Im Februar 2018 geht für Omar Znkawan ein Traum in Erfüllung.
Gebannt sitzt der junge Mann auf einem der hölzernen Stühle der Berliner
Philharmonie und lauscht den Klängen, die sich von der tiefen Bühne in
den hohen Saal aufspannen. Als Student in Syrien hat Omar auf einem
kleinen Fernseher Konzerte in der fernen Philharmonie angeschaut und
davon geträumt, selbst einmal als Musiker in Europa zu spielen. »In der
großen und berühmten Stadt Berlin«, sagt er heute pathetisch. Doch sein
Weg hierher hat wenig mit der Erfüllung eines Traums zu tun.
Omar hat die Musik schon als Kind geliebt. Mit 14 läuft er mit einer
Jugendgruppe durch die Straßen seiner Heimatstadt Homs und bläst
begeistert in seine Trompete. Er hört alles, mag klassische und
orientalische Musik und am liebsten Jazz. »Wenn ich das gehört habe,
fühlte ich etwas ganz anderes, etwas Neues«, sagt Omar. Mit 16 beginnt
er, Klarinette und Saxophon zu lernen. »Ich denke, ich wollte einfach
ein bisschen besonders sein«, sagt er heute und lacht.
Auch sonst ist vieles besonders an Omar. Er ist der erste Musiker in
der Familie, bekommt einen Platz im ersten Jahrgang der neuen Fakultät
für Musikpädagogik in Homs. Dort gibt es nicht mal einen Lehrer für
Klarinette. Also reist Omar fast täglich 160 Kilometer nach Damaskus ins
Konservatorium, um bei einem russischen Dozenten Klarinette zu
studieren. »Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt«, erklärt
Omar, »und manchmal auch nur über die Musik«. Nach seinem Abschluss wird
er der erste Lehrer für Klarinette an der Universität in Homs. Nebenbei
tourt er mit einer internationalen Big Band durch Syrien. »Ich war nie
in anderen Ländern, aber ich habe über diese Musiker die Welt
kennengelernt«, sagt er. Und noch etwas lernt er dabei: Dass ziemlich
viele Syrer Jazz mögen. Die Konzerte sind gut besucht. Es ist die
glücklichste Zeit in Omars Leben.
Dann passiert das, was Omar »die Katastrophe« nennt. In seiner
Heimatstadt brechen schwere Gefechte aus, Panzer feuern auf
Demonstranten, fast jeden Tag gibt es Tote. Homs ist tagelang ohne
Strom, von der Außenwelt abgeriegelt. Im Winter 2012 fallen die ersten
Bomben. Die Wohnung der Familie Znkawan brennt aus. Plünderer nehmen
mit, was die Flammen übriglassen. Omar, seine drei Geschwister und die
Mutter fliehen westwärts und kommen in der kleinen Stadt Mashta al Helou
unter. Ein Jahr lang verlassen sie kaum das Haus.
Ratatata! So erinnert sich Omar an den Klang des Krieges. Seine Musik
soll ihn übertönen. Deshalb pendelt er schon bald wieder etliche
Kilometer, durch Dutzende Kontrollpunkte, um im zerstörten Homs zu
lehren. Sein Orchester soll lauter spielen, seine Chorschüler lauter
singen als die Schüsse. Die Musik sichert sein Überleben: Er verdient
ein wenig Geld und wird nicht in die Armee eingezogen, solange er als
Dozent arbeitet. So geht es ein paar Jahre. Der Krieg zieht in andere
Teile des Landes, aber die Fronten zwischen den Menschen bleiben. Omars
Chor tritt trotzdem auf. Und im Publikum sitzen sie alle, die Gegner und
Befürworter Assads und solche, die noch ganz andere Vorstellungen haben
- und lauschen verblüfft. Omar mischt klassische westliche mit
traditionell arabischer Musik, er arrangiert Stücke, die das scheinbar
Unvereinbare zusammenführen. »Viele versuchten, unser Land mit Waffen zu
verändern. Ich habe es lieber mit der Musik versucht«, erklärt er.
