Kriege hundertfältigen Frucht. Daher sind sie ganz gefährliche Kriegstreiber.
[ ... ]
Wir erkennen aus alledem, wie der Militarismus durch seine innere Dialektik unterwühlt und schließlich zerstört werden muß. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für uns? Sollen wir im Vertrauen auf diese Dialektik die Hände in den Schoß legen? Ein solcher Fatalismus wäre nicht nur identisch mit der Verneinung jedes politischen Kampfes überhaupt, er würde auch der gröbste Bock gegenüber den Lehren der materialistischen Geschichtsbetrachtung sein. Auch der Kapitalismus stirbt an seiner inneren Dialektik, und doch gibt es schwerlich einen Narren, der daraus folgert, das Proletariat müsse nunmehr nur den Mund aufsperren und warten, bis ihm die gebratenen Tauben des Zukunftsstaates in den Mund fliegen. Nein, Genossen, wir dürfen nie vergessen, daß wir selbst ein Stück jener inneren Dialektik sind und gewiß nicht das geringste. Das Klassenbewußtsein des Proletariats ist ein Entwicklungsfaktor von größter Energie, gerade auch in bezug auf den Militarismus, das ist oben dargelegt.
Die Herausbildung des Klassenbewußtseins einschließlich der internationalen Solidarität fördern, kurz. Aufklärung des Proletariats ‑ das heißt: die innere Dialektik gerade auch des Militarismus vorwärtstreiben. In dieser Auffassung liegt nicht etwa der Schnitzer, daß der Agitation, der Propaganda die Rolle einer willkürlichen, aus freier individueller Entschließung unternommenen Beeinflussung eines Entwicklungsfaktors, nämlich des proletarischen Klassenbewußtseins, zugeschrieben wird. Im Gegenteil, auch die Agitatoren, die Propagandisten des proletarischen Klassenbewußtseins, sind notwendige Produkte der ökonomischen Entwicklung, des Klassenkampfes und samt ihrer propagandistischen Tätigkeit wesentliche Faktoren jener inneren Dialektik. Auch die Schlagfertigkeit und die Begeisterung des Proletariats sind Machtfaktoren kräftiger Art und darnit Faktoren der inneren Dialektik.
Also, nicht Fatalismus, sondern Organisationsarbeit und Durchtränkung des Proletariats mit revolutionärer Begeisterung! Nur eben in diesem Sinne fordern wir allgemein einen besonders nachdrücklichen, speziell organisierten antimilitaristischen Kampf. Aber in diesem Sinne fordern wir ihn als eine Notwendigkeit,
Der Antimilitarismus ist durchaus nur Waffe, nur Mittel zum Zweck der Beseitigung eines schweren Entwicklungshindernisses. Er muß daher seine Form und Art allenthalben je nach der Form und Art des zu bekämpfenden Militarismus einrichten. Eine Uniformierung wäre Torheit und unmöglich. Nur ein Minimum kann für alle Verhältnisse festgelegt werden.
Das wesentliche Ziel der antimilitaristischen Propaganda ist die Zermürbung und Zersetzung des militaristischen Geistes zur Beschleunigung der organischen Zersetzung des Militarismus. Aufklärung des Proletariats über das Wesen des Kapitalismus, des Militarismus und seiner besonderen Funktionen innerhalb des Kapitalismus, das ist die Grundlage, das breite Fundament eines den möglichen Antimilitarismus, ein Fundament, an das weder Polizei noch Justiz ernstlich herankommen.
Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. II, S. 57 ff
Aus: Zweite Internationale Konferenz der Sozialistischen Jugendorganisationen
Kopenhagen, 4. und 5. September 1910
Thesen
Der äußere Militarismus
Der kapitalistische Militarismus ist, soweit er sich nach außen richtet, in erster Linie eine Waffe im internationalen Konkurrenzkampf, einmal um die Absatzmärkte, sodann um die Gebiete mit besonders günstigen natürlichen Produktionsbedingungen und mit besonders wertvollen, für die kapitalistische Produktion geeigneten Naturschätzen und Arbeitskräften, und damit ein Werkzeug zur Ausraubung der Völker, die derartige Gebiete besitzen, also ein Werkzeug zum Zweck ursprünglicher Akkumulation, zumeist gegen Völkerschaften niedriger Kultur angewandt (Kolonialpolitik). Er dient auch mittelbar diesen Zwecken oder der Beseitigung innerer Schwierigkeiten des Staatswesens, wenn er zu Eroberungen verwendet wird, die zunächst zur Konsolidation und Erweiterung der politischen Macht des Staates erfolgen.
