Sonntag, 8. Februar 2015

Soziologe Lessenich: "Das Recht auf Faulheit ist zeitlos"

Genug gearbeitet! Drei Stunden am Tag reichen für ein gutes Leben für alle, meinte der französische Sozialist Paul Lafargue Ende des 19. Jahrhunderts und kämpfte für ein "Recht auf Faulheit ". Ja darf man das denn fordern? Muss man sogar, meint der deutsche Soziologe Stephan Lessenich über einen Zustand, der unter Sündenverdacht steht O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Kunst und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit! (Paul Lafargue, 1880) STANDARD: Paul Lafargue, französischer Sozialist, Arzt und überdies Schwiegersohn von Karl Marx, schrieb 1880 die Streitschrift "Das Recht auf Faulheit". Jetzt haben Sie einen Essay zu deren Neuerscheinung verfasst und sagen, der Text sei "ein politisches Signal zur rechten Zeit". Inwiefern? Lessenich: Wir leben in einer Zeit, in der immer weitere Anstrengungen unternommen werden, um die Produktivität und das Wirtschaftsprodukt jedes Jahr zu steigern. Da stellt sich schon die Frage, wie viel Wachstum diese Gesellschaft und diese Welt eigentlich noch vertragen oder ob nicht absolute Grenzen der Belastung, der Umwelt, aber auch der Menschen, die für diese Produktivitätssteigerung sorgen müssen, erreicht sind. Daher glaube ich, dass die Idee eines Rechts auf Faulheit, was ja nichts anderes heißt, als den Produktivitätszirkel zu durchbrechen, gerade heute aktuell ist. Diese Forderung ist zeitlos. STANDARD: Was hat Lafargue mit dem "Recht auf Faulheit" eigentlich konkret gemeint, bzw. was von seiner Kritik am Arbeitsbegriff seiner Zeit lässt sich auf heute übertragen? Denn der Kampf um Arbeitsplätze gehört ja zum rhetorischen Alltagsarsenal so gut wie aller Politiker. Das Arbeitsplatzargument sticht jedes andere. Lessenich: Das Recht auf Faulheit ist eine polemische und provokative Umschreibung eines zunächst ziemlich reformistisch anmutenden Gedankens, nämlich einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung. Im Grunde genommen ist die Idee schon 1883 bei Lafargue: Es wird so viel produziert, dass es eigentlich reichen würde, um bei angemessenen Verteilungsstrukturen alle Menschen dieser Gesellschaft mit einem Einkommen zu versorgen, das ihnen den Lebensunterhalt sichert - und vielleicht noch etwas darüber hinaus. Woran er sich stößt, ist diese endlose Dynamik des Immer-mehr und Immer-weiter auf Grundlage eines Wohlstandsniveaus, welches das gar nicht mehr rechtfertigt und nicht mehr nötig machen würde. Deswegen die Idee, dass man die gesellschaftlich notwendige Arbeit erbringen sollte, dass das aber auch mit deutlich weniger Arbeits- und Zeitaufwand möglich wäre. STANDARD: Lafargue wirft insbesondere der Arbeiterbewegung ja vor, dass sie sich der "Religion der Arbeit" unterworfen habe. Was ist schlecht daran, lieber Arbeit als keine zu haben? Lessenich: Lafargues Kritik an der Arbeiterbewegung ist, dass sie sich zum Instrument einer bürgerlichen Arbeitsethik machen lässt, die letztlich darauf beruht, andere für sich arbeiten zu lassen. Das ist natürlich auch etwas ungerecht, weil der Arbeitsdrang der potenziellen Arbeitnehmer sehr nachvollziehbar ist. Lohnabhängig beschäftigt zu sein ist in dieser Gesellschaft, so wie sie verfasst ist, eine Existenznotwendigkeit, und dass die Arbeiter nach Arbeit streben, ist im Kontext unserer Vergesellschaftungsform kein Wunder und in dem Sinne auch nicht zu kritisieren. Aber ich glaube, wo er den Finger schon richtig in die Wunde legt, das sind die Ausuferungen, Übertreibungen und Irrationalitäten, die dieses System gesellschaftlicher Arbeit angenommen hat. STANDARD: Brechen wir es auf die moderne kapitalistische Arbeitsgesellschaft herunter: Lafargue forderte, "ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten". Was hieße das heute? Lessenich: Interessant ist, dass Lafargue, der ja leicht anarchische Züge hat, das "eherne Gesetz" fordert. Das kann ja eigentlich nur durch eine staatliche Instanz erlassen und kontrolliert werden. Man kann auch sagen, eine Instanz, die die Leute zu ihrem Glück zwingt. Ich glaube, was wir brauchen, ist eine Kulturrevolution, die durch politisches Handeln unterstützt werden kann. Dazu würde komplementär zum Recht auf ein bedingungsloses Einkommen, das ja schon lang debattiert wird, ein Recht auf bedingungslose Zeitautonomie gehören. Es müsste normal werden, dass die alltägliche Zeitgestaltung nicht mehr ausschließlich oder in allererster Linie unter dem Diktat der Arbeit steht, sondern dass man tatsächlich so etwas wie souveränes Zeithandeln von Menschen ermöglicht, und zwar auf der Grundlage, auf der auch Lafargue argumentiert, nämlich dass wir jedenfalls in den spätindustriellen Gesellschaften des Westens tatsächlich ein Produktivitätsniveau erreicht haben, um Arbeitszeit massiv reduzieren zu können. Wir