Montag, 15. April 2013
Volksrepublik China: 30 Jahre Reform- und öffnungspolitik
geschrieben von Helmut Peters
Der Wandel Chinas ist ein historisches Experiment, das in seiner Spezifik des übergangs aus einer vorkapitalistischen Gesellschaft zum Sozialismus, in seinem Ausmaß, seiner Tragweite und seiner Offenheit einmalig ist. Der Ausgang dieses epochalen Experiments wird die Entwicklung der sozialistischen Weltbewegung grundlegend beeinflussen.
30 Jahre Reform und öffnung haben das Land bei allen Problemen in der Modernisierung einen großen Schritt vorangebracht. Historisch gesehen ist jedoch lediglich eine erste Wegstrecke zurückgelegt. Der weitaus längere und wahrscheinlich auch schwierigste Abschnitt des historischen Transformationsprozesses steht noch bevor.
Die Debatte über die Problematik 30 Jahre Reform und öffnung muss unter Berücksichtigung dieser historischen Dimension und der damit verbundenen besonderen Sozialismus-Problematik geführt werden.
In meinem Beitrag möchte ich mich zu folgenden Problemen äußern:
1. Nachwirkungen systemimmanenter Elemente der mittelalterlichen Gesellschaft
2. Wesen der Reformpolitik der KP Chinas und ihre widersprüchlichen Auswirkungen
3. Charakter und Entwicklungsstand der heutigen chinesischen Gesellschaft.
These 1
Im gegenwärtigen Transformationsprozess Chinas wirken im materiellen wie im geistigen Bereich nach wie vor systemimmanente Faktoren aus der vorrevolutionären Gesellschaft. Sie üben einen wesentlichen Einfluss aus und stehen dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegen.
Das Erfassen der komplexen nationalen Gegebenheiten, vor allem ihres Kerns, der Gesellschaftsordnung und ihres Entwicklungsstandes, ist von maßgeblicher Bedeutung für das Verständnis aller Probleme in der Revolution wie beim Aufbau der neuen Gesellschaft. Zwischen der Einschätzung von nationalen Gegebenheiten und der Bestimmung der Strategie eines revolutionären Subjekts besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Wir wissen aus der Erfahrung, dass es in dieser Hinsicht in den Ländern des „realen Sozialismus" nicht wenige Probleme gab. Aus verschiedenen Gründen wurden von den regierenden Parteien dieser Länder politische Einschätzungen über den erreichten Entwicklungsstand getroffen, die sich dann als wissenschaftlich nicht haltbar und zumeist im Sinne des historischen Fortschritts als mehr oder weniger überhöht erwiesen1. Heute sehe ich darin auch eine Art von „kommunistischer Kinderkrankheit".
Die KP Chinas macht hier keine Ausnahme. Mit ihrer bis heute nicht korrigierten These von der halbkolonialen und halbfeudalen Gesellschaft2 unterschätzte sie 1949 die vorhandenen vorkapitalistischen und in der traditionalen chinesischen Gesellschaft tief verwurzelten Kräfte und Elemente. Auf dieser These beruhten Theorie und Praxis der „neuen bürgerlich-demokratischen Revolution" (weil unter Führung des Proletariats) bzw. „neudemokratischen Revolution" bzw. „volksdemokratischen Revolution". Ihr wohnte der Gedanke inne, dass die „feudalen Reste" in der Gesellschaft „im Vorübergehen" überwunden werden können und damit der Weg zum Sozialismus frei wäre.3 Das war ein Irrglaube, der letztlich schwerwiegende gesellschaftliche Auswirkungen hatte (siehe „großer Sprung" - Volkskommune und „Kulturrevolution").
Der Ende der 1970er Jahre eingeleiteten Reform- und öffnungspolitik der KP Chinas liegt eine neue Einschätzung der nationalen Gegebenheiten (guoqing) zugrunde. Deng Xiaoping als Architekt dieser neuen Politik hob vier wesentliche Aspekte hervor:
1. die nicht überwundene ökonomische und kulturelle Rückständigkeit des Landes, die Größe der Bevölkerung, die geringen Ressourcen des Landes im Vergleich zu seiner Bevölkerung und das Zurückbleiben Chinas hinter der ökonomischen Entwicklung der Nachbarländer und Taiwans,
2. die scharfen Widersprüche zwischen den rückständigen gesellschaftlichen Produktivkräften und einer formalen übervergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln,
3. ein hoch konzentriertes, uneffektives und bürokratisiertes System politischer Macht und
4. ein rückständiger und unentwickelter Sozialismus.
