Freitag, 19. April 2013

Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile

Man kann es immer noch nicht glauben, auch wenn seit vielen Jahren fast alle Signale in diese Richtung wiesen, im Stillen hoffte man auf Ereignisse die das verhindern. Doch es gab sie nicht und so gewann am 17. Januar 2010 der Kandidat der Rechten die chilenischen Präsidentschaftswahlen. Genau 40 Jahre nach dem historischen Wahlerfolg Salvador Allendes übernimmt Sebastián Piñera das höchste Amt im Staate. Ein Mann der mit besten Verbindungen in die engeren Zirkel der Diktatur zum Multimillionär geworden ist. Ein Mann, der sich gerne mit dem kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe trifft und dessen politisches Konzept in Chile einführen will. Dieses Wahlergebnis steht in direktem Gegensatz zu allem, was man in den letzten Jahrzehnten aus Chile gehört hat. So wurde die chilenische KP viele Jahre in ganz Lateinamerika wegen ihrer Erfolge bewundert. Und der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) gehörte mit zum Besten, was man unter den guevaristischen Organisationen des Kontinents finden konnte. In diesem gesellschaftlichen Klima konnte dort erstmalig in der Geschichte ein bekennender Marxist auf bürgerlich demokratischem Wege Präsident werden. Später kämpfte eine Massenbewegung mutig gegen die Diktatur. Wie kann da die Bevölkerung dieses Landes jetzt die Regierungsgewalt einem Vertreter dieser blutigen und terroristischen Rechten überlassen? Um diese Frage zu beantworten müssen wir 40 Jahre zurückgehen und die damalige politische Lage zum Ausgangspunkt der Entwicklung nehmen. Gleichzeitig sollten wir im Hinterkopf behalten, dass die im Folgenden referierten Fakten auch von unseren Gegnern eifrig studiert und diskutiert werden. In den Denkfabriken der Bourgeoisie werden dieselben Überlegungen angestellt wie auf unserer Seite. Wie kann man Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen? Doch ihre Ziele sind den unseren diametral entgegengesetzt. Im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit steht die Marginalisierung der Linken um zu besseren Bedingungen für die kapitalistische Ausbeutung zu gelangen. Dafür werden Strategien entwickelt und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt. Im folgenden Streifzug durch die chilenische Geschichte werden wir auf die Ergebnisse ihrer Überlegungen treffen. Doch jetzt zurück in das Jahr 1970. Dort ringen drei fast gleich große Blöcke um die Regierungsgewalt. Die Rechte und die Linke mit ca. 35% Rückhalt und dazwischen die sozialdemokratischen Christdemokraten (DC) mit knapp 30%. Die Christdemokraten hatten sich wegen einer Landreform mit der Rechten überworfen, weswegen man sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen konnte. Das war der Grund dafür, dass der Sozialist Salvador Allende nach der Stimmauszählung mit 36,6% knapp vor dem rechten Kandidaten lag. Die damalige Verfassung schrieb in so einem Fall vor, dass eine parlamentarische Versammlung zwischen dem Erst- und Zweitplazierten zu entscheiden hat. Dort votierten die christdemokratischen Vertreter für Allende. In den Erinnerungen von Zeitzeugen wird ihr Verhalten auf den Druck der Parteibasis und auf die öffentliche Stimmung zurückgeführt. Das ist sicher nicht falsch, aber bei Berücksichtigung der weiteren Entwicklung erscheint diese Erklärung unzureichend. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Kräfte aus dem Hintergrund auf die DC eingewirkt hatten sich so zu entscheiden. Kräfte, die schon zu diesem Zeitpunkt eine Idee davon hatten, wie sie Chile umgestalten wollten um den Einfluss der Linken für lange Zeit auszuschalten. Dafür benötigten sie eine innenpolitische Situation, die einen Staatsstreich notwendig erscheinen ließ. Diese Bedingung konnte nur unter einer Regierung Allende mit seiner unzureichenden gesellschaftlichen Verankerung geschaffen werden. Hätten die Christdemokraten 1970 den rechten Bewerber zum Präsidenten gekürt, hätte es drei Jahre später nicht zum Militärputsch kommen können. Diese Vermutung lässt sich nicht beweisen, aber das weitere Verhalten der Christdemokraten wirft diese Frage auf. Schließlich haben sie, als sich der Staatsstreich schon drohend in der Ferne abzeichnete, nichts getan um der von ihnen inthronisierten Regierung aus der Gefahr zu helfen. Im Gegenteil! Wie auch immer. Mit der Regierung Allendes ruhte nun eine immense Verantwortung in den Händen der linken Parteien und Organisationen. Schauen wir uns also die wichtigsten im Einzelnen an. Auf der einen Seite des Spektrums befand sich die Unidad Popular (Volkseinheit, UP) als Basis des Präsidenten. Unabhängig davon agierte der MIR, der auf eine revolutionäre Erhebung hinarbeitete. Doch so einfach, hier Reformisten – dort Revolutionäre, war die Sache nicht. Der ideologische Einfluss des MIR reichte weit in die UP hinein. Wahrscheinlich stand sogar eine Mehrheit der Sozialistischen Partei, sie war neben der KP eine der tragenden Säulen des Bündnisses, den politischen Positionen des MIR näher, als denen Allendes. Das war eine verhängnisvolle Wirkung der cubanischen Revolution. Damals hielten viele Linke in Lateinamerika den bewaffneten Kampf für eine reale Möglichkeit zur Erreichung einer sozialistischen Gesellschaft. Sie übersahen, dass der Kampf in Cuba unter liberalen Fahnen geführt worden ist. Er hatte daher eine viel breitere Basis. Erst später erfolgte die Hinwendung der Bewegung von Fidel Castro zum Sozialismus. Doch da befand sich die staatliche, und somit auch die militärische, Macht schon in ihren Händen. Allende hatte keine parlamentarische Mehrheit. Um etwas zu bewegen gab es zwei Möglichkeiten: sich mit den Christdemokraten zu verständigen, oder um das Parlament herum zu regieren. Dies geschah mittels präsidialer Dekrete, dem Ausnützen von Lücken in den Regelwerken oder der Anwendung gültiger, aber längst vergessener Gesetze. Im Regierungsalltag wurde dabei je nach Lage die eine oder andere Möglichkeit genutzt. Mit der kreativen Anwendung der staatlichen Ordnung – sie war ungewöhnlich aber kein Gesetzesbruch – konnte viel erreicht werden. Dieses Vorgehen wurde aber von der Bourgeoisie dafür genutzt die öffentliche Meinung gegen Allende aufzubringen. Am Ende wünschte sich eine Mehrheit der Bevölkerung den Militärputsch herbei. Dabei handelte es sich um die Basis der Rechten und der Christdemokratie. Die Linke konnte, trotz aller Kampagnen, ihre Basis zusammenhalten. Die Niederlage der marxistischen Kräfte Wie reagierte nun diese heterogene Linke auf die heraufziehende Gefahr? Der MIR bereitete eine bewaffnete Untergrundstruktur vor. Gestützt auf sie sollte der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft auch unter einer Militärregierung fortgesetzt werden. Die Mehrheit der Sozialisten sah das ähnlich. Ihr Generalsekretär, Carlos Altamirano, drohte wenige Tage vor dem Putsch: „Wir sind die Avantgarde des Proletariats, bereit, jedem Putsch zu widerstehen. Chile wird sich in ein neues heldenhaftes Vietnam verwandeln, wenn die Aufrührerischen sich des Landes bemächtigen wollen. Der Putsch kann nicht mit einem Dialog bekämpft werden. Er muss mit der Kraft des Volkes, mit der Organisation der Arbeiterklasse niedergedrückt werden.“ Die Ablehnung eines Dialogs richtete sich gegen die Kommunisten. Sie wollten zu einer Verständigung mit den Christdemokraten gelangen und so den Staatsstreich verhindern. Doch das scheiterte an der strikten Weigerung der Christdemokraten. Diese stimmten sogar einer parlamentarischen Resolution zu, in der die Armee zum Eingreifen aufgefordert wurde. Daher konnten sich am 11. September 1973 die Streitkräfte unter Augusto Pinochet gegen die legitime Regierung erheben. Nun war der Zeitpunkt gekommen die vollmundigen Ankündigungen in die Tat umzusetzen. Doch die Realität beschrieb Altamirano später so: „Es gab gewissen Widerstand in einigen Fabriken, aber die Wahrheit ist, dass dieser sehr gering war, es gab keine Möglichkeit den Militärs die Stirn zu bieten.“ An dieser Stelle muss man sich vergegenwärtigen, was das für die Anhänger der Sozialistischen Partei und ähnlich orientierter Gruppen bedeutet hat. Wir haben es da mit Menschen zu tun, die sich auf der Straße des Sieges wähnten. Sie hatten beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Sie glaubten, dass sie jedes Hindernis überwinden können. In diesem Gefühl wurden sie von ihren Führern bestärkt. Daher sind sie zu Kompromissen nicht bereit. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, stehen sie der Gewalt der Putschisten wehrlos gegenüber. Der von ihren Führern wortreich angekündigte Widerstand findet nicht statt. Das ist für sie ein traumatisierendes Erlebnis. Es hatte zur Folge, dass die Sozialistische Partei in zahllose Fraktionen zerfällt und auf Jahre so gut wie keine Aktivität zeigt. Als sie ihre Partei in den 80er Jahren wieder gründen, machen sie das unter dem ideologischen Einfluss der westeuropäischen Sozialdemokratie. Mit dem Putsch trat das ein, was der MIR seit Beginn der Regierung Allende vorhergesagt hatte. Daher sollte man annehmen, dass jetzt seine Stunde gekommen war. Er hatte sich ja auf die Situation in einer faschistischen Diktatur vorbereitet. Man muss ihm zugute halten, dass er es ernsthaft versucht hat. Doch zu einer wirklichen Gefahr für den Bestand der Militärregierung wurde er nie. Es ist auch die Frage, ob man mit Mordanschlägen auf Repräsentanten einer Diktatur diese wirklich stürzen kann. Ende 1974 war die Untergrundstruktur des MIR zerschlagen. Überlebt hatten nur diejenigen Kader, die sich ins Ausland retten konnten. Fast die komplette Führung war tot. Diese Entwicklung hätte für den MIR ein Grund zum Innehalten sein können. Doch anstatt Konsequenzen aus der Niederlage zu ziehen, machte er weiter wie bisher. Ende der 70er Jahre startete die „Operation Rückkehr“ um in Chile wieder handlungsfähig zu werden. Doch das Ergebnis war wie gehabt. Die Zellen der Guerilla wurden aufgerieben. Das führte Mitte der 80er Jahre zur Spaltung. Ein Flügel wollte den bewaffneten Kampf fortsetzen, während der andere auf