haben einen Punkt erreicht, der nicht nur unter ökologischen Gesichtspunkten verheerend ist, auch unsere Lebensqualität leidet unter diesem Wachstumsdiktat massiv. Jeder, der ehrlich zu sich ist, wird eingestehen, dass er oder sie etwas mehr Zeit für sich, für die anderen und womöglich auch für gesellschaftlich nützliche Aufgaben gut gebrauchen könnte. STANDARD: Sie schreiben, die Forderung nach Faulheit war und ist eine "Provokation". Wer hat Grund, gegen kollektive Faulheit zu sein? Die, die jetzt wirklich faul sein können, weil ihr Geld für sie "arbeitet"? Lessenich: Schon Lafargue wies darauf hin, dass die Arbeiterbewegung dem Kapital auf den Leim geht, weil sie sich eine Arbeitswut einpflanzen lässt und zur ersten Verfechterin der Arbeit und deren zeitlicher Ausdehnung wird, die letztlich den Kapitaleignern nutzt, die mit wenig Arbeit viel Ertrag realisieren und andere für sich arbeiten lassen können. Damit ist die zentrale Ungleichheitsachse kapitalistischer Gesellschaften genannt. Arbeitszeitverkürzung heißt ja auch eine gerechtere Verteilung der Arbeitszeit, der Verteilung der Lasten, die zu erbringen sind, um unseren Lebensstandard, unser Muster der Lebensführung aufrechtzuerhalten. Das ist natürlich auch mit massiven Notwendigkeiten der Umverteilung der Einkommen verbunden. STANDARD: Lafargues Hoffnungen, dass seine Utopie realisiert würde, lagen im Wirken der Märkte und der Maschinen. Dass also "Gott Fortschritt" als Folge von Arbeit und Fleiß dafür sorgen würde, dass nicht mehr so viel Arbeit für die Menschen zu tun übrig bliebe. Diese Hoffnung hat sich aber nicht erfüllt. Warum nicht? Lessenich: Lafargue dachte Maschinisierung als Kampfbegriff, als ob man mit technologischen Revolutionen immer weniger Arbeiter bräuchte. Das hat sich nicht bewahrheitet. Alle technologischen Revolutionen, einschließlich der jüngsten informations- und kommunikationstechnologischen Revolutionen haben dazu geführt, dass die Arbeit immer mehr wird und die Arbeitszeiten ausgedehnt bzw. die Arbeitsintensitäten erweitert werden. Es gibt - jedenfalls im Kontext kapitalistischer Vergesellschaftung - eine enge Koppelung von technologischer Entwicklung und der Verausgabung von Arbeit. Wir haben in unserer Gesellschaft eine Polarisierung zwischen jenen, die sehr viel arbeiten, und Erwerbslosen, die gerne in das System der gesellschaftlichen Arbeit integriert werden würden. Aber auch die Markthoffnung hat sich nicht realisiert. Die Idee dahinter war, es werde so viel produziert, dass es niemand mehr konsumieren kann, und daher würde man schon aufhören mit der Produktion von Gütern, die nicht gebraucht werden. Aber offensichtlich schaffen sich Angebote ihre Nachfrage. Und wir haben eine gigantische Industrie der Bedarfs- und Bedürfnisproduktion. Kaum ist das iPhone 6 da, dürsten die Leute nach dem iPhone 7 und stellen sich dafür nächtelang an. Auch da bedürfte es einer Kulturrevolution, dass man sich kollektiv klarmacht, auf welchem Konsumniveau wir schon leben und was uns jeder zusätzliche Konsum eigentlich bringt oder kostet. STANDARD: Der Titel Ihres Vorworts zum "Recht auf Faulheit" liest sich denn auch als Appell: "Von nichts kommt nichts: Arbeit an der Faulheit". Und Sie stellen Ihrem Text ein Beatles-Zitat voran: "You say you want a revolution / Well you know / We all want to change the world". Lust auf eine Revolution? Lessenich: Maschinen und Märkte richten's nicht. Man muss schon selber daran arbeiten, weniger zu arbeiten. Individuell sind die Möglichkeiten natürlich reduziert, die allerwenigsten können über ihre Arbeitszeit und die Formen ihrer Arbeitsverausgabung selbst bestimmen. Die Arbeit an der Arbeit ist eine kollektive Arbeit. Wir müssen uns darüber verständigen, dass die gegenwärtige Form der Produktion und Reproduktion dieser Gesellschaft, nämlich über immer mehr Wachstum und Arbeit, selbstzerstörerisch ist, dass sie unser Leben nicht glücklicher macht und dass sie vor allem - das ist ja das Prinzip der Externalisierungsgesellschaft - auf Kosten von Dritten und Vierten realisiert wird, die in entfernten Weltregionen unseren Reichtum und Wohlstand miterarbeiten und die Kosten und Lasten unserer Lebensweise zu tragen haben. Wer also für eine andere, bessere Gesellschaft streitet, sollte für diese das "Recht auf Faulheit" in Anspruch nehmen - nie jedoch für sich selbst ein Recht auf Denkfaulheit. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 7.2.2015) Stephan Lessenich (49) ist seit 2014 Professor am Institut für Soziologie der Uni München, davor ab 2004 an der Uni Jena. Seit 2013 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Das Buch "Stephan Lessenich zu Paul Lafargue: 'Das Recht auf Faulheit'" (Hrsg. Carolin Amlinger / Christian Baron) erschien 2014 im Laika-Verlag Hamburg.

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