Die internationale Spannung steigert sich mit der Zunahme der kapitalistischen Konkurrenz. Mit der Ausbildung der Weltwirtschaft aber nehmen die Internationalisierung des Kapitals und aller Lebensbedingungen und die gegenseitige wirtschaftliche und allgemeine kulturelle Abhängigkeit der einzelnen Staaten zu. Das materielle und politische Risiko eines Krieges wächst ins Ungeheure. Die internationalen Verwicklungen werden immer unübersehbarer, die internationalen Interessengegensätze und Übereinstimmungen stets schwerer erkennbar. Die Ungewißheit der weltpolitischen Lage führt jedoch zu immer größerer Nervosität und Unruhe. Die Schraube ohne Ende des wahnsinnigen Wettrüstens und der schweren militärischen Lasten verstärkt im Verein mit der wachsenden innenpolitischen Unsicherheit die Unerträglichkeit dieses Zustandes. Militaristische Cliquen und einflußreiche militaristische Interessenten, Lieferanten usw. hetzen die chauvinistischen Instinkte der Völker gewissenlos gegeneinander. So wird ungeachtet aller Tendenzen zu einer friedlichen Verständigung der heuchlerisch als Friedenshort gepriesene äußere Militarismus trotz aller Austauschprofessoren, trotz aller Entrevuen, Monarchenbesuche und Monarchenküsse, trotz aller Friedensbeteuerungen und internationalen Höflichkeiten und trotz aller Bündnisse "zur Erhaltung des Friedens" zu einer immer ernsteren, selbständigen Kriegsgefahr.
Der innere Militarismus
Auch die Bedeutung des inneren Militarismus nimmt mit der Fortentwicklung des Kapitalismus schnell zu. Die wachsenden Klassengegensätze, das stets fortschreitende Klassenbewußtsein des Proletariats, das immer mehr die übergroße Mehrheit des Volkes bildet, die stets heftiger werdenden wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den herrschenden Klassen und dem Proletariat, nötigen die herrschenden Klassen immer mehr, ihre oligarchische Herrschaft auf das Gewaltmittel des Militarismus zu stützen. Hierbei verbündet sich die kapitalistische Klasse mit den Überbleibseln der herrschenden Klassen früherer Entwicklungsperioden und zieht alle wirtschaftlich rückständigen Elemente der Bevölkerung zu ihrer Hilfe heran.
Kirche und Schule, Wissenschaft und Kunst werden von den herrschenden Klassen in den Dienst gestellt, um im Proletariat nach Kräften denjenigen Geist, diejenige Gesinnung zu sichern und zu erzeugen, die ihnen im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft wünschenswert erscheinen. Die Klassenjustiz dient als Gewaltmittel zum gleichen Zweck der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Polizei und Gendamerie sind Spezialtruppen mit derselben Aufgabe. Das letzte und stärkste Gewaltmittel jedoch ist die Armee; sowohl in den wirtschaftlichen wie in den politischen Kämpfen gegen das Proletariat wird sie als Ultima ratio in täglich stärkerem Maße zur Verwendung gebracht, und zwar, in Ländern mit freiheitlicher Verfassung nicht minder als in konstitutionellen Monarchien und in Despotien. Auch in den innerpolitischen religiösen, nationalen und Rassenkämpfen dient die Armee als letztes Mittel der herrschenden Gewalten. Ihre Rolle in der großen Auseinandersetzung des, Proletariats mit den ausbeutenden und unter drückenden Schichten überragt jedoch an Bedeutung diese sporadischen und zufälligen Funktionen bei. weitem.
Ein raffiniertes System der sozialen und politischen Verdummung und Verwirrung, der Demoralisation und der Korruption, des Drills und der Brutalisierung setzt ein. Mit dem Zuckerbrot alles erdenklichen militärischen Firlefanzes und der, freilich auch das Proletariat zum Kampf gegen den Militarismus aufpeitschenden Peitsche der militärischen Disziplin, der Militärjustiz und der Soldatenmißhandlungen wird gearbeitet. Verlogene Ideale sucht man unter schnödem Mißbrauch auch der edelsten menschlischen Eigenschaften, der Selbstlosigkeit, der Aufopferungsbereitschaft, der Hochherzigkeit und Begeisterungsfähigkeit, und unter Ausnützung aller menschlichen Kleinlichkeiten und Schwächen in die Köpfe und Herzen der Söhne des Proletariats einzupflanzen. Dieses heuchlerische, infame Erziehungssystem versagt sich natürlich auch nicht die Ausnutzung der Religion und der Kirche für seine Zwecke.
Die Herausbildung eines, hündischen Kadavergehorsams und eines Landsknechtsübermutes gegen die Masse der Zivilbevölkerung ist das erstrebte Ziel, das die Soldaten geeignet machen soll, Streikbrecherdienste zu leisten und bei wirtschaftlichen und politischen Konflikten. auf die eigenen Klassengenossen, auf Vater, Mutter und Geschwister zu schießen.