Der vierte Aspekt verlangt eine nähere Betrachtung. Hier ist die Frage zu beantworten, welches Kriterium einer sozialistischen Gesellschaft anzulegen ist. Ist es die Einschätzung durch das revolutionäre Subjekt oder ist es die objektive Realität? Die These, in China existiere eine, wenn auch rückständige und unentwickelte, sozialistische Gesellschaft, geht auf Mao Zedong zurück. Er stellte sie 1956 auf, nachdem die so genannte sozialistische Umgestaltung des Eigentums an Produktionsmitteln im Wesentlichen durchgeführt worden war. Damit war für ihn auch die übergangsperiode abgeschlossen.4 Das war eine politische Erklärung. Aber ist ein Sozialismus auf einer rückständigen materiellen Grundlage überhaupt möglich? Die Antwort darauf finden wir bei Karl Marx. Marx sprach davon, dass „das Recht nicht höher sein kann als die ökonomische Entwicklung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft".5 Diese Aussage von Marx spricht auch gegen die von der KPCh vertretene Auffassung, wonach sich über einer rückständigen ökonomischen Basis ein fortgeschrittener sozialistischer überbau erheben kann.
In den Auseinandersetzungen der 1980er Jahre über die Neubestimmung des Sozialismus sind zwei Momente augenfällig: Einerseits wurden im Ergebnis der Debatte um die Problematik „Was heißt Sozialismus, was heißt Kapitalismus?" Elemente des Kapitalismus zu sozialistischen erklärt (z. B. die Marktwirtschaft). Andererseits gab es keine Abgrenzung der sozialistischen Elemente und Werte von tragenden Elementen und Werten des vorrevolutionären Gesellschaftssystems.
Im Wesentlichen war es Deng Xiaoping, der im Verlaufe der 1980er Jahre wiederholt auf den starken Einfluss „feudaler Reste" im politisch-ideologischen überbau hinwies.6 Diese „feudalen Reste" beeinträchtigen den gesellschaftlichen Fortschritt nach wie vor in starkem Maße. Sie beeinträchtigen in ihrer praktischen Auswirkung grundlegende gesellschaftliche Beziehungen. Ich will das an einigen konkreten Beispielen verdeutlichen.
Ein erstes Beispiel. Der Citoyen, der Bürger der modernen Gesellschaft, hat sich in der Volksrepublik China noch nicht herausgebildet. Das heißt, die Volksrepublik konnte hier an keinerlei „Vorleistung" der mehrere tausend Jahre alten Ackerbaugesellschaft anknüpfen. Darauf wies schon der Philosoph Liang Shuming hin: „Das größte Missgeschick der chinesischen Kultur besteht darin, dass das Individuum nicht entdeckt wurde."7 Die Masse, nicht das Individuum war entscheidend. Nach der Gründung der Volksrepublik setzte sich diese Denk-Tradition in Gestalt der Massenkampagnen fort. Nicht die Entfaltung der Rolle des Individuums, sondern die Massenkampagnen waren bis in die 1970er Jahre hinein der gängige Weg für die Verwirklichung der Politik der Partei.
Die Tatsache, dass sich der chinesische Citoyen bisher nicht herausbildete, hat, wie Professor Zeng Hui, Parteischule des PK der Provinz Guangdong, betont, erhebliche Auswirkungen: „In der traditionellen Gesetzeskultur Chinas wird Wert auf das Kollektiv gelegt, der Einzelne wurde gering geschätzt. Diese Ideologie gibt der Staatsmacht die Möglichkeit, die persönlichen Rechte einzuschränken. Deshalb findet man in China schwerlich Kräfte des Widerstandes, die die Staatsmacht eingrenzen und einschränken. Deshalb mangelt es in China an Rechten des Individuums, die der Staatsmacht entgegenwirken und das Ganze ausbalancieren könnten. Das führt dazu, dass es für den Wandel der Regierungsfunktionen an inneren und von unten kommenden Triebkräften mangelt."8 So reproduziert sich immer wieder die Dominanz des Apparats und damit seiner Vertreter gegenüber den breiten Massen des Volkes mit all ihren möglichen Folgen.9
Ein zweites Beispiel. Seit Beginn der öffnungspolitik offenbart sich im System der politischen Macht ein Zustand, von dem es in China heißt, dass die unteren Ebenen ungeachtet der zentralen Politik ihre eigene Politik verfolgen. Dahinter verbirgt sich mehr als eine unzureichende Abstimmung zwischen zentraler und lokaler Ebene. Das System der konzentrierten politischen Macht, auf allen Ebenen und in allen Einheiten, wirkt dezentralisiert, es funktioniert zwischen den Regionen unterschiedlich und hat sich mit ihren eigenen Interessen relativ verselbständigt.10
Das ist keine neue Erscheinung. Sie hatte sich bereits in der traditionellen chinesischen Ackerbaugesellschaft mit der Schaffung der Jun-Kreise („Kreis eines Herrschers") herausgebildet. In der Praxis der heutigen Rechtsprechung kommt es dadurch z. B. zur Diskriminierung von Bürgern. Laut Verfassung der VR China gelten in allen Regionen die gleichen Grundrechte. „In allen Regionen gibt es jedoch Gesetze, Verordnungen und Politiken, die die aus einer anderen Region kommende Bevölkerung diskriminieren. Begibt sich jemand aus der Provinz A in die Provinz B, dann verliert er die meisten seiner Grundrechte".11 Das prägnanteste Beispiel dafür sind bisher die Bauernarbeiter gewesen. Nachwirkungen des Mittelalters zeigen sich auch in anderen Bereichen, z. B. in Elementen der Clanwirtschaft in der dörflichen Verwaltung12 oder in autochthonen Tendenzen lokaler Wirtschaftsentwicklung.
Die in der „Kulturrevolution" versuchte Assimilierung nationaler Minderheiten ist ein weiteres Beispiel, wie Jahrtausende alte tief verwurzelte Gewohnheiten sich auch heute noch auswirken können.13
Beispiele dieser Art machen uns darauf aufmerksam, dass das heutige China das traditionelle China weder in der materiellen noch in der geistigen Kultur schon hinter sich gelassen hat. Wir haben es heute immer noch mit einem „China zwischen Gestern und Morgen" zu tun.
These 2
Die KP Chinas hat sich mit ihrer Reform- und öffnungspolitik nicht allein vom Voluntarismus Mao Zedongs, sondern auch von der generellen ökonomischen Politik des „realen Sozialismus" abgewendet. Sie betreibt eine Wirtschaftspolitik, die dem Charakter und dem Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte des Landes entspricht und auf die Nutzung neuer Triebkräfte setzt.
Die davon geprägte Reform des chinesischen Wirtschaftssystems wurde zum Ausgangspunkt eines Modernisierungsschubs für die chinesische Volkswirtschaft, der in der Literatur das „chinesische Wunder" genannt wird.
Im Ergebnis dieser Veränderungen vollzogen sich im Bereich der ökonomischen Basis bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts drei grundlegende miteinander verknüpfte Prozesse:
1. die Auflösung der Struktur des formal hoch vergesellschafteten Eigentums an Produktionsmitteln und die Rückkehr zu einer vielschichtigen Eigentumswirtschaft unter Einbeziehung des in- und ausländischen Kapitals, das der Kontrolle durch den Staat unterliegt,
2. der übergang zu einer Marktwirtschaft als Bewegungsweise für die Realisierung der neuen Formen des Eigentums, also nicht allein für die Realisierung des ausländischen Kapitals, und
3. die öffnung des Landes und Eingliederung der chinesischen Wirtschaft in die kapitalistische Weltwirtschaft, die mit dem Beitritt Chinas zur WTO im Jahre 2001 im Wesentlichen vollzogen waren.
In einer ersten Etappe (1978-1991) bildete sich die Grundstruktur eines vielschichtigen Eigentums an Produktionsmitteln anfänglich heraus, wurden erste Elemente marktwirtschaftlichen Wirtschaftens eingeführt und entwickelten sich die ersten ökonomischen Sonderzonen, um Erfahrungen mit der Nutzung ausländischen Kapitals unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und der Dominanz der staatlichen Wirtschaft zu sammeln. Die Veränderungen in der ökonomischen Basis führten auf dem 13. Parteitag der KPCh 1987 zu einem ersten Beschluss über die Durchführung von weitreichenden Reformen im Bereich des politischen überbaus. Diese angedachten Reformen stellten jedoch das traditionelle System hoch konzentrierter politischer Macht noch nicht infrage.
In einer zweiten Etappe (1992-2001) begann der übergang zur Marktwirtschaft und bildeten sich die neuen ökonomischen und damit auch sozialen Strukturen voll aus. In diesem Zusammenhang begann eine „strategische Regulierung und Reorganisierung" des staatlichen Eigentums.14 Mit Hilfe eines rasch steigenden Imports ausländischen Kapitals begann sich ein Modernisierungsschub zu entwickeln. Die damalige Parteiführung setzte dabei auf eine einseitige Steigerung des absoluten BIP, um die entwickelten kapitalistischen Länder in dieser Hinsicht schnellstmöglich einzuholen und zu überholen. Nach den Juni-Ereignissen des Jahres 1989 begann die Sicherung der politischen Stabilität in der Politik der KP Chinas absolute Priorität zu genießen. Das nahm der Verwirklichung von politischen Reformen nicht nur den notwendigen Raum. Es verstärkte in Person der „Ersten" auf den einzelnen Ebenen und in den einzelnen Einheiten auch Erscheinungen absoluter und unkontrollierter Macht.
