Sonntag, 8. Februar 2015
Arbeitsteilige Aggression
KIEW/BERLIN/WASHINGTON
german-foreign-policy vom 04.02.2015 – Vor den Ukraine-Gesprächen am Rande der bevorstehenden Münchner Sicherheitskonferenz schließen deutsche Außenpolitiker eine Zustimmung zu US-Waffenlieferungen an Kiew nicht aus. Entsprechende Überlegungen in Washington halte er „für angemessen und wichtig“, erklärt der Leiter der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, nach Vorstößen aus US-Regierungskreisen, laut denen etwa panzerbrechende Waffen und Drohnen an die ukrainischen Streitkräfte geliefert werden könnten. Ähnlich äußern sich ungeachtet ablehnender Erklärungen der Bundeskanzlerin auch mehrere Bundestagsabgeordnete. Hintergrund ist, dass Kiew den Bürgerkrieg bislang nicht im Sinne des Westens entscheiden kann, die ukrainischen Truppen in teils desolatem Zustand sind und Desertionen wie auch Proteste gegen die blutigen Kämpfe zunehmen. Die offizielle Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine durch die Staaten des Westens gilt als Option, um eine Wende herbeizuführen. Sicherheitskonferenz-Leiter Ischinger hält dabei eine „Arbeitsteilung“ zwischen Washington und Berlin für denkbar.
Alle Optionen
Wie der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, erklärt, halte er die aktuellen US-Überlegungen, tödliches Kriegsgerät an die Ukraine zu liefern, „für angemessen und wichtig“.[1] Berichten zufolge befürworten wachsende Teile der Washingtoner Polit- und Militäreliten die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit panzerbrechenden Waffen, Spionagedrohnen, gepanzerten Fahrzeugen und Radaranlagen zum Aufspüren feindlicher Artilleriestellungen.[2] Im Gespräch sind Rüstungsgüter im Wert von bis zu drei Milliarden US-Dollar. Wie ein Regierungssprecher in Washington erklärt, seien derlei Lieferungen zwar für die nächste Zukunft noch nicht fest eingeplant; es würden jedoch „alle Optionen“ geprüft.[3] Die „Optionen“ sind Gegenstand von Verhandlungen, die US-Außenminister John Kerry am morgigen Donnerstag in Kiew führen wird. Weitere Gespräche sollen dann am Rand der Münchner Sicherheitskonferenz stattfinden, zu der neben Kerry und US-Vizepräsident Joseph Biden der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, Russlands Außenminister Sergej Lawrow und Bundeskanzlerin Angela Merkel erwartet werden.
Feindliche Übernahmen
Hintergrund der Überlegungen zur Aufrüstung der ukrainischen Truppen durch die USA ist, dass Kiew den Bürgerkrieg in der Ukraine bislang nicht zugunsten des Westens entscheiden kann. Die Regierungstruppen befinden sich offenbar in desolatem Zustand. So sind zum einen, wie der Ukraine-Experte Reinhard Lauterbach unter Berufung auf Dokumente ukrainischer Behörden berichtet, immer wieder brutale Übergriffe ukrainischer Soldaten auf Zivilisten zu beklagen. Zuletzt konstatierte im Dezember die ukrainische Militärstaatsanwaltschaft „eine deutliche Verschlechterung der Sicherheitslage im Lande“: Kriegswaffen würden „nicht selten zur Verübung weiterer Straftaten, bei der Veranstaltung illegaler Demonstrationen und zur Lösung von Fragen des Eigentums an Unternehmen (feindliche Übernahmen) sowie zur Erpressung von Gerichten und Ermittlungsbehörden verwendet“.[4] Auch der Schmuggel von Waffen und Sprengstoff floriere. Mit einer disziplinierten, schlagkräftigen Bürgerkriegsarmee habe das nicht viel zu tun.
Desertionen
Vor allem aber desertieren immer mehr Soldaten aus den ukrainischen Streitkräften. Offiziell räumt Kiew mindestens 10.000 Desertionen sowie 2.000 Fälle von Befehlsverweigerung seit Beginn des Bürgerkriegs ein. Betroffen sind, wie Ukraine-Experte Lauterbach feststellt, „auch vermeintliche Elitetruppen wie die Nationalgarde“; so seien „allein an einem Tag (5. Januar) aus einer einzigen Einheit der Nationalgarde 25 Soldaten abgängig“ gewesen.[5] Kiew bemüht sich, die verbreitete Abneigung gegen den Krieg mit Zuckerbrot und Peitsche in den Griff zu bekommen. So hat der Ministerrat erst kürzlich Abschussprämien beschlossen: Für die Zerstörung feindlicher Fahrzeuge sollen Frontkämpfer eine Prämie in Höhe von zehn Mindestlöhnen (rund 660 Euro) erhalten, für einen abgeschossenen Panzer 40 Mindestlöhne. Zugleich haben zwei Kommandeure faschistischer Bataillone, die der Parlamentsfraktion der „Volksfront“ von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk angehören, einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es Truppenführern erlauben soll, mit Waffengewalt gegen Befehlsverweigerer vorzugehen. Zudem ist die Einrichtung von Sperrverbänden geplant: Kämpfer faschistischer Bataillone sollen im Rücken der Front etwaige Deserteure aufspüren und festsetzen.
Flucht vor der Einberufung
Die Maßnahmen greifen allerdings nicht gegen die wachsende Flucht vor der Einberufung zum Kriegsdienst. Selbst im stark nationalistisch geprägten Wolhynien sei „der Anteil der Wehrdienstverweigerer aus religiösen Gründen“ binnen kurzer Zeit „von 0,7 auf 17 Prozent der Wehrpflichtigen gestiegen“, berichtet Lauterbach unter Berufung auf einen Poroschenko-Berater. Im gleichfalls nationalistisch gefärbten Bezirk Iwano-Frankiwsk gebe es Dörfer, in denen „die Bewohner gemeinsam zwei Busse gemietet hätten, um die potentiell wehrpflichtigen Männer nach Russland zu bringen“.[6] Auch öffentliche Proteste gegen die Einberufung zum Kriegsdienst nehmen zu.