politische Arbeit in den sozialen Bewegungen orientierte. Heute ist der MIR in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrnehmbar. Als letzter wichtiger Akteur fehlen die Kommunisten. Was war ihre Position zum Zeitpunkt des Putsches? Sie gingen davon aus, dass die nur leicht bewaffneten Gruppen der Parteien der Unidad Popular, die Aufgaben des Selbstschutzes wahrnahmen, die Regierung nicht verteidigen können. Auch erwarteten sie nach einem Staatsstreich während eines langen Zeitraums Widerstand zu leisten zu müssen. Um diesen Kampf führen zu können, braucht man Menschen. Sie dürfen sich nicht vor der Zeit in aussichtslosen Kämpfen opfern. Daher hat die KP bewusst nicht zur bewaffneten Gegenwehr aufgerufen. Sie orientierte auf einen Generalstreik als Antwort der Arbeiterklasse. Doch das wurde von den Militärs unterlaufen. Sie erklärten die Woche des Putsches zu arbeitsfreien Tagen. In dieser Zeit konsolidierten sie ihre Macht. Wahrscheinlich hat die KP nicht mit der erbarmungslosen Brutalität der Militärs gerechnet. Bis Ende Oktober waren, neben vielen anderen, allein drei Mitglieder des Zentralkomitees ermordet worden. Doch in den folgenden Monaten reorganisierte sie sich in der Illegalität. Sie gab als Losung die Bildung einer antifaschistischen Front mit den Christdemokraten aus. Aber schon zu dieser Zeit artikulierte eine Strömung die Notwendigkeit der Schaffung von militärischen Kadern. Hier zeigt sich ein Problem mit dem sich die chilenische Linke lange Zeit, möglicherweise auch heute noch, auseinander zu setzen hatte. Viele ihrer Anhänger erlebten den 11. September als militärische, nicht als politische, Niederlage. So kreiste ihr Denken darum, wie man die militärischen Mittel in die Hand bekommt, um einer regulären Armee Paroli bieten zu können. Ein Ding der Unmöglichkeit. Schon Friedrich Engels hat das in seinem Vorwort zu Marx Schrift „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ dargelegt. Seine Ausführungen wurden in Chile von den Erfahrungen des MIR und später der FPMR bestätigt. „Kein Wunder also, dass selbst die mit dem größten Heldenmut geführten Barrikadenkämpfe mit der Niederlage des Aufstandes endigten, sobald die angreifenden Führer, ungehemmt durch politische Rücksichten, nach rein militärischen Gesichtspunkten handelten und ihre Soldaten zuverlässig blieben.“ Die „politischen Rücksichten“ und „die Zuverlässigkeit der Soldaten“ sind politische Fragen auf die man nur mit politischen Mitteln einwirken kann. Nach der Zerschlagung des MIR wendete sich der Geheimdienst den Kommunisten zu. Mitte des Jahres 1976 gelingt ihm die Zerschlagung der illegalen Strukturen der Partei. Die KP erleidet unter anderem den Verlust der kompletten Inlandsleitung. Bis zum Ende dieses Jahres verschwinden mehr als 150 Männer und Frauen, die große Mehrheit für immer. Eine ganze Reihe von Gründen führte 1980 zu einem gravierenden Linienwechsel der KP. Dazu gehörte die internationale Entwicklung mit der Revolution in Nicaragua, die einen Sieg im Volkskrieg wieder möglich erscheinen ließ. Die Christdemokraten ließen immer noch keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten erkennen. Aber am wichtigsten war wohl die in diesem Jahr von der Militärregierung in Kraft gesetzte neue Verfassung. Mit dieser hatte Pinochet den Übergang von der Diktatur zu dem, was die Rechte unter Demokratie versteht, eingeleitet. Von nun an galten für die KP alle Formen des Widerstandes als zulässig. Daher bildete sich einige Jahre später eine neue bewaffnete Organisation, die Frente Patriótico Manuel Rodrigues (FPMR). Ihre bekannteste Aktion ist der Anschlag auf Pinochet, der aber scheiterte. Im Großen und Ganzen erging es ihr nicht anders als dem MIR. Halten wir fest, wegen gravierender Fehleinschätzungen auf Seiten der Linken kann sich die UP nicht aus der Regierung zurückziehen. Die reaktionären Kräfte bekommen die Möglichkeit zum Putsch. Das nutzen sie mit der ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Härte. Die Militärführung gibt sich nicht mit einem Staatsstreich „light“ zufrieden. Etwa in der Art, wie wir es kürzlich in Honduras beobachten konnten. Dort setzte man den gewählten Präsidenten ab und übergab die Macht wieder dem Parlament. Das wäre auch in Chile möglich gewesen, doch sie hatten anderes vor. Ihr Ziel sprach Pinochet offen aus: „Wir wollen den Marxismus im Bewusstsein der Chilenen ausrotten.«“ Und der Sicherheitschef der Junta, General Ernesto Baeza, definierte die Dauer der Militärregierung folgendermaßen: „Die Junta wird so lange regieren, bis Chile wirtschaftlich, sozial, moralisch wiederhergestellt ist.“ Das Ziel war die Entpolitisierung der Bevölkerung. Diese Arbeit wurde auf allen Ebenen in Angriff genommen. Tausende Aktivisten der linken Parteien, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen wurden eingesperrt, gefoltert oder getötet. Mindestens 20.000 Menschen flüchteten in den nächsten Jahren vor diesem Terror. Schon dieser Aderlass hatte zahlreiche öffentliche Funktionen unbesetzt gelassen. Das war den Militärs aber nicht genug. Sie schritten zu einem radikalen Elitenwechsel. Ähnlich dem, wie man ihn später in den fünf neuen Bundesländern durchgeführt hat. Viele wichtige Positionen wurden dabei mit Offizieren besetzt. Wenn man den „Marxismus ausrotten“ will, muss man Macht über das Denken der Menschen erlangen. Daher wurden sofort alle linken, oder auch nur kritischen, Zeitungen und Zeitschriften verboten, Verlage fortschrittlicher Tendenz löste man auf. Am Tag des Staatsstreichs hatte man die der UP nahe stehenden Radiostationen mittels Bombardierung zum Schweigen gebracht. Später verbot man sogar Radio Balmaceda, ein Sender der von der Christdemokratie beeinflusst wurde. Die Ankunft des Neoliberalismus in Chile In den 50er Jahren hatte die Katholische Universität in Santiago ein Abkommen mit der Universität von Chicago geschlossen. Es beinhaltete für die erfolgreichsten Absolventen dieser chilenischen Hochschule Stipendien für Aufbaustudiengänge in den USA. Daher setzte in den kommenden Jahren eine Reihe von Chilenen ihre Ausbildung im Norden fort. An der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Chicago lehrte damals Milton Friedman. Aus diesem Programm ging die später „Chicago Boys“ genannte Gruppe von Wirtschaftsfachleuten hervor. Der Vertrag endete schon 1961, aber die Pflanze der neoliberalen Ideologie war damit in den chilenischen Boden gesetzt worden. Die Ausarbeitung des ersten Wirtschaftsprogramms für Chile auf Basis der in Chicago gelehrten Doktrin begann Ende der 60er Jahre im Zentrum für Sozioökonomische Studien (Cesec). Ziel war seine Umsetzung nach einem rechten Wahlsieg im Jahr 1970. Während der Regierung Allende arbeiteten diese Leute im Geheimen weiter. Auftraggeber war nun der Unternehmerverband SoFoFa. Jetzt ging man weiter und projektierte gleich die Zerstörung der existierenden wirtschaftlichen Struktur des Landes. Dieser Plan wartete nun darauf von einer zukünftigen Regierung umgesetzt zu werden. Auf wirtschaftlichem Gebiet sind Militärs weniger bewandert. Daher griffen sie recht schnell auf das von der Unternehmervereinigung angebotene Konzept zurück. Als ersten Schritt besetzten sie die ökonomischen Schlüsselstellen des Staatsapparates, so das Wirtschafts- und das Finanzministerium sowie die Zentralbank, mit „Chicago Boys“. Etwas später, 1975, setzten diese ihr neoliberales Schockprogramm um. Bei diesem ersten Schritt zur Liberalisierung der Wirtschaft nahmen sie keine Rücksichten, nicht einmal auf Chiles damalige Mitgliedschaft im Andenpakt. Diese regionale Organisation musste Chile daraufhin verlassen. Das Schockprogramm hatte damals, verstärkt durch die erste Ölkrise, dramatische Auswirkungen. Das Bruttoinlandsprodukt ging um fast 13% zurück, die Sozialausgaben wurden von 28 auf 19,5 Millionen Dollar gesenkt und die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich auf fast 18%. Chile wurde dem Weltmarkt geöffnet. Dies brachte zahlreiche Betriebe in die Insolvenz. Sie waren der internationalen Konkurrenz nicht gewachsen. Ironie der Geschichte ist, dass die Eigentümer dieser Unternehmen ihren Besitz durch eine Regierung verloren, die sie sich zum Schutz ihres Eigentums gewünscht hatten. Infolge der Arbeitslosigkeit veränderte sich die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Traditionelle Sektoren lösten sich auf und mit ihnen die gewachsenen sozialen Netzwerke, die Basis für unangepasstes Verhalten. Auf der anderen Seite bildeten sich später neue Arbeitsplätze in den auf den Weltmarkt ausgerichteten Wirtschaftszweigen. So gibt es heute Wanderarbeiter die von der Ernte einer Frucht zur Ernte der nächsten ziehen. Wie es sich für eine neoliberal strukturierte Gesellschaft gehört, musste sich der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen. Deshalb wurde in zwei Wellen die Mehrzahl der Staatsbetriebe privatisiert. Man verkaufte sie nicht zu ihrem tatsächlichen Wert. Eine Untersuchungskommission des Parlaments hat 2004 den Schaden für die Staatskasse bei der Abstoßung von 32 Unternehmen kalkuliert. Er beträgt ca. 2.200 Millionen Dollar. Diese Unternehmen wurden für 1/3 bis 2/3 ihres tatsächlichen Wertes verschleudert. Auf diese Weise entstand eine neue Gruppe von Reichen. Gebildet aus den staatlichen Funktionsträgern, die ihr Insiderwissen für private Zwecke nutzten. Hier treffen wir auch das erste Mal auf Sebastián Piñera. Er kommt zwar nicht aus diesem Milieu, aber sein Bruder war zeitweilig Arbeitsminister. Da liegt der Verdacht nahe, dass ihm wichtige Informationen zugänglich gemacht wurden. Amüsant ist es dann zu sehen, wie ihn seine Propagandisten im Wahlkampf als Selfmademan darstellten, der sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat. Dabei ist er eher mit Russischen Oligarchen vergleichbar, die durch Aneignung von Volkseigentum reich geworden sind. Selbstverständlich wurden auch die sozialen Sicherungssysteme nicht verschont. Die Renten- und Krankenversicherung übergab man privaten Anbietern. Damit endete in diesen Bereichen der Gesellschaft ein sozial ausgleichendes Prinzip. Ähnlich verfuhr man mit dem Bildungswesen. In bisher ungeahnten Ausmaßen wurde es dem freien Markt geöffnet. Wer heute seinen Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen möchte, muss sie auf teure Privatschulen schicken. Getreu der von den „Chicago Boys“ vertretenen Doktrin hat der Staat möglichst wenige Aufgaben wahrzunehmen. Daher verkleinerte man den Staatsapparat. Natürlich bezog sich das nicht auf Polizei oder Armee, aber viele staatliche Aufgaben wurden an private Firmen delegiert. Die Folgen dieser Politik sind jetzt beim Erdbeben für alle Welt sichtbar geworden. Ein Beispiel ist das Baurecht. Viele neue Gebäude wurden schwer beschädigt während ihre Nachbarn, die 30 oder 40 Jahre auf dem Buckel haben, dastehen als sei nichts gewesen. Zu trauriger Berühmtheit brachte es ein 14-stöckiges Gebäude in Concepción. Es war gerade ein halbes Jahr alt, als es beim Beben in sich zusammen gefallen ist. Diese Erscheinung erklärte Patricio Gross, Vorsitzender des Architektenverbandes, so: „(…) und das liegt daran, dass die Gesetze liberalisiert worden sind. Was früher der Staat überwachte, wird heute von privaten Anstalten übernommen.“ Aufgrund der Ausschaltung jeglichen Widerstandes durch das Militär konnte das neoliberale Programm in Reinform umgesetzt werden. Nur in einem Punkt waren sie inkonsequent. Die von Allende nationalisierten Kupferminen wurden nicht zurückgegeben, so dass noch heute ca. 30% des Kupferexportes dem Staatshaushalt zugute kommen. Das ist der Grund warum Chiles Umgestaltung als großer Erfolg bezeichnet wird. Aufgrund dieses Verstoßes gegen ihre eigene Ideologie und der extrem hohen Kupferpreisen hat der chilenische Staat erhebliche Finanzmittel zur Verfügung. Leidtragende des Neoliberalen Modells sind die Teile der Bevölkerung, die nicht über die Ressourcen verfügen, um die heute notwendigen Ausgaben für Gesundheit, Altersvorsorge, Erziehung der Kinder und vieles mehr zu tragen. Die Radikalität der durchgeführten Veränderungen wird von ihren Verfechtern auch als stille Revolution bezeichnet. Einer von ihnen, Joaquín Lavín, beschrieb in den 80er Jahren ihre Auswirkungen so: „Während der letzten Dekade hat Chile tief greifende Änderungen erfahren, die die Form verändern wie die neuen Generationen leben, denken, lernen, arbeiten und sich erholen. Die Art wie sie sich sehen, die Lebensmittel die sie erwerben, die Weise wie sie ihre freie Zeit einteilen, die Städte in denen sie zu wohnen vorziehen, die Berufe die sie studieren wollen. (…) Alles ist im Wandel.“ Die Auswirkungen dieser stillen Revolution auf die Menschen fasste der linke Soziologe Tomás Moulian in diese Worte: „Dieser Staatsbürger ‚Kreditkarte‘ ist normiert, ‚in Ordnung gebracht‘, reguliert durch den Konsum mit hinausgeschobener Zahlung. Er muss seine Konfliktfähigkeit seiner Überlebensstrategie als Lohnempfänger unterordnen. Er hat gelernt, dass seine Zukunft darin liegt, weiterhin ein vertrauenswürdiger Arbeiter zu sein. Diese Vertrauenswürdigkeit ist verbunden mit der Unterwerfung, die die Türen zu zukünftigem Konsum öffnet.“ Und: „Der Kredit ist ein wunderbares Mittel zur Disziplinierung, das effizienter ist wenn es nur marktwirtschaftlich funktioniert, sein Basismechanismus ist nicht außerökonomisch.“ Diese Beschreibung der Wirkungen von Schulden auf das Denken und Handeln der arbeitenden Menschen kennen wir aus Deutschland. Für Chile bedeutet das einen tief greifenden Wandel. Er hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der linken Kräfte. Sie müssen sich auf die veränderte Situation einstellen. In diesem Prozess befinden sie sich noch heute. Der Eine oder andere Leser wird jetzt die Massenmobilisierungen gegen Pinochet vermissen. Sie werden Inhalt vom zweiten Teil dieser Arbeit sein. Wir gehen dort der Wechselwirkung zwischen der Militärregierung und den verschiedenen Strömungen der Opposition nach. Die Geschichte dieses Übergangs zur Demokratie ist die Grundlage zum Verständnis der heutigen politischen Lage in Chile. Der erste Teil dieser Arbeit handelte von den gravierenden Differenzen innerhalb der chilenischen Linken. Sie führten die Unidad Popular in die Handlungsunfähigkeit. Ein notwendiger politischer Rückzug, der die gesellschaftliche Akzeptanz eines militärischen Eingreifens hätte beenden können, unterblieb. So kam es zur Katastrophe der faschistischen Diktatur. Diese außergewöhnliche Situation nutzte die Rechte zur grundsätzlichen Umgestaltung der Gesellschaft. Alle Errungenschaften aus fast 50 Jahren sozialer Kämpfe wurden geschleift und Chile zu einem neoliberalen Musterstaat geformt. Daneben ergriff man Maßnahmen um das in der Gesellschaft vorhandene linke Bewusstsein auszuradieren. Im vorliegenden Text geht es um die Pläne der Militärregierung und das parallel dazu langsam wieder aufkeimende gesellschaftliche Leben. Die neuen Akteure bereiten den Boden für die Nationalen Protesttage gegen die Diktatur. In der nächsten Ausgabe wird ein dritter Teil den Zeitraum der Massenbewegung gegen die Diktatur und der Verhandlungen zwischen den politischen Lagern über die Ablösung Pinochets zum Inhalt haben. Jeder Diktator und jede mit diktatorischen Mitteln regierende Klicke steht vor dem gleichen Problem. Durch einen Staatsstreich kann man mit militärischen Mitteln die politische Macht in einem Land erobern. Durch Gefangennahme und/oder Ermordung der politischen und intellektuellen Vertreter der unterworfenen Schichten versetzt man diese zeitweilig in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit. Doch das ist nicht von Dauer. Die Angehörigen der politisch und/oder sozial enthaupteten Klassen passen sich an die veränderten Verhältnisse an. Sie probieren aus, wie weit man unter den neuen Bedingungen bei der Verfolgung seiner Interessen gehen kann, ohne sich in zu große Gefahr zu bringen. In diesem Prozess tauchen aus der Basis der Gesellschaft neue Führungspersönlichkeiten auf. Über kurz oder lang entstehen wieder landesweite Verbände wie z.B. Gewerkschaften. Diese Zusammenschlüsse können die organisatorische Basis dafür bilden, dass die Eroberer der Macht in langwierigen Auseinandersetzungen gestürzt werden. Dem Diktator und den von ihm vertretenen Kräften stellt sich daher die Aufgabe, mit einer Kombination aus Zugeständnissen und Repression die Besiegten zur Tolerierung der neuen Herrschaft zu bewegen. Dabei dürfen die Zugeständnisse natürlich nicht das inhaltliche Ziel, für das die Macht erobert worden ist, infrage stellen. Die Geschichte vieler – nicht nur lateinamerikanischer Länder – zeigt, dass sich solche Verhältnisse über Jahrzehnte hinweg aufrecht erhalten lassen. Doch der vorher beschriebene Prozess lässt sich nur verzögern. Sodass, abhängig von der inneren und äußeren Situation des jeweiligen Landes, die Diktaturen durch liberale revolutionäre Aufstände (z.B. Cuba) oder einen von oben gesteuerten Übergang zur Demokratie (z.B. Spanien) ihr Ende fanden. Die Strategen der chilenischen und internationalen Bourgeoisie hatten 1973 auf folgende Frage eine Antwort zu finden. Wie muss eine zukünftige staatliche Ordnung beschaffen sein, die den Neoliberalismus unangetastet lässt und gleichzeitig von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung als gesetzlicher Rahmen der Gesellschaft akzeptiert wird? Eine Militärdiktatur als Dauereinrichtung wurde zu Beginn nicht einmal von Pinochet ins Auge gefasst. Die Geburt der neuen Verfassung Nach dem chilenischen Standardwerk über die Zeit der Militärregierung, La Historia Oculta Del Régimen Militar, geschrieben von drei bürgerlichen Journalisten, Ascanio Cavallo, Manuel Salazar und Oscar Sepúlveda, hatte sich die Militärjunta vorgenommen die Regierungsgeschäfte 1976 wieder in zivile Hände zu legen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Allende sein Amt regulär ausgeübt. Daher lud der Oberkommandierende der Luftwaffe schon wenige Tage nach dem Putsch zur Gründung einer Kommission zur Überarbeitung der Verfassung von 1925 ein. Von Seiten der Generäle gab es anfangs nur zwei Vorgaben: Erstens sollte die Bildung von Minderheitsregierungen ausgeschlossen werden. Zweitens wollte man die Wege versperrt sehen, die Allendes Rechtsanwälte gefunden hatten, um soziale Reformen auch gegen die Mehrheit des Parlamentes voranzubringen. Doch dabei blieb es nicht. Einige Jahre später erhielt die Kommission genaue Vorgaben was die Regierung von ihr erwartete. Vorsitzender der Arbeitsgruppe wurde Enrique Ortúzar. Er war als Justizminister des rechten Präsidenten Jorge Alessandri (1958–1964) an dessen Versuch einer Überarbeitung der Konstitution beteiligt gewesen. Des Weiteren berief man Professoren des Verfassungsrechts. Unter den Mitgliedern der Kommission befand sich auch ein junger Dozent der angesehenen Katholischen Universität in Santiago, Jaime Guzmán. Er hatte sich seine Berufung redlich verdient. Als Student führte der Sympathisant der spanischen Diktatur den, letztlich erfolglosen, Widerstand gegen die Modernisierung der Strukturen an seiner in kirchlichem Besitz befindlichen Hochschule an. Später war er an der Gründung der paramilitärischen Bewegung Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) beteiligt. Dort schied er aber laut Wikipedia „wegen methodischer Unterschiede im Kampf gegen die Regierung Allende“ aus. Unter den Mitgliedern gab es gewisse ideologische Unterschiede, die zu heftigen inhaltlichen Auseinandersetzungen führten und schließlich das Ausscheiden einiger Herren und damit die Vereinheitlichung der politischen Bandbreite der Gruppe zur Folge hatten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Ergebnis ihrer fünfjährigen Tätigkeit. 1978 präsentierten sie nicht eine Reform der Verfassung von 1925, sondern den Entwurf eines neuen Grundgesetzes. Neben den Vorgaben von Seiten der Generäle ist das wohl das Verdienst von Jaime Guzmán. Wikipedia bezeichnet ihn als „den wichtigsten Ideologen der Verfassung von 1980“. Bis zu seinem Tode 1991, er starb bei einem Anschlag der FPMR, wird er noch häufiger in wichtigen Funktionen bei der äußersten Rechten tätig. Der nun vorliegende Entwurf wurde einer Consejo de Estado (Staatsrat) genannten Einrichtung übergeben. Laut der Historia Oculta hatte er keine wirkliche Aufgabe und diente nur der repräsentativen Einbindung ehemaliger Würdenträger. In seinen Reihen befanden sich zwei ehemalige Präsidenten und die früheren Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte. Es zeugt von der Intelligenz der Diktatur, dieses Gremium – zumindest gegenüber der Öffentlichkeit – mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung zu beauftragen. Wird auf diese Weise doch der Anschein erweckt, dass die neue Konstitution nicht die Wünsche der Putschisten widerspiegelt, sondern das Ergebnis der Anstrengungen und der Sachkunde unabhängiger Persönlichkeiten ist. Schließlich konnte man davon ausgehen, dass die ehemaligen Präsidenten durchaus noch über Ansehen bei ihren Wählern verfügten. Auf der anderen Seite barg dieses Vorgehen auch Risiken. Die hier Versammelten wirkten in Zeiten einer liberalen Demokratie und waren von ihr geprägt. Sie unterstützten die Militärs bei der Neuausrichtung des Staates im Rahmen eines zeitlich befristeten Ausnahmezustandes. Aber sie vertraten den Grundsatz, dass sich Polizei und Armee einer gewählten Regierung unterzuordnen haben. Dies wird am Agieren von Jorge Alessandri deutlich. Nach Angaben der Historia Oculta führte er das Gremium auf eine Weise, die dessen Unabhängigkeit garantieren sollte. Daher wurde der Staatsrat von der Militärregierung als eine „wirkliche Festung des ehemaligen Mandatsträgers“ angesehen. Als zwei Jahre später sein Verfassungsentwurf vorlag, wurde er von der Militärregierung mit Misstrauen beäugt. Sie berief eine ad hoc Arbeitsgruppe ein, die den Text akribisch mit dem Entwurf der Gruppe Ortúzar verglich und ihrerseits überarbeitete. Letztendlich ist diese Arbeitsgruppe für die Verfassung von 1980 verantwortlich. Die Historia Oculta weist darauf hin, dass sich bei einem Vergleich von Alessandris Entwurf mit der endgültigen Verfassung 175 Unterschiede finden. Dabei handelt es sich um 59 fundamentale Änderungen. Die für Alessandri am wenigsten zu akzeptierende Festlegung betraf die Ernennung der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Da sie bis heute gilt, zitieren wir hierzu die drei chilenischen Journalisten: „Alessandri hatte festgestellt, dass diese Bevormundung den Präsidenten unbeweglich macht und ihn praktisch dazu zwingt die Streitkräfte in die Regierung einzubeziehen.“ Trotz seiner massiven Probleme mit dem Verfassungstext, der nun zur Volksabstimmung vorgelegt werden soll, bleibt Alessandri treu an der Seite der Putschisten. Seine divergierenden Ansichten übermittelt er der Militärregierung. Diese ist zwar weiterhin darum bemüht ihn einzubinden, geht aber nicht auf seine Einwände ein. Dessen ungeachtet bleibt er in den Wochen vor dem Plebiszit stumm. Die Öffentlichkeit erfährt nichts von seinen tatsächlichen Standpunkten da er das Projekt nicht gefährden will. Selbst nach der Abstimmung gibt er seine Einwilligung, dass die Militärregierung sein Rücktrittsgesuch erst dann veröffentlichen darf, wenn es ihr opportun erscheint. Die verzweifelte Suche der Angehörigen Während die Basis für das zukünftige Chile gezimmert wurde erwachte die chilenische Gesellschaft langsam zu neuem Leben. Der Schockzustand in den sie durch den Putsch gestürzt war begann sich vorsichtig zu lösen. Als erste traten die Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen an die Öffentlichkeit. Die Regierung behauptete, nichts mit der Festnahme dieser Menschen zu tun zu haben. So begannen die Ehefrauen und Mütter auf eigene Faust mit der Suche nach ihren Angehörigen. Ein zutiefst menschliches Anliegen gegen das man eigentlich nur schwer etwas vorbringen kann. Doch galten diese Nachforschungen den Anhängern Pinochets als Teil einer internationalen marxistischen Kampagne zur Verleumdung des Landes. Unter dem Schutz vor allem der Katholischen Kirche bildeten sich im Laufe der Zeit Selbsthilfegruppen. Diese Entwicklung beschreiben die Sozialwissenschaftler Patrick Guillaudat und Pierre Mouterde in ihrer Arbeit „Los Movimientos Sociales En Chile 1973–1993“ (Die sozialen Bewegungen in Chile 1973–1993) so: „Es war ein Phänomen das sich damals in praktisch ganz Lateinamerika entwickelte: Die Rolle der oppositionellen Vorhut spielte eine kleine Gruppe von Frauen, die sich plötzlich auf einem Vorgeschobenen Posten im Kampf gegen die Diktatur befanden. (…) Mit einem erstaunlichen Mut der Verzweiflung waren sie es, die zum ersten Mal die Mauer des Schweigens und des Terrors aufbrachen, in Chile wie an anderen Orten.“ Am 14. Juni 1977 kommt es zum öffentlichen Protest gegen die Militärregierung. Der Zusammenschluss von Familienangehörigen von Verhafteten und Verschwundenen organisierte im Gebäude der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) einen Hungerstreik. 26 Frauen unterstreichen damit ihre Forderung, dass die Regierung Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen geben muss. Dies war der Auslöser für ähnliche Aktionen in anderen Teilen des Landes. Die Bewegung wächst und ein Jahr später beteiligen sich an einem weiteren Hungerstreik schon über 100 Personen. Die schon erwähnten Sozialwissenschaftler fassen zusammen: „Zum ersten Mal im Chile der Diktatur erwachte eine oppositionelle öffentliche Bewegung zu neuem Leben, tatsächlich eine defensive Bewegung, aber sie überwand den engen Kreis der politischen Aktivisten und war angeregt, eine neue Erscheinung, fast ausschließlich durch Frauen.“ In den folgenden Jahren bilden sich als Folge der sozialen Probleme in den ärmeren Stadtvierteln weitere Bürgerinitiativen. Am bekanntesten sind die olla común (gemeinsamer Kochtopf) genannten Gruppen. Dabei handelt es sich um selbst organisierte Volksküchen. Auch sie wirken zumeist im Umfeld der Kirchen und werden ebenfalls hauptsächlich von Frauen getragen. Die Einführung der neuen Verfassung In diesem Umfeld des zaghaften Erwachens des sozialen Lebens beschließt Pinochet 1980 der neuen Verfassung mittels einer Volksabstimmung Legitimität zu verleihen. Eine öffentliche Debatte über das Für und Wider einzelner Bestimmungen findet natürlich nicht statt. Die Parteien der ehemaligen Unidad Popular haben keine Möglichkeit sich zu äußern. Im Untergrund ruft die Kommunistische Partei dazu auf mit Nein zu stimmen. Den Christdemokraten als Partei geht es ähnlich. Aber ihr ehemaliger Staatspräsident, Eduardo Frei Montalva, er saß nicht im Staatsrat, erhielt die Erlaubnis eine Versammlung abzuhalten. Dort sprach er sich ebenfalls für das Nein aus. Seine Rede wurde live von einigen wenigen Radiostationen verbreitet. Dies war die einzige öffentliche Ablehnung des zur Abstimmung gestellten Textes. Als Ergebnis wurden 67% Zustimmung und 30% Ablehnung bekannt gegeben. Jeder mag selbst entscheiden ob unter solchen Umständen ein Grundgesetz demokratische Legitimität erhalten kann. Man sollte dabei bedenken wie die hiesige Berichterstattung ausgesehen hätte, wenn die gegenwärtigen Präsidenten Boliviens und Venezuelas bei der Einführung ihrer Verfassungen ähnlich vorgegangen wären. Es gibt aber weitere Gründe um die Rechtmäßigkeit der Abstimmung zurückzuweisen. Nicht nur die Propaganda, auch die Organisation der Abstimmung lag fast ausschließlich in den Händen von Anhängern des Regimes. Dies erlaubte Manipulationen und dafür finden sich auch einige Anhaltspunkte. So berichten die drei bürgerlichen Journalisten unter anderem: „Später weisen Experten der Opposition nach, dass in mindestens 9 Provinzen mehr als 100% der Bevölkerung abgestimmt haben.“ Die Ziele der neuen Verfassung Die mit dieser Farce in Kraft gesetzte Verfassung wird erheblichen Einfluss auf den weiteren Fortgang der Ereignisse nehmen. Daher werfen wir nun einen kurzen Blick auf die entscheidenden Punkte. Die neue Konstitution besteht aus zwei Teilen, dem eigentlichen Grundgesetz und zeitlich befristeten Übergangsbestimmungen. Letztere regeln das schrittweise Inkraftsetzen der Verfassungsartikel, die so etwas wie die demokratische Mitwirkung der Bevölkerung und damit den Rückzug der Militärs betreffen. Darin ist festgelegt, dass mit der Annahme der neuen Verfassung Pinochet automatisch auch als Präsident gewählt ist. Seine Amtszeit dauert bis 1989. Mit einer weiteren Volksabstimmung soll 1988 ermittelt werden ob sie sich um 8 Jahre verlängert, also bis 1997. Für den Fall einer Niederlage Pinochets in diesem Wahlgang sehen die Bestimmungen für das folgende Jahr Präsidentschaftswahlen vor. Dafür gilt dann der von der Diktatur geschaffene gesetzliche Rahmen. Hier kommt die eigentliche Verfassung ins Spiel. Da findet sich z. B. in §8 eine wichtige Vorschrift. „Jede Handlung von Personen oder Gruppen, die bestimmt ist Lehren zu verbreiten, die gegen die Familie gerichtet sind, die die Gewalt verteidigen oder eine Konzeption der Gesellschaft, des Staates oder der juristischen Ordnung von totalitärem Charakter, oder im Klassenkampf gründen, sind verboten. (…) Die Organisationen und Bewegungen oder politische Parteien die wegen ihrer Ziele oder wegen der Aktivitäten ihrer Anhänger zu diesen Zielen neigen, sind verfassungswidrig.“ Im gleichen Paragraphen wird den davon Betroffenen eine Reihe von Tätigkeiten verboten. Dazu gehört die Ausübung öffentlicher Ämter, die Arbeit im Erziehungswesen oder im Bereich der Massenmedien. Ebenso sind ihnen ehrenamtliche Funktionen in Nachbarschaftsvereinen, Berufsverbänden, Gewerkschaften und Studentenvereinigungen untersagt. Hier zeigt sich deutlich das mit der Verfassung von 1980 angestrebte Ziel. Die sozialistische und kommunistische Linke soll aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt werden. Der §8 ist zwar beim Rückzug der Militärs verändert worden, nicht aber die Ausrichtung der Konstitution. Das zeigt sich an einer Reihe weiterer Bestimmungen. So z. B. in §19 Punkt 15 wo festgelegt wurde, dass die Mitgliedsverzeichnisse der Parteien öffentlich sind. Auch diese Vorschrift hat man entschärft. Heute müssen die Mitgliederlisten nur der staatlichen Wahlbehörde vorgelegt werden. Dies ist allerdings schlimm genug und zielt weiterhin gegen die Linke, da sie damit einer breiteren Basis beraubt wird. Es fällt Menschen schon schwer genug einer in der Gesellschaft verpönten Partei beizutreten. Wie viel schwieriger wird es für sie, wenn sie wissen, dass ihre Mitgliedschaft den Behörden bekannt gemacht werden muss. Im Falle Chiles Behörden, die auf der Basis solcher Informationen, in der Vergangenheit Menschen getötet haben. Diese detaillierten Vorgaben sind eine weitere Charakteristik der Verfassung. Mit ihr werden Dinge geregelt, die sich in anderen Ländern in Ausführungsgesetzen finden. Damit soll verhindert werden dass ein zukünftig demokratisch gewähltes Parlament mit einfacher Mehrheit Änderungen vornehmen kann. Für Verfassungsänderungen sind in beiden Kammern jeweils 3/5 (§116) der Mandatsträger zu gewinnen. Diese Mehrheit ist schwieriger zu erreichen. Erst recht in einem politischen System in dem ein Teil der Senatoren nicht durch Wahlen bestimmt werden. Die neue Konstitution beinhaltet zwar Regeln für die Tätigkeit von Parteien, aber das heißt noch lange nicht, dass diese jetzt auch legal tätig werden können, bzw. wollen. Einerseits existieren die für ihre Zulassung vorgesehenen Institutionen noch nicht. Andererseits sind die Perspektiven der zu diesem Zeitpunkt in der Illegalität tätigen Organisationen höchst unterschiedlich. Die Christdemokraten hätten die Möglichkeit im Rahmen dieser Verfassung tätig zu werden. Doch sie lehnen die Konstitution weiterhin ab. Daher möchten sie sie nicht indirekt, durch die Inanspruchnahme von dort niedergelegten Rechten, anerkennen. Für die Kommunisten stellt sich diese Frage nicht. Sie bleiben aufgrund des §8 verboten. Wie nicht anders zu erwarten bereiten sich jetzt die Anhänger Pinochets auf die Zukunft vor. Der uns schon bekannte Jaime Guzmán gründet die Unión Demócrata Independiente (Unabhängige Demokratische Union – UDI). In gewissem Sinne handelt es sich dabei um eine moderne Faschistische Partei. Sie ist so aufgeklärt, dass sie auf die diktatorische Ausübung der Herrschaft verzichtet, solange die Interessen der Bourgeoisie gewahrt bleiben. An der Ausgestaltung dieses, von ihren Erschaffern „geschützte Demokratie“ genannten Systems, will sie sich aktiv beteiligen. Die Bezeichnung „geschützte Demokratie“ trifft die Sache recht gut. Die starke und in einigen Bereichen fast unabhängige Stellung der Streitkräfte gegenüber den demokratischen Institutionen ist ein starker Schutz dieses Systems. Sie ist die Garantie, dass sich die Gesellschaft nur schwer von den Zielen der Verfassung, dem Schutz des kapitalistischen Eigentums, emanzipieren kann. Sollte das doch wider Erwarten gelingen, steht das Militär Gewehr bei Fuß, dies in bekannter Art und Weise zu unterbinden. Auch dafür sorgt die Verfassung. Sie gibt einer gewählten Regierung fast keine Mittel an die Hand die Armee zu demokratisieren. Die Wirtschaftskrise Für das Regime lief damals alles bestens. Nur die 1979 einsetzende Anschlagswelle gegen einige seiner Funktionäre störte ein wenig. Hier machte sich die „Operation Rückkehr“ des Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (Bewegung der Revolutionären Linken – MIR) bemerkbar. Doch die wenigen Toten waren, global gesehen, bedeutungslos. Die Junta, die anfangs nur kurze Zeit an der Regierung bleiben wollte, hatte Gefallen an der Macht gefunden. Mit der neuen Verfassung sah sie ihre Stellung bis 1997 gesichert. Doch da machte ihr, für Marxisten wenig überraschend, die Ökonomie einen Strich durch die Rechnung. Das muss für sie bitter gewesen sein, waren die Ausmaße der Krise doch eine direkte Folge ihrer neoliberalen Politik. Jede Wirtschaftspolitik greift in das freie Spiel der Kräfte ein. Dadurch werden einige Bereiche bevorzugt, während andere das Nachsehen haben. Die Militärregierung begünstigte das Handels- und Finanzkapital. Durch die Flexibilisierung der Finanzmärkte hatten sowohl die großen Finanzgruppen, als auch die Konsumenten einen einfacheren Zugang zu Krediten. Durch die Senkung der Zölle konnten die Importeure Konsumgüter billiger auf den nationalen Markt bringen. Als Folge dieser Maßnahmen stiegen sowohl die interne wie die externe Verschuldung. Gleichzeitig spezialisierte sich die chilenische Bourgeoisie auf die Produktion von Exportgütern wie Früchte, Zellulose oder mineralische Rohstoffe. Die auf dieser Basis neu entstandenen Unternehmensgruppen waren überschuldet und widmeten sich mehr der Spekulation als produktiven Tätigkeiten. Dies führte 1981 zu einer Finanzkrise der sich eine Wirtschaftskrise anschloss. Auslöser war das Sinken der Weltmarktpreise für Rohstoffe. Als erstes traf es einen traditionsreichen Zuckerproduzenten. Er hatte auf steigende Preise gesetzt und musste jetzt Konkurs anmelden. Damit riss er die Finanzgruppe, deren Teil er war, mit in den Abgrund. Bei dieser Insolvenz spielte auch die 1979 durchgeführte Senkung des Einfuhrzolls für Zucker eine Rolle, wodurch das Unternehmen seinen geschützten Heimatmarkt verlor. Hier kommen zwei weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen ins Spiel. Um die Inflation zu begrenzen hatte man eine Parität von 39 Chilenischen Pesos zu einem US-Dollar festgelegt. Gleichzeitig waren die Löhne und Gehälter mit der Preissteigerung verknüpft. Damit befand sich das produzierende Gewerbe in einer Zwickmühle. Es gab zwei Möglichkeiten um den Unternehmen die Konkurrenzfähigkeit zurückzugeben. Man hätte entweder den Peso abwerten oder die Einkommen der Beschäftigten weiter senken müssen. Beides wollte die Regierung nicht. Als sie sich 1982 zur Abwertung des Peso gezwungen sah, steckte Chile schon in einer massiven Wirtschaftskrise. In diesem Jahr ging das Bruttoinlandsprodukt um 14,1% zurück. Diese Entwicklung hatte massive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Menschen. In Chile werden Kredite nicht in der Landeswährung aufgenommen sondern in Unidades de Fomento (Finanzeinheiten – UF). Der Kurs der UF wird täglich, anhand der Inflationsrate, neu bestimmt. Durch die Abwertung des Peso stiegen die Preise der importierten Güter, und damit die Inflationsrate. Die Einkommen, die ebenfalls an die Inflationsrate gekoppelt waren, wurden aber nur in wesentlich größeren Zeitabständen angepasst. So stieg die Schuldenlast im Verhältnis zum Einkommen und damit die für Zinsen und Tilgung aufzuwendende Summe. Die Schuldner verarmten und ihr Lebensstandard sank. Verschärft wurde die Situation durch eine zunehmende Arbeitslosigkeit. Sie war in den Jahren 1980 und 1981 mit 12% schon recht hoch. Doch erreichte sie 1982 fast 24% (Zahlen der Universidad de Chile) und lag damit höher, als während des ökonomischen Schockprogramms in den ersten Jahren des Regimes. Dieser Vergleich gibt wahrscheinlich nicht annähernd die Dramatik der Lage wieder. So gehen andere Quellen für diese Zeit von einer offiziellen Arbeitslosenrate von über 30% aus. Das Wiederaufleben der Gewerkschaftsbewegung Die ökonomische Krise provozierte gewerkschaftliche Kämpfe. Hier stutzt man. Wie können in einem Land mit einer so grausamen Repression plötzlich Gewerkschaften aktiv werden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir wieder die Anfänge des Regimes betrachten. Mit einem ihrer ersten Gesetzesdekrete zerschlug die Junta die Gewerkschaftszentrale CUT. Das betraf aber scheinbar nicht alle Mitgliedsorganisationen. So kann man dem Internetauftritt der ANEF (Nationaler Verband der Angestellten des öffentlichen Dienstes) entnehmen, dass ihre Existenz keine Unterbrechung erfuhr. Dies lag vielleicht an ihrem damaligen Vorsitzenden Tucapel Jiménez. Er stand den Militärs nahe und verteidigte auf internationalem Parkett die Regierung Pinochet. Möglicherweise ist dieser Widerspruch auch auf die Politik der Christdemokraten zurückzuführen. Einerseits war und ist diese Partei in den Gewerkschaften verwurzelt. Sie dominierte einzelne Verbände wie den der Kupferarbeiter. In den Minen El Teniente und Chuquicamata streikten sie gegen die Regierung Allende. Damit beteiligten sie sich an der Zerrüttung der wirtschaftlichen Basis des Landes und bereiteten den Boden für das Eingreifen der Militärs, das von der Christdemokratischen Partei zuletzt sogar offen gefordert wurde. Die Generäle hatten also anfangs keinen Grund diese Gewerkschaften als Gegner zu betrachten und ließen sie vielleicht fortbestehen. Das ist den damals bevorzugten Verbänden heute peinlich und sie breiten den Mantel des Vergessens über diese Zeit. Zumindest kann man feststellen, dass nach dem Putsch aufgrund der harten Repression jede gewerkschaftliche Tätigkeit zum Erliegen kam. Auch auf dem Feld „Arbeitnehmerorganisationen“ agierte die Junta ziemlich geschickt. Ihr war offensichtlich bewusst, dass sie sich in einer Klassengesellschaft naturwüchsig bilden. Dieses gesellschaftliche Bedürfnis wollte man mit korporatistischen Organisationen kanalisieren. Mit Gewerkschaftsführern wie dem schon erwähnten Tucapel Jiménez gründete man die Central Nacional de Trabajadores (Nationale Zentrale der Arbeiter – CNT). Doch das Projekt scheiterte, da ihm nicht nur die Traditionen der chilenischen Arbeiterklasse entgegen standen. Es fehlten außerdem die ökonomischen Mittel zur Ruhigstellung der Beschäftigten. Auf der anderen Seite war es dem Militär wohl auch nicht möglich mit der Zerschlagung der als feindlich eingeschätzten gewerkschaftlichen Strukturen auch die in den Betrieben verbliebenen informellen Zusammenhänge auszumerzen. Irgendwann zwischen 1975 und 1977 gründen 17 Organisationen die Coordinadora Nacional Sindical (Nationale Gewerkschaftskoordination – CNS). Hinsichtlich des exakten Gründungsjahres findet man unterschiedliche Angaben. Das zeigt vielleicht recht gut, dass sich die Gewerkschaften nur langsam wieder aus der Deckung trauten. Bezeichnend für die innenpolitische Lage ist, dass sich auch die CNS nur im Schatten der Katholischen Kirche bilden konnte. Mit der Gründung dieser ersten staatsfernen Gewerkschaftskoordination begann eine wechselvolle Geschichte. Der Staat reagierte auf diese neue Gewerkschaftsbewegung mit der gesamten Palette seiner Möglichkeiten. Dabei schwankte er zwischen den Extremen. Sie reichten von Kontakten mit Gewerkschaftsführern bis zu ihrer Ermordung. So verschwindet im Juli 1976 der Kommunist Juan Gianelli, ein Gründungsmitglied der CNS. Allerdings geht aus der Literatur über diese Jahre oftmals nicht klar hervor, ob es sich um Vertreter unabhängiger Gewerkschaften handelte, wenn von Kontakten der Militärs mit Gewerkschaftern die Rede ist. Auch außerhalb des Schutzschirmes der Katholischen Kirche kam es zur Bildung von kleineren gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen. So gründete sich in Santiago das Comité Coordinador de Trabajadores (Koordinationskomitee der Arbeiter – CCT). Das widerspiegelt in gewisser Weise die Spaltung der politischen Opposition gegen die Diktatur. Im gewerkschaftlichen Bereich kann sie später überwunden werden. Dennoch führen die kirchliche Patenschaft bei der Gründung und die gezielte Repression gegen die in ihr wirkenden Linken dazu, dass die neue Gewerkschaftsbewegung christdemokratisch geprägt ist. Begünstigt wurde dies von der radikalen Linken mit ihrer Orientierung auf den bewaffneten Kampf. Das betraf hauptsächlich den MIR und wird heute von damals Aktiven kritisch gesehen. In einem Interview mit Gaby Weber äußert sich ein „Enrique“ so: „Was die Ausbildung der gewerkschaftlichen Kader und der Anführer der sozialen Bewegungen anging, ließen wir der Christdemokratie bzw. der katholischen Kirche den Vortritt.