Mit dem übergang zur 3. Etappe der Reform- und öffnungspolitik (2002 -) zeichneten sich, wie die KPCh formuliert, sowohl neue Herausforderungen als auch neue Möglichkeiten für eine beschleunigte Entwicklung Chinas ab.
An neuen Herausforderungen sehe ich vor allem folgende:
1. Wiederherstellung einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Balance, um eine Verschärfung der kritischen Situation abwenden und den Prozess der Modernisierung „gut und schnell" fortsetzen zu können,
2. unverzüglicher übergang zu einer ressourcensparenden, umweltfreundlichen und intensiven Wachstumsweise.
3. Das internationale Kräfteverhältnis und die Abhängigkeit der nationalen von der internationalen Entwicklung veranlassen China, auf qualitativ neue Art (Herstellung einer internationalen Kräftebalance, Konsensbildung) an die Lösung der internationalen Probleme heranzugehen.
Die neuen Möglichkeiten für die Entwicklung Chinas sehe ich im Wesentlichen in drei Momenten:
1. in den neuen Möglichkeiten, die sich aus der ökonomisch und finanziell gestärkten Position des Landes ergeben (China verfügte jetzt im Unterschied zum Beginn der 1990er Jahre über relativ ausreichendes Kapital, um z. B. in breitem Maße zu einer Wirtschaftsdiplomatie übergehen zu können),
2. in den Möglichkeiten, die sich für China aus dem Beitritt zur WTO ergeben haben (Beschleunigung der nach außen gerichteten wirtschaftlichen Entwicklung, hohe Wachstumsraten, zunehmende Devisenreserven) und
3. im relativen Zurücktreten des „chinesisch-amerikanischen" Widerspruchs als Folge des Ereignisses vom „11. September" 2001, nach dem sich der Imperialismus dem globalen Kampf gegen den „Terrorismus" zuwandte und sich damit das internationale Umfeld für China relativ verbesserte.15
China hat nicht nur die Kompromisse gut überstanden, mit denen es für seinen Beitritt zur WTO zahlen musste. Es hat sich auch - gemessen an seinem absoluten Anteil am BIP der Weltwirtschaft und am Volumen des Welthandels - in die Weltspitze geschoben. China ist heute nächst den USA „Motor der Weltwirtschaft". Die Fortschritte in der Modernisierung des Landes beweisen, dass der Ende der 1970er Jahre eingeleitete übergang zu dem neuen Wirtschaftssystem den nationalen Gegebenheiten und Erfordernissen entspricht.
Allerdings sind die „Geschäftskosten" dieses Fortschritts so hoch, dass sie die Stabilität der gesellschaftlichen Entwicklung infrage gestellt haben. Zweifellos gibt es dafür auch objektive Ursachen. Die Hauptursachen für diese negativen Begleiterscheinungen sind jedoch in der Politik der Partei zu suchen. Dazu rechne ich z. B.:
die Vernachlässigung des Gleichgewichts wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, die sich vor allem in einem verstärkten Zurückbleiben der Landwirtschaft, des Dorfes, der Vernachlässigung und Vermarktung der öffentlichen Daseinsfürsorge äußerte,
die massive Verschlechterung der Umwelt im Ergebnis einerPolitik, zuerst die Wirtschaft entwickeln und später die Umweltschäden beseitigen zu wollen,
die Verfestigung der Abhängigkeit des Landesvon der kapitalistischen Weltwirtschaft,
die geduldete verbreitete Verletzung bestehender Arbeitsgesetze und die damit verbundene Ausprägung einer Art von Manchester-Kapitalismus, die in einer größeren Breite selbst die einfache Reproduktion der Arbeitskraft infrage stellte,
die Verringerung des Anteils der Einkommen der Bevölkerung an der Verteilung des Nationaleinkommens bei gleichzeitiger ungerechter Verteilung dieses Anteils,16
den Einfluss des Neoliberalismus auf die Wirtschaftspolitik der KPCh, der sich in den 1990er Jahren auf allen Ebenen breit machte, zu großen Einbußen im Bereich des staatlichen und kollektiven Eigentums führte und eine wesentliche Ursache für die Verschärfung der sozialen Spannungen in der Gesellschaft wurde.
