Mit den Wahlen im Oktober 2019, den anschließenden Protesten, dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales und dem Antritt von Jeanine Añez, die mit einer überdimensionierten Bibel in den Präsidentschaftspalast einzieht, stürzte Bolivien in eine tiefe politische Krise. (Einen Überblick der Ereignisse gibt der Zeitstrahl). Die Krise dauert bis heute an und wird inzwischen noch verstärkt durch die Corona-Pandemie, die das Land besonders hart trifft: Trotz der Boom-Phase unter den fast 14 Jahren Regierung Evo Morales, blieb das Land eines der ärmsten Südamerikas und das Gesundheitssystem schwach – Korruption und Missmanagement unter der neuen Regierung taten ihr Übriges.
Als wir im Februar nach Bolivien reisen, um mit Partner*innen und Freund*innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu sprechen, befindet sich das Land in einem Schwebezustand. Das Parlament – dort hat die MAS, die Partei von Evo Morales, nach wie vor eine komfortable Mehrheit – und die Übergangspräsidentin haben sich auf einen Fahrplan für Neuwahlen geeinigt. Gerade sind die Wahllisten eingereicht worden. Aber das Land bleibt tief gespalten. Nicht nur zwischen denen, die von einem Putsch sprechen, und denen, die eine Rückkehr zur Demokratie feiern. (Die Frage, ob es einen Wahlbetrug und/oder einen Putsch gab, behandelt in diesem Dossier der Artikel von Jonas Wolff.)
Auch unter unseren Partner*innen gehen die Einschätzungen und Gefühle auseinander. Wir treffen Genoss*innen von Evo Morales, gerade zurück von einem Besuch bei der Parteiführung im argentinischen Exil, die Angst vor Verfolgung haben. Wir treffen linke Intellektuelle, die die MAS längst für eine rechte Partei halten. Feministinnen, für die keine halbwegs wählbare Option in Sicht ist. Indigene Aktivist*innen, denen Rassismus entgegenschlägt, die sich aber auch von der MAS verraten fühlen. So unterschiedlich die Einschätzungen ausfallen, einig sind sich alle unsere Gesprächspartner*innen, dass die Situation nicht zu verstehen ist, ohne das verlorene Referendum von 2016. Es sollte eine Wiederwahl von Morales ermöglichen. Über die Abstimmungsniederlage setzte sich die MAS aber hinweg: Nach den Wahlsiegen 2005, 2009 und 2014 kandidiert Evo Morales 2019, legitimiert durch ein neu besetztes Verfassungsgericht, erneut. Für die Einen ein politischer Fehler, für die Anderen Höhepunkt einer zunehmend autoritären Regierungsführung.
Von den vielen Stunden Interviews aus dem Februar haben wir hier zwei Interviews ausgesucht, die einen Eindruck der damaligen Situation geben und die Hintergründe der Krise in Bolivien erläutern. Die Schilderungen der Journalistin und feministischen Aktivistin Marxa Chávez und von Mario Rodríguez von Red de la Diversidad (Netz der Vielfalt), das in verschiedenen Städten Boliviens, mit Radioprogrammen und kulturellen Veranstaltungen indigene und alternative Perspektiven stärkt, sind nicht nur von historischem Wert. Denn in vielen Punkten gleicht die Situation heute der damaligen. Noch immer spaltet die Haltung zu den Ereignissen vom Herbst 2019 die Gesellschaft mehr denn je. Noch immer warten die meisten mit banger Erwartung auf die Wahlen. Vor allem indigene Bewegungen und Gewerkschaften aus dem Hochland, die stärkste Basis der MAS, mobilisierten bis Mitte August gegen die Regierung Añez und die Verschiebung der Wahlen. Der oberste Wahlrat hatte die Wahlen mit Hinweis auf die Pandemie mehrmals verschoben. Die Protestierenden warfen der Regierung vor, sich nur weiter im Amt halten zu wollen.
Wie schon im November schienen die Proteste und Straßenblockaden weniger die Rückkehr von Evo Morales zu fordern, als vielmehr von der Wut auf eine Regierung gespeist, die als kolonialistisch und rassistisch empfunden wird. Eine Regierung, die als Übergangsregierung angetreten ist, aber sofort ihre Ideologie in Politik umgesetzt hat: So wurden die kubanischen Ärzt*innen ausgewiesen und die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela abgebrochen.
Bei den Protesten Anfang August hielten sich Armee und Polizei, anders als im November, zurück. Aber es formierten sich rechte Bürgerkomitees, die die Straßenblockaden der indigenen Organisationen auf eigene Faust räumen wollen. Erst eine Einigung mit dem Parlament, das den 18. Oktober als unaufschiebbaren Termin für Neuwahlen festlegte, beruhigte die Situation. Aus dem argentinischen Exil rief Evo Morales die Protestierenden dazu auf, den neuen Termin zu akzeptieren.
Nach der erneuten Zuspitzung der politischen Konfrontation mitten in der Pandemie scheinen viele Bolivianer*innen des Konflikts müde. Die MAS hat in den letzten Umfragen an Zustimmung verloren und die Interimspräsidentin hat abgewirtschaftet. Im Moment profitiert davon Carlos Mesa, der sich als Kandidat der Mitte präsentiert. Sein Problem, sollte er an die Regierung kommen, wird seine mangelnde Machtbasis sein: Die alte Elite – vor allem das Agrobusiness aus dem Tiefland – hat ihre Leute auf den Wahllisten von Añez und Camacho platziert. Und die einzige Partei, die eine breite Verankerung – vor allem im von Aymara und Quechua geprägten Hochland – hat, ist die MAS. Außerdem müsste er ein Land regieren, das in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, die ganz Lateinamerika trifft und von der Corona-Pandemie noch verstärkt wird. Schon jetzt wird geunkt, dass Mesa seine Amtszeit nicht zu Ende bringen würde.
Für Bolivien sind also stabile politische Verhältnisse oder gar die realistische Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel, der die MAS vor 15 Jahren an die Regierung gebracht hat, nicht in Sicht. Ein kleiner Trost mag sein, dass der Rechtsaußen Fernando Camacho, der sich mit seinem Auftritt mit Bibel und Nationalfahne – natürlich ohne Wiphala – als Anführer der Proteste gegen den Wahlbetrug letztes Jahr und in rechtspopulistischer Manier als Antipolitiker inszenierte, in den Umfragen abgestürzt ist.
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