Der innere Militarismus setzt sich aber nicht nur die Herandrillung einer zur gewaltsamen Niederwerfung des inneren Feindes geeigneten Armee zur Aufgabe, sondern auch eine Beeinflussung der gesamten Bevölkerung im Interesse der herrschenden Mächte. Auch dies gilt beim inneren Militarismus in noch höherem Grade als beim außeren. [... ] Das Erziehungssystem des inneren Mlitarismus sucht den Mannschaften nach Kräften auch diejenigen geistigen und moralischen Eigenschaften anzudrillen, die sie nach ihrer Entlassung geeignet machen, den herrschennden Klassen in wirtschaftlicher und politischer Beziehung als nützliche Elemente zu dienen.
[...]
Krieg dem Kriege
Der äußere wie der innere Militarismus ist ein Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen für die Interessen der herrschenden Klassen. Er ist die festeste Schutzwehr und das wirksamste Unterdrückungs‑ und Ausbeutungsinstrument der herrschenden Klassen. Er gibt diesen die Möglichkeit, auch gegen den Willen der großen Mehrheit des Volkes wenigstens für geraume Zeit ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und ist ein Hindernis der friedlich‑organischen Fortentwicklung der Gesellschaft. Er ist eine immer unerträglichere wirtschaftliche, politische und moralische Last für die Masse des Volkes und eine Gefährdung des Völkerfriedens.
Das Proletariat, der Feind und künftige Überwinder aller Ausbeutung und Unterdrückung, der Träger der internationalen proletarischen Solidarität und des Völkerfriedens, ist der geborene Feind des Militarismus, der geborene Träger des Antimilitarismus als eines Teiles des allgemeinen internationalen Befreiungskampfes des Proletariats. Das Proletariat steht der Klassenherrschaft und dem heutigen Staat, jener Zwangsorganisation des Volkes im Interesse der herrschenden Klassen, die sich gegen das Proletariat und gegen die organische Fortentwicklung des Volksganzen richtet, unversöhnlich gegenüber. Es erklärt dem Kriege den Krieg und beantwortet den von den herrschenden Klassen ausgestreuten Chauvinismus und ihre Kriegstreiberelen, indem es sich die Hände über alle Grenzen hinweg zustreckt mit dem Gelöbnis der internationalen Solidarität und der Kampfesbrüderschaft gegen jene heute herrschenden Gewalten, den gemeinsamen Feind.
Der Kampf gegen den Militarismus befruchtet den Emanzipationskampf des Proletariats und ist besonders geeignet, alle revolutionären Energien zu entfesseln; er trägt dazu bei, den herrschenden Klassen das Gefühl der Sicherheit und damit einen Teil ihrer Widerstandskraft zu rauben.
Er verfolgt das Ziel, den Militarismus nach außen und innen für die herrschenden Klassen und gegen das Proletariat untauglich zu machen. Die Zersetzung der für den Militarismus erforderlichen Psychologie in der Gesamtbevölkerung, insbesondere in allen unter dem Militarismus seufzenden Schichten des Volkes, in allen zu seiner Stütze dienenden Einrichtungen und Organisationen und in der Armee selbst, und die Ersetzung dieser Psychologie durch die den Interessen des Proletariats entsprechende ist der Weg zu diesem Ziel. Die hierzu erforderlichen und geeigneten Methoden haben sich je nach den besonderen Bedürfnissen und Möglichkeiten der einzelnen Länder zu richten. Die grundlegenden sind: unermüdliche Aufklärung über das wahre Wesen des Militarismus und seiner Helfershelfer; unablässige Brandmarkung der militaristischen Schädlichkeiten und Ausschreitungen; Propaganda für alle zur Abschwächung des Militarismus geeigneten Maßregeln (Schiedsgerichte, Abrüstung, Volksheer) und Erziehung des Proletariats im Geiste des Sozialismus zum proletarischen Klassenstolz, zur internationalen proletarischen Solidarität und zum Bewußtsein, daß der Soldat, wenn er den bunten Rock anzieht, den Bürger nicht auszieht; Förderung kühner und rücksichtslosester Opferbereitschaft und Opfertreudigkeit; kurzum, Ausbreitung, Veredelung, Vertiefung und Anfeuerung des Klassenkampfgeistes, in dessen Zeichen das Proletariat allein siegen kann. Die Erziehung der Jugend in diesem Geiste ist eine der wichtigsten Aufgaben der. kämpfenden internationalen Proletariats. Die selbständige Jugendbewegung des Proletariats wiederum ist das wertvollste Mittel zu dieser Erziehung.
[ ... ]
Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. III, S. 469, 474/475, 478‑482
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen