Montag, 29. April 2013
Entfremdung und Verdinglichung
Der Begriff der Entfremdung erfordert die Untersuchung der ihm zugrunde liegenden Prozesse der Verdinglichung
Unter Entfremdung kann recht vorläufig ein Zustand verstanden werden, in dem die »natürlichen« und »organischen« Beziehungen des Menschen zu sich, zur äußeren Natur und zu seinen Mitmenschen eigentümlich verrückt sind. Allgemein ist Entfremdung so als eine defizitäre Beziehung zu begreifen. Gleichgültigkeit, Instrumentalisierung, Versachlichung, Künstlichkeit, Isolation, Sinnlosigkeit und Ohnmacht können vor diesem Hintergrund als Ausdruckformen dieses Defizits gelten. So verstanden hat Entfremdung zwar einerseits das Zeug dazu, zu einem Schlüsselbegriff der Krisendiagnosen der Moderne zu werden. Bei Lichte besehen lässt sich hier aber bereits ahnen, dass Entfremdung ein recht schillernder und undeutlicher Begriff ist, dem man, nach einem Urteil Georges Labicas, »nicht trauen sollte«.(1)
Ungeachtet des harschen Verdikts wird aber, bei aller begrifflichen Laxheit, deutlich, dass Entfremdung eine typisch moderne Stimmungslage einfängt. Entfremdung genießt also nach wie vor und trotz seines gegenwärtigen Verschwindens aus dem Vokabular der Gesellschafts- und Kulturkritik einiges an Aktualität. Dies lassen auch zwei jüngere Veröffentlichungen(2) ahnen. Mit anderen Worten kann die Rede von der Entfremdung als ein Symptom angesehen werden, das dazu auffordert, erneut die Arbeit am Begriff aufzunehmen. Wie kommt es also dazu, dass Menschen sich selbst etwa nur noch als gleichgültig und ohnmächtig, ihre Beziehungen zu anderen als instrumentell und sinnlos erfahren? Wie lässt sich verstehen, dass diejenigen, die sich selbst vielleicht als »Subjekte« begreifen, ihrer Subjektivität beraubt sind? Wer sind die »Räuber«? Eine Antwort die das Handeln der Individuen selbst in Betracht zieht und keine Mutmaßungen über eine Verschwörung der Herrschenden anstellt, scheint dringlich. Ferner die Frage, wie sich dieser Zustand begreifen lässt, ohne auf anthropologische Konstanten zurückzugreifen, Entfremdung also gerade nicht als die schicksalhafte Abkehr von einem eigentlichen und einstmals versöhnten Naturwesen zu verstehen. Schließlich berührt Entfremdung die Frage nach Emanzipation und Freiheit; wie ist ihre Aufhebung denkbar? Ausgangspunkt ist demnach, Entfremdung nicht als etwas zu begreifen, was erklärt, sondern vielmehr als etwas, was zu erklären ist.
Unbegriffene Entfremdung
Mit Jean Jacques Rousseau nimmt ein Entfremdungsdiskurs im heute gebräuchlichen, zivilisationskritischen Sinne seinen Anfang. Freilich verfügt Rousseau noch nicht über einen Begriff von Entfremdung, der Sache nach aber ist er bereits mit dem Phänomen befasst. Er interpretiert den Zivilisationsprozess als einen Akt der Bedürfnisverfeinerung der Menschen, der sie in Abhängigkeit von künstlichen Bedürfnissen bringt, ja sie nach und nach von ihrer natürlichen Freiheit entfremdet. Am Ende des Zivilisationsprozesses stehen Hochmut, Eitelkeit und Heuchelei. Pointiert fasst Rousseau seine Überlegungen zusammen: »Der Wilde lebt in sich selbst, der Mensch in der Gesellschaft hingegen lebt immer außer sich und vermag nur in der Meinung der Anderen zu leben.«(3) Damit wird Rousseau zum Begründer der modernen Sozialphilosophie. Er fragt nach den strukturellen Beschränktheiten der modernen Zivilisation und orientiert sich dabei an einem idealen Dasein des Menschen, angelegt in der Ausstattung der Gattung. Zugleich markiert Rousseau damit aber auch die Grenzen einer klassischen Entfremdungstheorie; zu Recht sind auf anthropologischen Erwägungen ruhende Entfremdungstheorien diskreditiert.
Aber auch ein Verständnis von Entfremdung, das sich dieses substanzialistischen Problems bewusst ist, liefert keine Garantie für eine überzeugende Erfassung des betreffenden Phänomens. Dies gilt zum Beispiel für Rahel Jaeggis Aktualisierungsversuch.(4) Entfremdet sind, so die Autorin, Lebensformen, »mit [denen] der Einzelne sich nicht identifizieren, in [denen] er sich nicht »verwirklichen«, die er sich nicht ›zu Eigen‹ machen kann.«(5) »Selbstentfremdung«, so die These, ist als Zustand zu kennzeichnen, in dem man sich »in entscheidender Weise das Leben, das man führt, nicht aneignen kann, und in dem man in dem, was man tut, nicht über sich selbst verfügt.«(6) Jaeggi verdeutlich den Zustand der Entfremdung anhand eines Wissenschaftlers, der bis dato ein recht wechselhaftes und ausschweifendes Leben geführt hat.(7) Nunmehr findet er sich plötzlich in den geordneten Bahnen der Ein-Kind-Kleinfamilie wieder. Nach der familiären »Umstellung«, mit eignem Haus und Gartenarbeit, erscheint ihm sein Leben eigentümlich fremd.
Jaeggis Sichtweise zieht nicht in Erwägung, dass es unterhalb der Oberfläche der ausschweifenden wie familiären Subjektivität etwas geben könnte, das jeder Form von Selbstverwirklichung diametral entgegensteht. Sie betrachtet Entfremdung einzig aus der »Perspektive des Subjekts«(8) und unterstellt dabei, dass sich über dies Subjekt überhaupt positive Aussagen treffen lassen. Mit diesem Subjekt verhält es sich aber ähnlich, wie mit den von Adorno stets kritisierten Konzepten des Selbst. In ihnen entdeckt er nichts weiter als eine positive Anthropologie, die mit kritischer Theorie unvereinbar ist, weil schließlich unter der Last der Vorgeschichte die Menschen »überhaupt noch nicht sie selbst«(9) sind. In Jaeggis Perspektive bleibt unberücksichtigt, dass Vergesellschaftung und Entfremdung in einem engen Zusammenhang stehen, dass in dieser Gesellschaft ein nicht-entfremdetes Leben gar nicht vorstellbar ist.
Wider Erwarten lässt gerade Rousseau diesen Zusammenhang erahnen. So nennt er einerseits den »Menschen« des Naturzustandes nur zu konsequent »den Wilden.« Andererseits denkt er den Prozess der Zivilisation als in Gang gebracht durch soziale Interaktionen und Kommunikationen. Der Naturzustand endet bereits mit Formen familiärer und sippenhafter Interaktion.(10)
Mit Rousseau lässt sich also festhalten, dass ein vorgesellschaftlicher Mensch gar nicht existiert und dass jegliche Formen des geselligen Austauschs bereits entfremdet sind. Irgendetwas passiert also, sobald die Menschheit als Menschheit den Naturzustand verlässt; irgendetwas, das gemeinhin mit dem Begriff der Entfremdung belegt wird. Das aber fordert dazu auf, sich diese Formen selbst anzuschauen.
Der Naturzustand des »Menschen«, den Rousseau idealisiert, ist nicht als Reich der Freiheit zu verstehen. Denn da, wo eine Unterscheidung zwischen Mensch und Natur schlechterdings nicht möglich ist, wo alles als »Schrecken des blinden Naturzusammenhangs«(11) anzusehen ist, da kann nicht die Rede sein von einer glücklichen Urgeschichte der Menschheit. Nur ungefähr kann gesagt werden, dass die »Wilden« sich irgendwann aufmachten, die Übermacht der Natur zu überwinden. Es ist aber nicht der Aufbruch als solcher, der den »Sündenfall« markiert. Der emanzipatorische Wert des Ausgangs aus der Natur kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Weit schwerwiegender ist, dass die Menschheit aus schierer Angst um ihre Selbsterhaltung und in blanker Selbstüberschätzung versuchte die Natur zu beherrschen.
Damit lässt sich die Frage nach den Formen des Austausches genauer fassen. Nicht Interaktion und Kommunikation als solche sind problematisch, sondern Interaktion und Kommunikation so sie im Schatten der Angst vor dem Rückfall in Natur stehen. Es geht also darum, die Formen des menschlichen Umgangs mit den Gegenständen der Natur aus dem Anteil der »Lebensnot«(12) an der Geschichte zu begreifen. Dies ist fundamental für das Verständnis aller »historischen Fatalität.«(13)
Hegels Vorarbeit und die Marxsche Verwirklichung
Der Mensch musste, um sein Überleben zu sichern, Umgangsformen mit der übermächtigen Umwelt ausbilden, die geeignet waren, Natur zu bezwingen, heißt die von ihr ausgehenden Gefahren abzuwehren. Zu diesem Zweck entwarf er ideelle und materielle Werkzeuge, die schließlich das zuvor Unüberschaubare theoretisch-begrifflich wie auch praktisch bewältigbar machten. Diese Werkzeuge sind aber ambivalent zu bewerten. Einerseits erscheinen sie als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Emanzipation, andererseits verhalten sie sich der Objektwelt gegenüber wie »Liquidatoren.«(14)
Für das Verständnis insbesondere des »ideelle[n] Werkzeugs«(15), des urteilenden Begriffs, leistet Georg Wilhelm Friedrich Hegel erhebliche Vorarbeit.(16) Die normale, urteilende Sprache wird für ihn zum Problem, weil sie mit der ihr eigenen Identifikation die Dinge aufspießt und Bedeutung dauerhaft fixiert. Dadurch schneidet die alltägliche Sprache die qualitativen Eigentümlichkeiten des Dings ab. Das konkrete Sinnesdatum bekommt in der Erkenntnis die abstrakte Form des Begriffs. Dieser Vorgang hat wirklichkeitskonstituierenden Charakter. In der Kritik der Ideologie der Identität, die absieht von der Kontext- und Zeitgebundenheit der begrifflichen Unterscheidungshandlung, liegt der verdinglichungskritische Impuls der Philosophie Hegels. Zugleich betont Hegel damit im Kern die Veränderbarkeit und die Unabgeschlossenheit von Sinn und Bedeutung. Diese Überlegungen nimmt Marx zum Aufhänger einer kritischen Wendung.
Marx Auseinandersetzung mit dem wirklichen Leben der Menschen führt zu einer materialistischen Transformation der idealistischen Kritik des Identitätsprinzips. Damit stellt die Herausarbeitung des historischen Materialismus sowie der Kritik der politischen Ökonomie eine Differenzierung und Konkretisierung der Analyse der Entfremdungsproblematik dar.(17) Marx stellt das, was zuvor ideell als Welterschließung gefasst wurde, auf seine reale Grundlage, das heißt auf die der (Re-)Produktion des Menschen dienenden Lebensvollzüge. Wiederholt hat er dabei auf den wirklichkeitskonstituierenden Charakter welterschließender Tätigkeit aufmerksam gemacht. So heißt es etwa in der Deutschen Ideologie, dass die sinnliche Welt nicht ein von Ewigkeit her gegebenes Ding (an sich) ist, sondern »das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen.«(18) Alles, was in der Welt des Menschen ist, hat seinen Grund im tätigen Handeln der Menschen und – darin liegt sein emanzipatorischer Gehalt – ist durch dieses veränderbar.
»Der Mensch erzeugt seine Welt dadurch, daß er sich vergegenständlicht. Der Prozeß der Vergegenständlichung ist der Prozeß, in dem der Mensch seine Ideen und Ziele in materielle Dinge verwandelt, um seine Wünsche zu befriedigen und um die Gesellschaft und ihre Institutionen zu reproduzieren.«(19) Die Vergegenständlichung ist in dieser allgemeinen Fassung freilich noch direkt verbunden mit der Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche desjenigen, der sie vollbringt. Diese einzig nützliche Gegenstände, Gebrauchswerte produzierende Tätigkeit ruht sozusagen noch »in sich selbst«. Bringt diese Tätigkeit aber auf einem differenziert-arbeitsteiligen, will sagen gesellschaftlichen Niveau Waren hervor, so bleibt zwar die Tätigkeit wirklichkeitskonstituierend, das Produkt aber steht in keinem unmittelbaren Bezug mehr zu Bedürfnis und Wunsch. Vielmehr wird es nun durch fremde, dem Einzelnen nicht mehr unmittelbar zugängliche gesellschaftliche Umstände bestimmt. Als Warenproduzent ist der Mensch sozusagen »außer sich«, er lebt »in der Meinung der Anderen«.
Dabei erscheint doch die Ware dem spontanen Alltagsbewusstsein zunächst und zumeist als ein recht triviales Ding. Auch dass Waren einen bestimmten Wert haben ist ganz und gar nicht mysteriös. Gleichwohl besitzt die Ware etwas, was Marx dazu bringt in diesem Rahmen von einer »gespenstige[n] Gegenständlichkeit«(20) zu sprechen. Damit zusammen hängt, was hier eigentlich interessiert: Verdinglichung, Verselbständigung, ja Entfremdung. Denn dadurch, dass Gegenstände als Waren getauscht werden, erscheint eine gesellschaftliche Beziehung als ein Verhältnis von selbständigen Dingen. Am Ende dieses Prozesses der Verdinglichung und Verselbständigung steht dann ein als eigentümlich fremd und unheimlich erfahrenes Leben.
Was meint nun Verdinglichung bei Marx? Seine Analyse legt offen, dass die Wertgegenständlichkeit der Ware gar nicht an ihr selbst zu fassen ist – wie es noch dem Alltagsbewusstsein scheint –, sondern einzig an einer anderen Ware, die in diesem Augenblick als Verkörperung bzw. Ausdruck von Wert gilt. »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht […] darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere ihrer Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge zurückspiegelt.«(21) Marx' Analyse zeigt, dass der Wert keine Natureigenschaft der Dinge ist. Gleichwohl erscheint es als besäßen sie von Natur aus diesen oder jenen Wert. Dies nennt Marx »den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.«(22)
Der Fetischismus ist aber nicht zu verwechseln mit einem kognitiven Fehler, er ist nicht bloß falsches Bewusstsein. Vielmehr ist der Fetischismus Ausdruck eines tatsächlichen Sachverhalts, denn die gesellschaftlichen Beziehungen sind warenvermittelt. Falsch ist vor diesem Hintergrund allein der Glaube, dass diese Eigenschaft den Dingen automatisch zukommt; falsch ist, dass die Wertgegenständlichkeit als »selbstverständliche Naturnotwendigkeit«(23), in Anlehnung an Hegel, ontologisiert wird, von ihrer Zeit- und Kontextgebundenheit abgesehen wird.
Gilt diese Verdinglichung und Verselbständigung bereits bezüglich der so genannten einfachen, zufälligen Wertform, so gilt dies in gesteigertem Maße für die Geldform. Das Geld kann als allgemeines Äquivalent einzig fungieren, weil alle anderen Waren von der Rolle des Wertausdrucks, der Wertverkörperung ausgeschlossen sind; mit anderen Worten, weil die Individuen sich auf das Geld als Geld beziehen. Dessen ungeachtet ist Geld aber nur Wert, weil es ihn in einer anderen Ware ausdrückt. »Die vermittelnde Bewegung verschwindet hinter ihrem eigenen Resultat und lässt keine Spur zurück.«(24) So erscheint im Geld eine gesellschaftliche Beziehung als gegenständliche Eigenschaft des Dings.
Damit ist der Rahmen, in dem die alltäglichen Handlungen der Individuen sich vollziehen, grob skizziert.(25) Es ist nicht das Bewusstsein über das Aufeinanderverwiesensein von Wert und Arbeit, das den Zusammenhang stiftet, sondern die unwillkürliche Art und Weise des Bezugs auf die Dinge. »Indem sie [die Menschen; D.L.] ihre verschiedenartigen Produkte als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten als menschliche Arbeit gleich. Sie tun es aber sie wissen es nicht«.(26) In genau dieser Reihenfolge. Der Mensch handelt, ohne sich über die selbst gesetzten Bedingungen eben dieses Handels im Klaren zu sein. Gesellschaft vollzieht sich hinterrücks und nachträglich, quasi als Zufallsprodukt des Warentauschs.
Aus diesem spezifischen Modus der Bezugnahme auf die Dinge ergibt sich schließlich eine für warenproduzierende Gesellschaften typische Form der Herrschaft: i.e. sachliche Herrschaft. Dass aber die Unterwerfung unter »Sachzwänge« aus dem Handeln der Menschen herrührt und eben nicht aus einer Konspiration der Herrschenden, bleibt weitgehend unsichtbar, da das spontane Alltagsbewusstsein den Zwängen von Ware und Geld unterlegen ist. Der Rationalität des Handelns sind so enge Grenzen gesetzt. Daher muss auch die Beschäftigung mit den Handlungen der Menschen notwendig scheitern, sofern sie lediglich auf das Bezug nimmt, was die Menschen wissen. Bleibt der von Marx erschlossene Rahmen unberücksichtigt, bleibt auch Entfremdung unverstanden. Ausgeblendet wird, was die Einzelnen nicht wissen, nämlich der durch Denken und Handeln selbsterzeugte und vorausgesetzte Rahmen. Alle Warentauschenden, keiner ausgenommen, bleiben in ihrem spontanen Bewusstsein befangen vom Warenfetisch.
Marx zeigt, wie etwas rein Gesellschaftliches verdinglicht wird. Durch das Handeln der Menschen entwickeln sich gesellschaftlich-unbewusste Strukturen. Diese von keinem intendierten Vorgaben erscheinen als verselbständigt und bestimmen fortan Wohl und Wehe der Menschen, ohne dass sie unmittelbar verändernd eingreifen können. »Um für den Philosophen verständlich zu bleiben«(27), ließe sich angesichts der Verdinglichung und Verselbständigung des Werts durchaus auch von »allgemeiner Entfremdung« sprechen.(28)
Georg Lukács Theorie der Verdinglichung
Am Leitfaden des Marxschen Fetischtheorems entwirft Georg Lukács 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein in der Krise des Marxismus eine umfassende Beschreibung und Kritik des »modernen Kapitalismus.« Im Zentrum steht dabei der Aufsatz Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. Hierin wird »Verdinglichung« als Grundbegriff einer kritischen Analyse in zweifacher Hinsicht – als gesellschaftskritischer und rationalitätskritischer Begriff – eingeführt. Lukács' zentraler Gedanke ist, dass mit dem modernen Kapitalismus die Warenform »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdring[t] und nach ihrem Ebenbilde umform[t].«(29) Sie strukturiert nicht allein die Beziehungen an sich unabhängiger, auf die Produktion von Waren gerichteter Prozesse, sondern auch die Beziehungen der Menschen zu sich selbst, zu einander und zur menschlichen Gesellschaft insgesamt. Sie prägt also die gesamte Wirklichkeit der Individuen.
Die Marktsubjekte sind genötigt, durch die Expansion des Warentauschs, sich zu ihrer Umwelt in ein verdinglichtes Verhältnis zu setzen. Das hat zur Konsequenz, dass die Gegenstände des Handelns einzig als potenziell verwertbare Objekte wahrgenommen werden; der Andere erscheint lediglich unter dem Gesichtspunkt einer erhofften ertragreichen Transaktion. Zuletzt erscheint auch das je eigene Vermögen als Ressource innerhalb der Transaktion. Der moderne Kapitalismus schlägt alles mit Ähnlichkeit – alles erscheint unter der Perspektive der Instrumentalisierung.
Lukács' zentrale These lautet schließlich, dass Verdinglichung im modernen Kapitalismus zur zweiten Natur geworden ist. Im modernen Kapitalismus muss es zu einer Art Gewohnheit werden, sich in dinghafter Gestalt wahrzunehmen. Gefühle, Kompetenzen, Gegenstände und andere Personen werden in dinghaft-objektiver Gestalt gesehen. Für alle gesellschaftlichen Sphären bedeutet dies, dass ausnahmslos jeder Mensch zu einem kontemplativen, teilnahmslosen und einflusslosen Zuschauer dessen wird, was passiert. Kontemplation und Teilnahmslosigkeit werden zu Schlüsselbegriffen für das, was sich im Lichte der ubiquitären Warenförmigkeit auf der Ebene des sozialen Handelns vollzieht. Dabei meint Kontemplation gerade nicht die konzentrierte Versenkung in eine interessierende Sache, sondern das genaue Gegenteil – die duldsame und passive Beobachtung. Teilnahmslosigkeit bedeutet für Lukács, dass der Akteur in keiner Weise vom Geschehen emotional affiziert ist. Alles zieht ohne jede innere Teilnahme an ihm vorüber. All das, was weiter oben über den philosophischen Begriff der Entfremdung gesagt wurde, wird von Lukács als durch die Expansion des Warentauschs verursacht angesehen und schließlich durch diese erklärt.
Zugleich legt Lukács im Verdinglichungsaufsatz eine kritische Untersuchung der Wissenschaft und Philosophie im modernen Kapitalismus vor. Beide fallen vor allem durch den Formalismus der Begriffsbildungen und einer von Wissenschaft und Philosophie unterstellten Unabänderlichkeit der Begrifflichkeiten auf. Lukács macht dagegen eine kontextualistische und zeitgebundene Auffassung von sprachlichen Unterscheidungen stark und eröffnet damit auch die Möglichkeit diese auf ihre gesellschaftliche Formbestimmtheit hin zu befragen. Einmal mehr setzt sich Hegels Theorie der Bedeutung durch.
Ungeachtet teilweise erheblicher Probleme, die sich mit Geschichte und Klassenbewusstsein verbinden,(30) bleibt Lukács' Verzahnung von Ökonomie-, Rationalitäts- und Begriffskritik paradigmatisch innerhalb einer Tradition der kritischen Theorie. Lukács eröffnet schließlich die Möglichkeit auf der Grundlage des Verdinglichungsbegriffs eine umfassende und materialistische Theorie von Entfremdung zu entwerfen.
Schluss
Hegels Philosophie gewährte einen ersten Blick auf das Prinzip, das der Verdinglichung zugrunde liegt, i.e. Identitäts-/Äquivalenzprinzip. Marx und nach ihm Lukács wendeten die idealistischen Überlegungen Hegels ins Materialistische und formulierten so eine gesellschaftskritische Theorie der Verdinglichung. Der Begriff der Verdinglichung bringt die Pointe der Marxschen Wertformanalyse treffend auf den Punkt. Warentauschende Gesellschaften sind demnach Gesellschaften, in denen abstraktifizierende Prinzipien – etwa das Äquivalenzprinzip – dominant sind. Durch diese Prinzipien werden die gesellschaftlichen Subjekte zu Objekten der wirtschaftlichen und schließlich, das konnte Lukács verdeutlichen, der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt. Denn je weiter die Warenproduktion in bis dato nicht betroffene Bereiche einsickert, desto umfassender wird das System der verdinglichten Lebensformen. Gerade aber die auf Unwissenheit ruhende Verwendung der Rationalität der Warenproduktion, erinnert sei hier an Marx' abkürzende Formulierung »sie tun es, aber sie wissen es nicht«, verbietet es schließlich, sich verstehend auf das Wissen der Subjekte einzulassen. Damit soll in keiner Weise in Abrede gestellt werden, dass sich Entfremdung im Bewusstsein der Individuen niederschlägt. Dieser Niederschlag, zum Beispiel das Gefühl des erwähnten Wissenschaftlers und Familienvaters, kann aber nur als Aufforderung begriffen werden, die Verhältnisse in denen er handelt, dies »strukturelle Ganze«(31) näher zu analysieren. Insgesamt konnte bis hierher gezeigt werden, wie dem Handeln ein gesellschaftlich-unbewusstes Prinzip zugrunde liegt, das, obschon angewandt, nicht erkannt wird. Und wie schließlich so die vermeintlichen Subjekte sich ihrer Subjektivität berauben.
Die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nimmt nun einerseits den sprachkritischen Strang Hegels wieder auf, verknüpft diesen mit den wertkritischen Überlegungen Marx' und Lukács' und betrachtet diese im Rahmen des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Das ermöglicht ihnen schließlich eine verdinglichungskritische Betrachtung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, von geistiger und körperlicher Welterschließung insgesamt. Der Ausgang des Menschen aus Natur, dem der Verdinglichungsprozess immanent ist, entfernt die Menschen von dem, was sie zu beherrschen suchen, entfernt sie damit auch von sich selbst.
Damit aber legen Adorno und Horkheimer gerade kein Programm vor, das es ihnen erlaubt ihre Hände zynisch-realistisch in den Schoß zu legen. Vielmehr sehen sie den eigentümlichen Konnex von Vergesellschaftung und Verdinglichung durch eine notwendig falsche Form von Praxis begründet. Alle Verdinglichung hat nur solange statt, wie Praxis aus der Not heraus einzig und allein auf brüske Naturbeherrschung zielt. Damit schließen sie unmittelbar an Marx an. »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. […] Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden«.(32)
Für Adorno und Horkheimer gilt, was für eine kritische Theorie von Verdinglichung insgesamt gilt, sie interpretieren die historische Fatalität getreu der vierten Feuerbachthese von Marx aus der »Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen«(33) des gesellschaftlichen Umgangs mit den Gegenständen der Natur. Im Begreifen dieser Praxis liegt bereits ihre Veränderung – Emanzipation – verborgen. Anmerkungen
(1) Georges Labica, »Entfremdung«, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Berlin 1984, 300.
(2) Gemeint sind hier zum einen die Studie von Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretischen Studie, Frankfurt am Main 2005 und zum anderen die Veröffentlichung von Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main 2006.
(3) Jean-Jacques Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen«, in: ders., Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, 123.
(4) Jaeggi, Entfremdung.
(5) Ebd., 15.
(6) Ebd., 68; Hervorhebung im Original.
(7) Ebd., 72.
(8) Ebd., 183.
(9) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1997, 274.
(10) In dankbarer Offenheit macht er keinen Unterschied zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft.
(11) Theodor W. Adorno, »Zu Subjekt und Objekt«, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1970, 152.
(12) Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Leipzig, Wien, Zürich 1926, 322.
(13) Theodor W. Adorno, »Veblens Angriff auf die Kultur«. in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, 61.
(14) Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1995, 19.
(15) Ebd., 46
(16) In aller Kürze sei hier auf einige wenige Aspekte der Philosophie Hegels eingegangen. Ausführlicher hierzu vgl. Christoph Demmerling, Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1994.
(17) Über die Quellen und die Entwicklung der Marxschen Beschäftigung mit dem Entfremdungsphänomen informiert unter anderem Christian Schmidt, »Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft«, in: Marx-Engels-Jahrbuch, 2005.
(18) MEW 3, 43; Hervorhebung im Original.
(19) Joachim Israel, Der Begriff der Entfremdung. Zur Verdinglichung des Menschen in der bürokratischen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg, 1985, 90; Hervorh. D.L.
(20) MEW 23, 52.
(21) MEW 23, 86; Hervorh. D.L.
(22) Ebd. 87.
(23) Ebd. 23, 95/96.
(24) Ebd., 107.
(25) Ausführlicher hierzu etwa Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004.
(26) MEW 23, 88.
(27) MEW 3, 34.
(28) Freilich ist bis hierher vom »modernen Kapitalismus« nur indirekt das Wort gewesen. Zu den spezifischen Formen von Entfremdung im nationalökonomischen Zustand vgl. Alfred Oppolzer, »Entfremdung«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, Berlin 1997.
(29) Georg Lukács, »Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats«, in: ders., Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über Marxistische Dialektik, Amsterdam 1968, 96.
(30) Vgl. die mit Vorbehalt zu lesende Kritik von Rahel Jaeggi, »Verdinglichung – ein aktueller Begriff?«, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 1998/99, 68ff.
(31) Eberhard Braun, Verkehrung statt Verdinglichung – Marxens Wertformanalyse mit Blick auf Geschichte und Klassenbewußtsein kritisch betrachtet, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, 2000, 57.
(32) MEW 25, 828.
(33) MEW 3, 6
== DIRK LEHMANN==
Der Autor ist Soziologe und lebt in Bielefeld.
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