In diesem Zusammenhang stellen sich auch andere Fragen, z. B. die, weshalb die KP Chinas in diesem Prozess darauf verzichtet hat, neue Formen des genossenschaftlichen Wirtschaftens zu entwickeln.
Diese bedrohlichen gesellschaftlichen Probleme und Widersprüche lösten kurz nach dem 16. Parteitag Ende 2002, mit dem Ausbruch der Lungenkrankheit SARS im Frühjahr 2003, eine heftige und kontroverse öffentliche Debatte aus. Sie wurde über vier Jahre geführt, bis der 17. Parteitag in ihrem Ergebnis eine wesentlich korrigierte innen- und außenpolitische Strategie beschließen konnte. Diese Korrektur öffnet nicht nur reale Wege zur Lösung der bestehenden gesellschaftlichen Probleme und Widersprüche. Sie weist zugleich die Richtung und setzt die entscheidenden Schwerpunkte für das Ziel, bis 2020 eine qualitativ neue Stufe in der gesellschaftlichen Entwicklung zu erreichen.17 So wird die öffentliche Daseinsfürsorge nicht mehr dem Markt überlassen, sondern der Regierung als eine ihrer neuen Hauptfunktionen übertragen. Eine zweite Funktion der Regierung besteht in der Leitung der Gesellschaft, darunter in der Regulierung und Kontrolle der Marktwirtschaft. Schließlich sind neben orientierenden auch wieder verbindliche Plankennziffern für die Verwirklichung der gesellschaftlichen Vorhaben für den Zeitraum bis 2010 festgelegt worden. Das betrifft z. B. die ökologischen Ziele und die Erhaltung einer bestimmten Größe des Ackerlandes.
These 3
Die heutige chinesische Gesellschaft ist weder bereits sozialistisch noch im herkömmlichen Sinne bürgerlich. Sie trägt einen übergangscharakter.
Die KP Chinas steht vor Aufgaben, die unter „normalen" Bedingungen die Bourgeoisie zu lösen hätte. Sie kann diese Aufgaben unter den gegebenen Bedingungen jedoch nur lösen und damit die allgemeinen Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus nur schaffen, indem sie das Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise, das Kapital, und seine Triebkräfte als hauptsächliches „Antriebszentrum" nutzt.18 Daraus ergibt sich logisch, dass der Ausgang dieses Entwicklungsprozesses, die Beantwortung der Frage „wer-wen?", über lange Zeit offen bleiben kann. Dieser Prozess enthält daher zwei Möglichkeiten - die Beibehaltung der sozialistischen Orientierung und damit den allmählichen übergang zum unmittelbaren Aufbau eines Sozialismus „chinesischer Prägung", wie er im Programm und Statut der KP Chinas festgeschrieben ist, oder den Verlust der sozialistischen Orientierung und das Abgleiten in eine bürgerliche Gesellschaft „chinesischer Prägung".
Die Volksrepublik China bezeichnet sich heute selbst als ein großes Entwicklungsland sozialistischen Charakters. Mao Zedong hingegen nannte diese Art „Zwittergesellschaft" 1949, wenn auch unter anderen historischen Bedingungen, eine „neue bürgerlich-demokratische Gesellschaft", neu deshalb, weil sie vom Proletariat (d. h. der KP - d.V.) geführt würde.
Die gesellschaftlichen Realitäten des heutigen China können etwa folgendermaßen umrissen werden:
1. China steht insgesamt erst am Anfang des Prozesses, sich den materiellen und geistigen Fortschritt der menschlichen Zivilisation anzueignen. Ohne die Aneignung der „bürgerlichen Kultur" ist jedoch kein Sozialismus als höhere Stufe menschlicher Entwicklung denkbar (Lenin).
In den 1990er Jahren ging die KP Chinas an diese Aufgabe heran, indem sie im Grunde gesellschaftliche Ist-Zustände in ausgewählten Bereichen führender kapitalistischer Länder mehr oder weniger kopierte (z. B. die Vermarktung der öffentlichen Daseinsfürsorge, das Krankenhaus-System der USA, das System der Elite-Universität nach dem Beispiel der USA, Englands und anderer Länder). Die verhängnisvollen sozialen Folgen eines solchen Vorgehens haben sie veranlasst, sich heute in der Tendenz die Essenz dieses menschlichen Fortschritts unter Berücksichtigung der chinesischen Gegebenheiten, Erfordernisse und Ziele schöpferischer anzueignen.