“ Bei der Erkämpfung von gewerkschaftlichen Rechten spielte auch der Druck aus dem Ausland eine wichtige Rolle. So hatte der Antrag des Nordamerikanischen Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO bei einem interamerikanischen Gewerkschaftstreffen Erfolg, einen Hafenboykott gegen Chile auszurufen. Einen Boykott der aus Chile kommenden Schiffe, der insbesondere die Ausfuhr von Früchten verhindert hätte, fürchteten die Militärs. Und so sah sich die Regierung gezwungen geheime Verhandlungen mit dem AFL-CIO aufzunehmen. Die Junta musste erkennen, dass sie ohne Zugeständnisse den Boykott nicht vom Tisch bekommt. Daher verfasste der Arbeitsminister José Piñera, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten, zwei Gesetzesdekrete, die den Arbeitern erste gewerkschaftliche Rechte zubilligten. Eine Reihe weiterer Dekrete folgte, die den Rahmen für das Wirken von Gewerkschaften schufen. Schließlich wurde so ein Arbeitsrecht auf der Basis neoliberaler Prinzipien geschaffen. Es beinhaltet die Beschränkung einer Gewerkschaft auf nur einen Betrieb und das Verbot von Dachverbänden. Auf der Basis dieser Gesetze wurden 1981 einige Führer der CNS zu Gefängnisstrafen verurteilt und des Landes verwiesen. Im folgenden Jahr wurde der uns schon bekannte Tucapel Jiménez von einer Todesschwadron ermordet. Er war zwischenzeitlich in Opposition zu Pinochet gegangen und Mitglied der CNS. Das ist die politische Lage bei Ausbruch der Wirtschaftskrise. Die Gewerkschaften versuchen mit betrieblichen Streiks Gehaltserhöhungen durchzusetzen. Ebenso finden Proteste zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze statt um die Regierung zum Eingreifen zu bewegen. Diese hatte mit Hilfsaktionen einige Finanzgruppen gerettet und ebensolches fordern nun die Arbeitnehmer für ihre Arbeitsplätze, doch sie stoßen damit meist auf taube Ohren. In dieser Situation hatte der Aufruf zu einem, selbstverständlich verbotenen, Generalstreik die Wirkung des Funkens der ein Feuer auslöst. Er kam von der Confederación de Trabajadores del Cobre (Bund der Kupferarbeiter – CTC). Da der politische und militärische Druck – die Armee hatte schon die wichtigsten Minen des Landes umstellt – zu groß wurde, sah er sich gezwungen zurückzuweichen. Doch zusammen mit der Absage des Streiks gab der Vorsitzende, Rodolfo Seguel, eine neue Losung aus. Er forderte die Menschen zu einem nationalen Protesttag auf. Der zentrale Punkt des Aufrufes lautete, dass man ab 20 Uhr das Licht abschalten und mit dem Scheppern von Kochtöpfen beginnen soll. Am 11. Mai 1983 warteten alle gespannt darauf, was passieren wird. Der Tag unterschied sich in Santiago nicht wesentlich von anderen. In den Kupferminen war zwar die eine oder andere Schicht ausgefallen aber sonst blieb es weitgehend ruhig. Doch um 20 Uhr begann das Schlagen der Kochtöpfe. Man hörte den Lärm nicht nur in den ärmeren Vierteln. Die Proteste erreichten sogar Providencia und Las Condes, Wohngegenden der Bessergestellten. Die Polizei war dort wie gelähmt. In den Armenvierteln gingen die Menschen sogar auf die Straße. Laut den schon erwähnten Sozialwissenschaftlern machten dabei die Frauen den Anfang. Hier zeigte die Arbeit der Selbsthilfegruppen Wirkung. Doch bei den Armen griff die Polizei ein. In der Nacht kam es zu zwei Toten und 600 Verhafteten. Es fehlt der Platz ausführlich zu beschreiben, was dieser Tag, bzw. diese Nacht, emotional für die Menschen in Chile bedeutete. Die politische Wertung ist da einfacher. Zum ersten Mal seit dem Putsch stellte sich eine Massenbewegung öffentlich gegen die Militärregierung. Doch leider ist der Erfolg dieses Tages nicht auf eine erstarkte Linke zurückzuführen. Lassen wir das die beiden Sozialwissenschaftler erklären: „Zeichen der Zeit, die Verbände welche Basis des Staatsstreichs waren begannen offen zur Opposition zu wechseln.“ Damit hatte sich ein Epochenwechsel vollzogen. Dem ersten Protesttag folgten weitere. Sie führten zu einem zwischen der Rechten und Vertretern der Mitte ausgehandelten Übergang. Dieser Prozess und das Agieren der Linken in ihm wird in der nächsten Ausgabe behandelt. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Militärregierung führte Anfang der 80er Jahre zu einer Finanzkrise die einen massiven Einbruch der Wirtschaft nach sich zog. Es kam zu zahllosen Unternehmenszusammenbrüchen und die Arbeitslosigkeit erreichte Werte von bis zu 30 Prozent. Diese Entwicklung untergrub die soziale Basis der Diktatur. Laut dem chilenischen Standardwerk über diese Zeit, La Historia Oculta del Régimen Militar, war damals sogar ein gewisser León Vilarín, „der mythologische Anführer der Lastwagenfahrer“ an Aktivitäten gegen die Regierungspolitik beteiligt. Das will etwas heißen. Gehörten die Lastwagenfahrer doch zur Speerspitze der Opposition gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende. Diese Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis waren ausschlaggebend für den, von allen Beteiligten so nicht erwarteten, Erfolg des nationalen Protesttages vom 11. Mai 1983. Er war von der Vereinigung der Kupferarbeiter initiiert worden, einer Organisation, die der Regierung der Unidad Popular auch schon Schwierigkeiten gemacht hatte. Nun wurde im Abstand von einem Monat zu weiteren Protesten aufgerufen. Während sich die Bewegung auf das ganze Land ausdehnte verlagerte sich das organisatorische Zentrum von den Gewerkschaftern zu den Parteien, und da vor allem zu den Christdemokraten. Welche Bedeutung hatten diese Proteste? Kündigten sie etwa eine revolutionäre Situation an? Sollte jetzt, vier Jahre nach dem Sturz Somozas in Nicaragua, etwas Vergleichbares in Chile auf der Tagesordnung stehen? Nach Genaro Arriagada, einem christdemokratischen Politiker und Politikwissenschaftler, wurde damals „die Opposition von einer Welle der Hoffnung ergriffen. Das erste Mal seit dem Beginn des Regimes dachte man dass eine politische Niederlage Pinochets möglich wäre.“ Es ist klar, dass sich die Christdemokratie nur eine „politische Niederlage“ wünschte. Die revolutionäre Linke hoffte natürlich auf eine Entwicklung wie in Nicaragua. Deshalb orientierte z.B. der MIR (Movimiento de la Izquierda Revolucionaria – Bewegung der Revolutionären Linken) und Teile der KP auf eine bewaffnete Erhebung. Doch war das realistisch? Nach einem Lenin zugeschriebenen Satz gibt es dann eine revolutionäre Situation, „wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“. In diesem Zitat werden zwei Voraussetzungen genannt die beide vorhanden sein müssen damit es zu einer tief greifenden Umgestaltung kommen kann. Lassen wir die Frage offen, ob damals auf Seiten der Beherrschten die Dinge Lenins Kriterium entsprachen. Beschränken wir unsere Betrachtung auf die herrschende Klasse. Lässt sich sagen, dass sie im Sinne Lenins nicht mehr weiter regieren konnte? Leider muss man das verneinen. So hatte der ehemalige Vorsitzende des Partido Nacional (Nationalpartei), Sergio Onofre Jarpa, er war zu dieser Zeit Botschafter in Argentinien, schon vor dem ersten Protesttag begonnen ein Memorandum über den politischen Zustand des Landes zu erstellen. Er ließ es Pinochet zukommen und wurde daraufhin von diesem zu einer Erörterung der Situation eingeladen. Dabei wurde vereinbart, einen Plan auszuarbeiten mit dem auf die veränderte Lage reagiert werden soll. Seine Wichtigsten Punkte waren: • Das Ansehen von „Präsident“ Pinochet zu schützen. • Die Unterstützung durch Berufsverbände, Unternehmervereinigungen und der Politik wieder zu erlangen. • Die Ausschaltung der Schlüsselpersonen des inneren Feindes. • Die Schaffung einer einheitlichen politischen Leitung mit den Sektoren die zum Regime neigen. • Die Schaffung einer sozialen Bewegung um die Unabhängigen an die eigene Basis anzugliedern. • Es sollten Debatten über den Marxismus und die Zeit der Unidad Popular gefördert werden. • Die Schaffung eines Expertengremiums um die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zu leiten, mit klaren Vorgaben und langfristig angelegt. • Die Propaganda sollte auf den sowjetischen Kommunismus zielen und nicht auf die lokalen Politiker. • Die Einführung der neuen institutionellen Ordnung soll mit der Schaffung von Parteien- und Wahlgesetz beschleunigt werden. • Die Schaffung einer von der Regierung unabhängigen politischen Bewegung die diese aber verteidigt. • Die Festlegung eines Termins für Parlamentswahlen und die Organisierung einer politischen Bewegung um sie zu gewinnen. • Und am wichtigsten, um die vorgenannten Ziele auch erreichen zu können, Wirtschaftshilfen für Not leidende Sektoren der Arbeit und der Produktion. Die Autoren der Historia Oculta del Régimen Militar – diesem Buch sind auch die Punkte des Arbeitsplanes entnommen – fassen sein Ziel so zusammen: „Die globale Absicht des Planes, wie ihn seine Autoren definierten, war die Sicherung der Rechtskraft der Verfassung von 1980, um sie als Rahmen der politischen Entwicklung zu fixieren. Zusätzlich würde er dem Regime eine politische Basis verschaffen um sein Werk zu verteidigen und auf die Zeit nach 1989 zu projizieren, dem vorgesehenen Zeitpunkt an dem sich die Regierung einem Wahlkampf zu stellen hat.