Schutzausrüstung und Training
In dieser Lage hat Kiew kürzlich die Mobilmachung von bis zu 100.000 Mann angekündigt; laut Berichten werden sogar 16-jährige Jungen zum Kriegsdienst herangezogen.[7] Staatspräsident Poroschenko hat den Truppen zu Jahresbeginn demonstrativ neue Waffen übergeben. Schon im vergangenen Jahr hatten westliche Staaten, darunter die Bundesrepublik, die Lieferung sogenannter nicht-tödlicher Waffen wie Schutzausrüstung und Sanitätsmaterial in die Ukraine genehmigt und damit die Weiterführung des Krieges begünstigt.[8] Der US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, hat die bereits jetzt für 2015 fest eingeplanten US-Mittel, die den ukrainischen Streitkräften zugute kommen sollen, auf rund 120 Millionen US-Dollar beziffert; die Gelder sollen ab März vor allem genutzt werden, um ukrainische Soldaten auszubilden.[9] Laut ukrainischen Berichten trainieren US-Militärausbilder schon jetzt zumindest einige der faschistischen Freiwilligen-Bataillone.
Eskalationsgefahr
Waffenlieferungen der Vereinigten Staaten oder anderer NATO-Mitglieder könnten nun die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten Kiews verschieben – und die ohnehin eskalierenden Spannungen mit der Atommacht Russland weiter in die Höhe treiben, zumal Experten davon ausgehen, dass einige der Kiew in Aussicht gestellten Waffensysteme nur von Spezialisten bedient werden können und daher mit militärischen Offensiv-Tätigkeiten US-amerikanischer Soldaten auf ukrainischem Territorium zu rechnen sei.[10] Dessen ungeachtet schließen deutsche Politiker eine Zustimmung zu US-Waffenlieferungen nicht aus. „Wenn nicht endlich Bewegung in die russische Politik kommt, lassen sich Waffenlieferungen irgendwann nicht mehr vermeiden“, erklärt der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann. „Die Ukraine muss sich verteidigen können“, äußert Roderich Kiesewetter, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag: „Deshalb habe ich Verständnis für Stimmen, die fordern, das Land auch mittelbar zu unterstützen.“[11]
Zwei Seiten einer Medaille
Bundeskanzlerin Merkel lehnt die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine bislang strikt ab und hat sich stattdessen vor wenigen Tagen dafür ausgesprochen, eine Kooperation der EU mit der von Russland angeführten Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft in Betracht zu ziehen.[12] Dies muss US-Waffenlieferungen überhaupt nicht widersprechen. Wolfgang Ischinger hat erst kürzlich eine „Doppelstrategie“ vorgeschlagen: Einerseits solle der Kampf gegen Russland auf die ökonomische Ebene rückverlagert werden, während andererseits auch militärisch „Stärke“ demonstriert werden müsse, um den Druck auf Moskau zu erhöhen. Entsprechend erklärt Ischinger über mögliche Waffenlieferungen, die er nicht ausschließen will: „Das kann auch Arbeitsteilung heißen“ [13] – wie im Kalten Krieg, mit einer Bundesrepublik, die in Russland ökonomisch expandiert, während die USA Waffengewalt demonstrieren. Am Montag wird Angela Merkel mit Barack Obama im Weißen Haus über den Machtkampf gegen Russland und dabei vermutlich auch über die zwei Seiten einer einzigen Medaille diskutieren.
Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zur deutschen Ukraine-Politik finden Sie hier: Vom Stigma befreit, Die Kiewer Eskalationsstrategie, Die freie Welt, Juschtschenkos Mythen,Alte, neue Verbündete, „Faschistische Freiheitskämpfer“, Die Restauration der Oligarchen (II), Die Restauration der Oligarchen (III), Die Restauration der Oligarchen (IV), Akteure zweiter Klasse, Die Saat geht auf, Ukrainische Patrioten, Ukrainische Manöver, Ein Lernprozess, Radikalisierung im Parlament, Nationalistische Aufwallungen und Die europäische Wahl der Ukraine, „Eine Bataille gewonnen, noch nicht den Krieg“, Außer Kontrolle und Vom Nutzen des Waffenstillstands.
[1] ZDF heute journal 02.02.2015.
[2] Michael R. Gordon, Eric Schmitt: U.S. Considers Supplying Arms to Ukraine Forces, Officials Say. www.nytimes.com 01.02.2015.
[3] USA liefern Ukraine vorerst keine Waffen. www.tagesschau.de 03.02.2015.
[4], [5] Reinhard Lauterbach: Große Zahl an Deserteuren. junge Welt 31.01.2015.
[6] Reinhard Lauterbach: „Nein zum Krieg!“ junge Welt 31.01.2015.
[7] S. dazu Vom Nutzen des Waffenstillstands.
[8] S. dazu Außer Kontrolle.
[9] US-backed program for retraining Ukrainian military men will start in March – ambassador. www.kyivpost.com 31.01.2015.
[10] Florian Gathmann, Pavel Lokshin, Gregor Peter Schmitz: Obamas Planspiele gefährden Europas Einheit. www.spiegel.de 02.02.2015.
[11] Christian Rothenberg: Ukraine-Frage spaltet Merkels Koalition. www.n-tv.de 02.02.2015.
[12] S. dazu Krieg mit anderen Mitteln.
[13] ZDF heute journal 02.02.2015.
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