2. Die ökonomische und kulturelle Rückständigkeit des Landes ist trotz des enormen Fortschritts in der Modernisierung des Landes seit den 1990er Jahren im Wesentlichen noch nicht überwunden. Das Land befindet sich nach eigenen Aussagen in der mittleren Etappe der Industrialisierung.19 In größeren Teilen des Landes und wichtigen Zweigen der Wirtschaft befindet sich die Industrialisierung erst am Anfang. Das betrifft vor allem die Landwirtschaft. Ein bedeutender Teil der Industrie ist auf einem unteren Niveau der internationalen Arbeitsteilung in die Produktionsketten der TNK eingeordnet (Import von Rohstoffen und Fertigungsteilen zur Verarbeitung bzw. Zusammensetzung des Endprodukts, Anteil des Bearbeitungshandels am Gesamtexport des Landes bis zu 70 Prozent).
3. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist durch eine spezifische Art von Staatskapitalismus unter Leitung der KP Chinas und auf streng gesetzlicher Grundlage geprägt. Das staatliche Eigentum kontrolliert die Kommandohöhen der Volkswirtschaft und bestimmt den Charakter der Volkswirtschaft. Jegliche Form des Kapitals wird in einer Marktwirtschaft realisiert, die der Kontrolle und Steuerung durch die Makropolitik der Zentralregierung unterliegt.
4. Die heutige chinesische Gesellschaft weist eine zunehmend mobile Klassen- und Sozialstruktur auf, die in ihren allgemeinen Zügen einer Gesellschaft „nachholender Industrialisierung" ähnelt. Die Orientierung der KPCh auf eine bestimmte soziale Balance und die Bündelung der Kräfte für die nationale Modernisierung und den gesellschaftlichen Fortschritt bewegen sich objektiv im Sinne einer sozialistischen Orientierung.
5. Der politische überbau ist im Wesentlichen nach wie vor durch das System einer hoch konzentrierten Macht gekennzeichnet, ausgeübt durch die KP Chinas. Dieses System, verwachsen mit einem ausgeprägten Bürokratismus, begrenzt trotz verstärkter Bemühungen der Parteiführung um den Aufbau eines Rechtsstaates die Möglichkeiten demokratischer Entwicklung. Diese Macht ist der Sache nach mit der Aneignung des materiellen und geistigen Fortschritts der menschlichen Zivilisation auf die beschleunigte und allseitige Stärkung des Landes und eine nationale Renaissance gerichtet. Objektiv werden in diesem Prozess die materiellen und geistigen Grundlagen für den übergang zum Sozialismus geschaffen.
Kritisch sehe ich in erster Linie die relative Schwäche der Basis der Partei unter den Arbeitern und Bauern sowie die aus meiner Sicht trotz aller Fortschritte nach wie vor unzureichende Praktizierung der in der Verfassung fixierten Bürgerrechte und der demokratischen Beziehungen zwischen Regierung und Bürgern.
6. Mit der vom 17. Parteitag beschlossenen veränderten Gesellschaftsstrategie einher geht eine neu akzentuierte Außenpolitik. Sie zielt auf die Absicherung der Modernisierungsbedürfnisse und des friedlichen Aufstiegs Chinas zu einer Weltmacht. Diese Außenpolitik weist mit ihren Prinzipien der friedlichen Koexistenz den Völkern der Welt einen Weg zu einem friedlichen Miteinander auf der Basis der Gleichberechtigung, des Dialogs, der Kooperation und des gemeinsamen Nutzens in übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen.20 Mit einer langfristig angestrebten Balance im internationalen Kräfteverhältnis orientiert die Volksrepublik China zugleich auf eine Demokratisierung der politischen und ökonomischen Weltordnung.
Das ist im Wesen die Alternative der Volksrepublik China zur aggressiv-militanten Politik der USA und der mit ihr verbündeten Kräfte. Keineswegs zufällig hat sich daher in der letzten Zeit das Bestreben dieser Kräfte verstärkt, in Verteidigung ihrer eigenen Interessen und Positionen die Volksrepublik mit allen Mitteln zu diskreditieren, um ihren wachsenden internationalen Einfluss einzudämmen.21
7. Bei allem Pragmatismus in der chinesischen Politik, der seine historischen Wurzeln hat, gehe ich davon aus, dass die KP Chinas des 17. Parteitages bewusster und effektiver darum bemüht ist, Grundprinzipien und die Methodologie des Marxismus auf die nationalen und internationalen Gegebenheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts anzuwenden.