“ Heute kann man sagen, dass dieser Arbeitsplan erfolgreich umgesetzt wurde. Die Verfassung von 1980 ist, wenn auch an einigen Stellen geändert, weiterhin in Kraft. Doch nicht alle Anhänger dieser Strategie werden diese Aussage teilen. Für sie steht im Mittelpunkt, dass sie die Regierung Pinochet an der Wahlurne nicht haben verteidigen können. Andererseits teilten dieses Ziel nicht alle Rechten. Die klügeren unter ihnen sahen, dass sich eine Mehrheit der Gesellschaft nach demokratischer Mitsprache sehnte. Die wollte man ihr durchaus gewähren, wenn auch nur im beschränkten Rahmen der Verfassung von 1980. Die persönlichen Ambitionen Pinochets hatten für sie einen geringeren Stellenwert. Doch das behielten sie damals noch für sich. Einerseits, um beim Diktator nicht in Ungnade zu fallen. Andererseits, damit notwendig werdende Kompromisse mit der politischen Mitte von dieser auch als Erfolg verkauft werden können. Für die Rechte war nun entscheidend wie sich die Christdemokraten für die Zukunft positionieren, ihrem alten Partner beim Sturz der Regierung Allende. Daher nahm Jarpa über einen Mittelsmann Kontakt zu ihnen auf. Er wollte wissen, ob sie bereit wären in den Kreis der die Verfassung tragenden Kräfte einzutreten. Als Reaktion auf dieses Gesprächsangebot beschlossen die Christdemokraten die Proteste fürs erste weiter zu führen und konkrete Schritte der Regierung abzuwarten. Später fuhren sie die soziale Mobilisierung zurück und vereinbarten mit einem Teil der traditionellen Rechten einen Acuerdo Nacional (Nationale Übereinkunft). Doch das hatte keine bleibenden Folgen weil diese Übereinkunft vom Regime abgelehnt wurde. Die Christdemokratie An dieser Stelle ist es notwendig die Democracia Cristiana (DC) etwas eingehender zu betrachten. Aufgrund ihres Namens wird man sie als die chilenische Version der entsprechenden deutschen Parteien betrachten. Hinsichtlich ihrer Nähe zum Christlichen Glauben ist das nicht verkehrt. Wirft man aber einen Blick auf ihre Programmatik und ihren historischen Platz in der politischen Landschaft erinnert sie mehr an die deutsche SPD. In den Programmen beider Parteien fanden sich soziale Forderungen die man als Linker sofort unterstützen wird. Zu den Konzepten der chilenischen Christdemokraten gehörte der Punkt, dass der „Kapitalismus zu überwinden“ sei. Der tatsächliche Inhalt ihres Strebens war und ist aber der Kampf gegen die konsequente Linke, ist ein profunder Antikommunismus. Ihren Offenbarungseid leistete die chilenische Christdemokratie während der Regierung Allende. Anstatt mit der Linken ihre sozialen Forderungen umzusetzen verbündete sie sich mit der Rechten und bereitete so den Boden für den Militärputsch. Das war eigentlich auch nicht überraschend, schließlich war eine der Gruppen die sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Democracia Cristiana vereinten die Falange Nacional. Mit diesem Namen drückte man in den 30er und 40er Jahren seinen positiven Bezug auf die spanische Diktatur aus. Laut Rafael Agustín Gumucio, ein späterer Anführer der IC (Izquierda Cristiana – Christliche Linke), war an der Gründung und Finanzierung der DC der US-Geheimdienst CIA und die internationale Christdemokratie beteiligt. Die Gelder kamen aber nur dem rechten Parteiflügel zugute. Die Folgen beschreibt er so: „Allmählich unterließ man die Anstrengungen damit alle Parteimitglieder regulären Beitrag zahlen, weil in Wirklichkeit das was sich unter diesem Titel sammeln lässt, unbedeutend war in Relation zu den Mitteln die aus dem Ausland kamen oder von vermögenden Leuten gespendet wurden.“ Trotz dieser Geschichte haben zumindest Teile der DC keine Probleme sich mit sozialistischer Theorie zu beschäftigen. Es überrascht wenn man im Buch Por la razon o la fuerza (Als Titel hat der Autor den chilenischen Wappenspruch gewählt: Mit Verstand oder Kraft), des schon erwähnten Genaro Arriagada, eine sich auf Marx berufende Argumentation findet. Darin legt er dar, warum es für die Oppositionsbewegung unmöglich war, zu einem erfolgreichen Generalstreik aufzurufen. Das lag nicht an ihrer Unfähigkeit sondern an der hohen Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitslosen war höher als die der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Daher hatte der linke Flügel der Opposition kein Mittel in der Hand das Regime unter Druck zu setzen. Der bewaffnete Kampf zählte nicht. Die militärische Strategie des MIR war 1983 schon zum zweiten Mal gescheitert. Trotzdem kam es zu einer Radikalisierung eines Teils der Gesellschaft und damit auch der Linken. Getragen wurde sie von Bewohnern der poblaciones, der großstädtischen Elendsviertel. Hier lebten wenige Arbeiter dafür aber viele Arbeitslose, Unterbeschäftigte oder Hausangestellte. Als Anfang 1984 die Beteiligung an den Nationalen Protesttagen zurückging, galt das nicht für diese Viertel. Hier fanden vor allem Straßenkämpfe statt. Diese Auseinandersetzungen führten jedes Mal zu Todesopfern auch unter Unbeteiligten. Als Pinochet im November 1984 den Belagerungszustand ausrief, war daher die Zustimmung in den unteren Schichten der Gesellschaft größer als in der Mittelschicht. Und das obwohl hier eine große Mehrheit weiterhin auf Seiten der Opposition stand. Die KP distanzierte sich nicht von diesen Auseinandersetzungen, die von den Christdemokraten als Ausdruck von zielloser spontaner Gewalt betrachtet wurden. Für die KP waren sie ein Bestandteil ihrer Losung von der Legitimität „aller Formen des Kampfes“. Möglicherweise war das auch eine Reaktion auf das Fehlen der Möglichkeit des Generalstreiks. Wenn man als Linker nicht als Teil einer breiten Arbeiterbewegung die Regierung stürzen kann, bleibt nur der bewaffnete Kampf. Er wurde nun von der KP, mit ihrem bewaffneten Arm FPMR (Frente Patriotico Manuel Rodriguez) aufgenommen. Eigentlich ist diese Formulierung nicht ganz richtig, da sich die KP nie offiziell dazu bekannt hat, aber in der chilenischen Öffentlichkeit zweifelt niemand an diesem Zusammenhang. Die Spaltung der Opposition Das gab der DC die Möglichkeit die KP aus den sich ab 1983 bildenden Bündnissen gegen die Diktatur herauszuhalten. Als Begründung diente die, aus Sicht der DC und der Mittelschicht, abenteuerliche Politik der Kommunisten, die nur den Militärs in die Hände arbeitete. Daher agierte die Opposition gespalten. Auf der einen Seite bildete sich die von den Christdemokraten geführte Alianza Democrática (AD – Demokratische Allianz) und auf der Anderen um KP und MIR der MDP (Movimiento Democrático Popular – Demokratische Volksbewegung). Die Sozialisten waren gespalten. Der von Carlos Altamirano geführte Flügel, der sich sozialdemokratische Positionen zu Eigen gemacht hatte, arbeitete bei der AD mit. Dagegen war die Almeyda-Fraktion, die noch den traditionellen Werten verbunden war, Bestandteil der MDP. Mitte der 80er Jahre stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die Linke hat kein Mittel die Regierung in Bedrängnis zu bringen und die Formen des Kampfes, die von ihr eingesetzt werden, isolieren sie. Die wirtschaftliche Lage verbessert sich und damit sinkt die Unzufriedenheit mit der Regierung. In diesem Umfeld schreitet das Regime mit der Schaffung von neuen Institutionen voran. Letzteres versucht die FPMR 1986 mit ihrem Anschlag auf Pinochet zu stören. Doch der Angriff scheitert. Als Rache für die bei dem Anschlag gefallenen Mitglieder der Leibwache töten Todesschwadrone in den nächsten 48 Stunden vier ehemalige oder aktive linke Aktivisten. Eines der Opfer war der bekannte Journalist und Mitglied des Zentralkomitees des MIR José Carrasco Tapia. Die Christdemokraten befanden sich in einer komfortablen Lage. Sie mussten die harte Repression nicht fürchten. Auch wenn es zu keiner Vereinbarung mit der Regierung gekommen war, arbeitete die Zeit für sie. Eine Bewegung, die eine ungeliebte Regierung loswerden möchte, wird letztlich die vorhandenen Möglichkeiten nutzen, wenn sie keine wirksameren in den Händen hält. Das war im Falle Chiles die in der Verfassung von 1980 vorgesehene Volksabstimmung über die Regierung Pinochet. Diese musste 1988 durchgeführt werden und hatte als Alternativen „Ja“– ihre Fortsetzung, oder „Nein“ – freie Präsidentschaftswahlen im folgenden Jahr. Der Weg dahin führte über mehrere Stationen. Aus Sicht des bürgerlichen Widerstandes handelte es sich dabei um einzelne Kämpfe, die jeweils gewonnen werden mussten, um bei der nächsten Auseinandersetzung überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben. Dabei spielten die Wahlregister eine entscheidende Rolle. Die Diktatur hatte sie nach dem Putsch verbrennen lassen. Im Rahmen der Bildung der neuen Institutionen wurden sie wieder belebt. Jeder Wahlberechtigte konnte sich freiwillig eintragen lassen. Aber nur die Eingetragenen durften auch an den Abstimmungen teilnehmen. Das Kalkül der Regierung war, dass sich die Opposition an dieser Frage spalten werde. Ließen sich nur die bürgerlichen Gegner einschreiben, hätte das Regime eine Chance die Volksabstimmung zu gewinnen. Daher trug sich, im Rahmen eines offiziellen Aktes, Pinochet im Februar 1987 als Erster ein. Auf diese Weise wurde die Einschreibung zur staatstragenden Pflicht erhoben, durch die man der Regierung sein Vertrauen ausspricht. Die Probleme der Linken Die Christdemokraten riefen zur Einschreibung auf, achteten aber darauf, sich vom Regime abzugrenzen. Die KP lehnte dies ab weil sie sich nicht an der Schaffung von Illusionen über die Diktatur beteiligen mochte. Doch der gesellschaftliche Druck wuchs und hatte am Ende zur Folge, dass sie vom Comando Socialista por el No (Sozialistisches Kommando für das Nein), darunter enge Verbündete wie der Almeyda-Flügel der Sozialisten, im Oktober aufgefordert wurde, zu dieser Frage eindeutig Stellung zu beziehen. Nun gab sie ihren Widerstand auf und unterstützte die Eintragung. Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Kommunisten, aber auch der MIR, für die Gesellschaft überflüssig machten. Welche Existenzberechtigung hat eine politische Kraft, die nicht auf ihrer Seite der Barrikade an einer wichtigen Auseinandersetzung teilnehmen will? Die sich nur durch den Druck ihrer Verbündeten schließlich zur Teilnahme bereit erklärt? Die Befürchtungen der Kommunisten waren allerdings nicht unbegründet. Schließlich hatte das Regime schon die Abstimmung über die Verfassung manipuliert. Doch in dieser Frage folgte die KP nicht wirklich ihrer Linie. Hatte Corvalán doch alle Formen des Kampfes für legitim erklärt. Die Eintragung in die Wählerverzeichnisse war doch eigentlich eine Form des Kampfes. Das hätte man so propagieren können, selbstverständlich mit dem Hinweis auf die zweifelhaften Erfolgsaussichten. Doch das sind theoretische Überlegungen nach mehr als 20 Jahren. Kommunistische Parteien mögen eine noch so zentralistische Organisationsstruktur aufweisen, am Ende sind es demokratische Organisationen. Macht die Leitung nicht das, was die Basis erwartet, wird sie hinweg gefegt. Möglicherweise war das der tiefere Grund für das Agieren der KP. Welcher Revolutionär schwenkt schon gern auf die Linie einer Partei ein, und sei sie noch so berechtigt, deren Ziel immer die Bekämpfung des revolutionären Lagers war und die dabei die Ermordung von Sozialisten und Kommunisten billigend in Kauf genommen hatte? Die auch weiterhin jede organisatorische Zusammenarbeit mit Kommunisten ablehnte? Gibt man seinen Gefühlen freie Bahn wird man dies nicht tun. Doch zu den wichtigen Aufgaben von Kommunisten gehört auch die Aussprache von schmerzlichen Wahrheiten. Dass dies nicht, oder nicht in ausreichendem Maße, geschehen ist, hat die KP in eine Existenz bedrohende Krise gestürzt, allerdings darf der Gerechtigkeit halber nicht vergessen werden, dass diese Krise durch das Ende der UdSSR verschärft worden ist. Bei Genaro Arriagada kann man die christdemokratische Freude über die strategischen Fehler der Kommunisten nachlesen. Das folgende Zitat bezieht sich auf die Änderung der politischen Linie von 1980. „Seit damals kostete es die KP drei Jahre in Chile ihren bewaffneten Apparat in Funktion zu setzen … und 10 Jahre sich zu spalten. Die KP hatte sich auf den Weg zu ihrer taktischen Niederlage begeben, der militärischen von 1986 und der strategischen, welche 1990 ihre Spaltung sein würde. So begann die Krise und der endgültige Verfall dessen was, bezogen auf die Dimensionen des Landes, die größte Kommunistische Partei des Westens war, nur in der Bedeutung übertroffen durch ihre Artgenossen aus Italien und Frankreich.“ Doch erst einmal spaltete sich die Basis der Diktatur. Hier hatte sich als Einheitspartei aller rechter Strömungen die Renovacion Nacional (Nationale Erneuerung, RN) gebildet. Streitpunkt war die Frage ob nicht Präsidentschaftswahlen mit mehreren Kandidaten für das Regime vorteilhafter wären. Ein von Onofre Jarpa geführter Flügel tendierte dazu. Er ahnte, dass die Volksabstimmung die gespaltene Opposition hinter dem „Nein“ einigen wird. Demgegenüber hätte eine Präsidentschaftswahl den Vorteil, dass mehrere oppositionelle Kandidaten ins Rennen gehen würden. Diese könnten von der Rechten leichter besiegt werden. Dem widersetzte sich der treu zu Pinochet stehende Flügel unter Jaime Guzmán. Er verließ die RN und formte seine UDI (Unabhängige Demokratische Union) von einer Bewegung zur Partei um. Die Überlegungen von Jarpa waren nicht falsch. So sollte aus der Concertación de los partidos del NO (Konzertierte Aktion der Parteien des NEIN) die Concertación hervorgehen, die in den nächsten 20 Jahren die Präsidenten stellen wird. Doch vorerst bestimmen noch die Militärs die Linie. Sie schickten Pinochet ins Rennen. Doch ihr Bewegungsspielraum schrumpfte. Die internationale Einflussnahme In den ersten Jahren nach dem Putsch wurde das Regime von den imperialistischen Ländern gestützt. Nach außen verurteilte man die Menschenrechtsverletzungen aber insgeheim billigte man sie. Schließlich hatte man den gleichen Feind, die sozialistische und kommunistische Bewegung. Unvergessen ist z.B. der Freundschaftsbesuch von Franz Josef Strauß bei Pinochet. Oder die Ausbildung von chilenischen Offizieren bei der Bundeswehr während der SPD-FDP Regierung. Doch eine Alleinherrschaft beinhaltet auch Risiken. Das mussten die imperialistischen Länder schmerzlich in Nicaragua erfahren. Dort hatte 1979 ein Bündnis, das von der linken Guerrillaorganisation FSLN bis zum Unternehmerverband reichte, den Diktator Somoza gestürzt. Da die Kämpfe auf der Straße von den unteren Volksschichten getragen wurden hatte anschließend die FSLN die Regierungsgewalt in ihren Händen. Sie nutzte sie für eine Reihe von sozialen Veränderungen. Diese Gefahr bestand auch in Chile. Daher kam es Ende der 70er Anfang der 80er Jahre zu einer Änderung im Umgang mit dem Regime. Möglicherweise wurde schon die Einführung der pinochetistischen Verfassung, mit ihrer Perspektive zu so etwas wie Demokratie, von diesen Kräften beschleunigt. Diese Einflussnahme verstärkte sich nach dem Aufkommen der Nationalen Protesttage. Auf Seiten der Opposition wurden die gemäßigten Kräfte finanziell, und wahrscheinlich auch mit Beratung in Fragen der Strategie, unterstützt. Es scheint, dass auch die Mehrheit der oppositionellen Presseorgane, die in den 80er Jahren entstanden waren, von diesen Zahlungen abhängig war. Zumindest verschwanden sie kurz nach dem Ende der Diktatur vom Markt. Im Vorfeld des Plebiszits gab es die Befürchtung, dass es von den Militärs abgesagt wird. Auch lag eine Wahlfälschung im Bereich des Möglichen. Daher informierten kurz vor der Abstimmung die Regierungen in Washington und Bonn die chilenischen Botschafter von ihrer Besorgnis betreffend der Entwicklungen in Chile. In den Erinnerungen bürgerlicher Oppositioneller wie Arriagada werden diese Stellungnahmen als sehr wichtig für den Fortgang der Ereignisse angesehen. Der Abend des Plebiszits war für die politischen Führer des Landes, Regierung wie Opposition, sehr spannend. Nach den vorliegenden Berichten wurde von den Vertretern der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren, mit Ausnahme der Linken, untereinander ausgemacht, ob man die Zahlen des Innenministeriums oder die von unabhängigen Wahlbeobachter als verbindliches Ergebnis betrachtet. Man einigte sich auf die realistischen Zahlen der Wahlbeobachter. Danach hatte Pinochet mit 43 zu 54,7 Prozent verloren. Wenn man Arriagada Glauben schenkt, hat die Regierung ihre Niederlage nur aufgrund des Druckes von Jarpa und anderen Politikern der RN anerkannt. Der verhandelte Übergang Nach seiner Niederlage hatte Pinochet erklärt, dass es an der Verfassung von 1980 keine Änderungen geben wird. Doch dabei blieb es nicht. Einige Bestimmungen waren so starr, dass sich damit nur schwer ein normales staatliches Leben organisieren ließ. Das betraf vor allem die Bestimmungen wie Änderungen an der Verfassung vorgenommen werden können. Schließlich einigte sich die Concertación mit dem Regime auf sechs Modifikationen. Für Linke ist dabei die Streichung des Inhalts von Artikel 8 von besonderer Bedeutung. Wurde damit doch das Verbot aller Gruppen, deren Ideologie im Klassenkampf gründet, aufgehoben. Der linke Soziologe Tomás Moulian stellt fest, dass aus den Verfassungsänderungen auch die Concertación Vorteile zog. „Aber auf der Basis eines Preises: (Die Concertación) verlor Kraft um die radikale Negation in Angriff zu nehmen, (sie ist) verurteilt zu einer ineffizienten Regierung, von einer konstitutionellen Ordnung die Erzeuger von Unregierbarkeit ist. Damit verurteilten sie sich dazu, nicht mehr zu sein als Geschäftsführer einer sozialen Ordnung geerbt von Pinochet.“ Im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen des Jahres 1989 sorgten die Christdemokraten dafür, dass sich die Kommunisten nicht an der Concertación beteiligen konnten. Daraufhin bildete die KP mit einigen kleineren Parteien ein zweites oppositionelles Parteienbündnis. Es hatte aber aufgrund des Binominalen Wahlsystems keine Chance auf Mandate. Im Vorfeld dieses Urnenganges hatten sich auch die letzten Sozialisten auf sozialdemokratische Positionen begeben und wurden Teil der Concertacion. Bei der Präsidentschaftswahl verzichtete die verbliebene Linke auf einen eigenen Kandidaten. Hier setzte sich der Christdemokrat Patricio Aylwin gegen den Vertreter des Regimes durch. Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Aylwin im März 1990 endete die Diktatur nach fast 17 Jahren. In dieser Zeit haben laut dem Informe Rettig (Ausgabe von 1999), dem Bericht der chilenischen Wahrheitskommission, 3196 Menschen aus politischen Gründen ihr Leben verloren oder zählen zu den Verschwundenen. Davon kann man in 2905 Fällen der Diktatur die Verantwortung nachweisen. Nur 152 Tote werden auf das Konto der Opposition gebucht. Von den Opfern dieser Zeit waren 1275 Mitglieder einer Partei. Den größten Blutzoll hatten naturgemäß die bedeutenden linken Parteien aufzubringen. Die Sozialisten hatten 401 Tote und Verschwundene zu beklagen, der MIR 393 und die Kommunisten 390. Diese Zahlen lassen erahnen was das für einen intellektuellen Verlust für die jeweilige Organisation bedeutet. Gerade bei den Kommunisten wurden gezielt Leitungsmitglieder umgebracht. Mit dem Übergang zu einer beschränkten Demokratie änderte sich nichts an den sozialen und ökonomischen Verhältnissen im Land. Doch für die aktiven Linken, die sich nicht im Laufe der Zeit von ihren Zielen entfernt hatten, war es trotzdem ein wichtiges Ereignis. Mit dem Ende der Diktatur endete auch die direkte Bedrohung ihrer Leben durch Todesschwadrone.

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