Um das zu verstehen, können wir nicht einfach unsere eigenen Erfahrungen und Vorstellungen über den Sozialismus auf China übertragen oder das heutige China mit dem Kriterium einer bereits existierenden sozialistischen Gesellschaft messen. Der Maßstab kann nur sein, ob die Entwicklung in und um China den konkreten gesellschaftlichen Fortschritt in diesem Lande fördert und zur Wahrung der sozialistischen Perspektive beiträgt. Dazu bedarf es der Einsicht, dass die sozialistische Bewegung in Ländern wie China einen anderen und langwierigeren Weg zu nehmen hat, als ihn sich Marx und Engels seinerzeit für die kapitalistischen Länder Europas vorgestellt hatten. Darauf hatte schon Lenin verwiesen: „Unseren europäischen Spießbürgern fällt es im Traum nicht ein, dass die weiteren Revolutionen in den Ländern des Ostens, die unermesslich reicher an Bevölkerung sind und sich durch unermesslich größere Mannigfaltigkeit der sozialen Verhältnisse auszeichnen, ihnen zweifellos noch mehr Eigentümlichkeiten als die russische Revolution auftischen werden."22 Das gilt umso mehr angesichts der heutigen internationalen Bedingungen.
Ausblick
Der 17. Parteitag der KPCh hat mit der Lösung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüche den Weg für die Verwirklichung einer qualitativ höheren Stufe gesellschaftlicher Entwicklung bis 2020 gewiesen. Gegenwärtig beobachten wir die Mobilisierung breitester Kräfte, eingeschlossen alle Kirchen und Religionsgemeinschaften, für die Umsetzung dieses Ziels.
Die neue Qualität gesellschaftlicher Entwicklung und damit ein qualitativ neuer Schritt in Richtung auf die sozialistische Perspektive werden vor allem davon abhängen, ob es der KP Chinas in absehbarer Zeit gelingen wird,
1. zu einer intensiv erweiterten Produktion und Reproduktion, zu einem ressourcesparenden und umweltfreundlichen Wachstum überzugehen und
2. die Beziehungen zwischen Staat und Bürger im Sinne einer breiten Demokratisierung zu wandeln.
Angesichts der spezifischen chinesischen Bedingungen können eigentlich nur grundlegende politische Fehler der KP Chinas zu einem Verlust der sozialistischen Perspektive Chinas führen. Die Lösung der vom 17. Parteitag gestellten Aufgaben bis 2020 hingegen würde die Chancen für den Aufbau eines modernen, allseits zivilisierten und starken Sozialismus in der VR China bedeutend erhöhen.
1 Das betrifft z. B. die These, dass der Sozialismus nach Abschluss der so genannten übergangsperiode einen unumkehrbaren Charakter angenommen hätte, und die Auffassung vom Eintritt in die Etappe des „entwickelten Sozialismus".
2 Diese These steht in einem Zusammenhang mit der These Stalins von den „feudalen Resten" in China im Jahre 1927. Damit wollte er der kontroversen Diskussion in der KPdSU (B) über die Einschätzung der chinesischen Gesellschaft ein Ende setzen. So setzte sich diese Auffassung von den „feudalen Resten" in China in der Kommunistischen Internationale und damit auch in der KP Chinas durch.
3 Diese Vorstellung gehörte zum Gedankengut der Bolschewiki 1917. Lenin änderte seine Auffassung mit der NöP, als er anstelle des Frontalangriffs auf den Kapitalismus das Problem aufwarf, wie der übergang aus einer mittelalterlichen Gesellschaft zum Sozialismus zu organisieren wäre. Nach Lenins Tod kehrte die KPdSU (B) unter Stalins Einfluss zu der alten Auffassung von 1917 zurück. Deshalb spielte der neue gesellschaftsstrategische Ansatz Lenins von 1921 in der „Kurzen Geschichte der KPdSU(B)" auch keine Rolle mehr, siehe: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), SMA-Verlag Berlin, S. 346-347.
4 Diese These wurde in den 1980er Jahren mit der These von dem so genannten „Anfangsstadium des Sozialismus" weiter geführt.
5 Karl Marx, Der Klassenkampf in Frankreich. MEW, Bd.7, S.21. Vergl. auch: W.I.Lenin, über das Genossenschaftswesen, in: W.I.Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S.454.
6 Er verwies u. a. auf Erscheinungen des Patriarchalismus und hierarchische Auffassungen, auf die schwach ausgeprägten Vorstellungen über die Rechte und Pflichten der Bürger, auf das „amtliche" Herangehen an Probleme der Wirtschaft und die Abgrenzung von der benachbarten administrativen Einheit. Vergl „Deng Xiaoping, Ausgewählte Schriften (1975-1982)", Beijing 1982, S. 294-295.chines.
7 Liang Shumin, Extrakt der chinesischen Kultur, Shanghai Volksverlag, 2003, S.221 chines.
8 Zeng Hui, Der Beitritt zur WTO und die Veränderungen in den Funktionen unseres Landes, in: Zeitschrift „Die gegenwärtige Welt und der Sozialismus", Jg. 2002, H. 6, S. 96, chines.
9 Dieses Verhältnis drückt sich in meinem Verständnis auch in dem Prinzip der Machtausübung aus „Die Partei regiert für das Volk".
10 über die im März 2008 beschlossene 6. administrative Reform (Bildung von Großministerien u.a.) schrieb der Leiter einer zentralen Studie, Prof. Zhou Tianying von der Parteischule des ZK der KPCh: „Steht den Interessen dieser Institutionen jedoch zu viel entgegen, werden sie nicht daran denken, sich zu reformieren, dann ist das Problem nicht zu lösen." Siehe südchinesische „Wirtschaftszeitung des 21. Jahrhunderts" v. 26.2.2008, chines.
11 „Die Lösung eines Problems in einer fremden Region ist schwierig. Es geht um die Schaffung eines System unabhängiger Gerichte", Leitartikel der südchinesischen Zeitung „Nanfang Du Shibao" v. 28.3.2008
12 Vergl. Yang Dejun (Parteischule der Provinz Heilongjiang), Die Hauptprobleme, die bei der Regierung auf Dorfebene existieren, und Maßnahmen zu ihrer Lösung, in: Zeitschrift „Die gegenwärtige Welt und der Sozialismus, Jg, 2003, H. 2, S. 87, chines.
13 Vergl. z.B.: „Konfuzius sprach: Wenn auch die Barbaren Herrscher haben - sie sind selbst dann nicht mit unserem großen Reich vergleichbar, wenn es ohne Herrscher ist." Zitiert nach: „Konfuzius. Gespräche", herausgegeb. von R.Moritz, Reclam, Leipzig 1982, S.51. Dem lag auch die Auffassung zugrunde, man müsse die „Barbaren" die eigenen „Riten" lehren, damit sie aufhören, Barbaren zu sein.
14 Das Ziel waren bzw. sind die weitere Reduzierung des staatlichen Sektors durch eine umfassendere Privatisierung staatlicher Unternehmen und andere Maßnahmen, die schnelle Herausbildung moderner und international konkurrenzfähiger staatlicher Konzerne und großer Unternehmensgruppen und die Konzentration des staatlichen Sektors auf die Beherrschung der Kommandohöhen der Wirtschaft.
15 Antichinesische und antikommunistische Kräfte in den kapitalistischen Zentren versuchen derzeit, mit Hilfe exiltibetischer reaktionärer Kräfte in einer mit allen Mitteln der Verleumdung und Fälschung betriebenen Hetzkampagne, dem wachsenden Ansehen der VR China in der Welt entgegenzuwirken und das internationale Umfeld für ihre Entwicklung zu verschlechtern.
16 Unter den Bedingungen einer nicht vorhandenen sozialen Grundsicherung und der überführung der öffentlichen Daseinsfürsorge in die Marktwirtschaft (verbunden mit enormen Preissteigerungen für medizinische Versorgung, Bildung, Wohnungswesens) führte das in wenigen Jahren dazu, dass aus einer Gesellschaft, in der die Gleichmacherei verbreitet gewesen war, eine sozial „gespaltene Gesellschaft" (Gini-Index über 0,45) wurde.
17 Vergl. Helmut Peters, Der 17.Parteitag der KP Chinas. Eine Nachbetrachtung. In: Marxistische Blätter, Heft 1, 2008, S. 10 ff.
18 Diese Formulierung geht zurück auf: Oskar Negt, Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne, Göttingen 2007, S. 525.
19 Renmin Wang Lilun v. 29.9.2007
20 Diese Außenpolitik ist im Einzelnen konzipiert nach den Prinzipien der friedlichen Koexistenz, des Kampfes gegen Hegemonismus und Aggression, für die Gleichberechtigung aller Staaten, der friedlichen Lösung von Konflikten durch Dialog auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und der Berücksichtigung der Interessen aller beteiligten Seiten und der Entwicklung der Beziehungen und der Zusammenarbeit ohne politische Vorbedingungen.
21 In der gegenwärtigen kontroversen China-Debatte unter den Linken kommt es vor allem darauf an, diese Rolle Chinas in den internationalen Beziehungen zu begreifen und nicht der zunehmend aggressiveren Anti-China-Politik regierender Kreise im Westen zu erliegen.
22 W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, a. a. O., S. 466.
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