Doch der Krieg verstummt nicht. Als Omar im Sommer 2017 seinen Pass
verlängern will, erklärt der Beamte plötzlich, dass er sofort in die
Armee eingezogen werden soll. Zwei Tage hat er Zeit, um sich von der
Universität Homs abzumelden. Aber Omar fährt nicht nach Homs. Er
versteckt sich in der Wohnung der Familie in Mashta al Helou. Zwei lange
Monate lang. »Ich kann nicht auf andere Leute zielen«, denkt er.
Irgendwann greift er zum Handy und ruft seinen Schwager an, der in die
Türkei geflüchtet ist. Der nennt ihm die Namen der Männer in der Stadt,
die ihn nach Norden bringen. In zehn Nächten schafft er es an die
türkische Grenze, ohne aufzufliegen.
Als Omar über die Grenze rennt, raus aus dem Land, dass ihn die Musik
gelehrt hat, ist der Klang des Krieges lauter als jemals zuvor. Um ihn
prasseln die Schüsse. Und nichts ist mehr da, um sie zu übertönen. Seine
Instrumente hat er verkauft, um die Flucht zu bezahlen.
Es beginnt die stillste Zeit in Omars Leben. Er kommt bei seiner
Schwester unter, in einer kleinen Stadt an der türkischen Küste, in der
sich niemand für seine Musik interessiert. Dort sitzt Omar alleine vor
der Webcam und dirigiert seinen Chor in Syrien. Er kauft die billigste
Klarinette, die er finden kann und übt leise. »Aber die meiste Zeit habe
ich nur Musik in meinem Kopf gemacht«, sagt er. Dem Bruder, der über
das Telefon erzählt, dass er versuche, ihn nach Berlin zu holen, mag er
nicht glauben.
Real wird es erst, als die deutschen Beamten in der Botschaft in
Istanbul das Visum in seinen Pass drücken. Zwei Tage später schließt er
seinen Bruder am Flughafen Tegel in die Arme. »Am 14. Dezember 2017« -
das Datum wird Omar nie wieder vergessen. Es markiert einen Neuanfang.
Neben seinem Bruder stehen Reinhard und Brigitte Nake, die geholfen
haben, ihn legal nach Deutschland zu bringen. In ihrer hellen Wohnung in
Moabit haben sie vor drei Jahren ein Zimmer für Omars jüngeren Bruder
Taher freigeräumt, jetzt steht ein zweites Bett darin. An einer Wand
hängt eine große Syrienkarte, mit Bleistift ist Omars Fluchtweg
markiert. »Wir sind alle Geistesverwandte«, sagt Reinhard, der selbst
nach Westberlin geflüchtet ist.
Zu Omars erstem Geburtstag in Berlin sammelt das Ehepaar Geld. Omar
kauft sich davon ein neues Saxophon. Langsam kehrt die Musik in sein
Leben zurück. Aber Omar spielt jetzt anders. Die Melodien, die seine
Kindheit prägten, die nicht erlernt sind, sondern »im Blut fließen«, wie
er sagt, sind ihm wichtig geworden. Monatelang versucht er, die
Vierteltöne der traditionellen arabischen Musik auf seinen westlichen
Instrumenten zu spielen. Wieder soll die Musik zusammenzubringen, was
oft gegensätzlich erscheint. »Für westliche Ohren klingt die arabische
Musik oft monoton«, erklärt Omar. Doch wenn er sie mit einer Jazzband
spielt, können die Menschen in Deutschland vielleicht Gefallen daran
finden, glaubt er. Mithilfe eines Stipendiums des Berliner Senats
arbeitet er seitdem an seiner Idee. Und dann ist es soweit: Mit Musikern
aus der Türkei, Japan und Syrien spielt er sein erstes Konzert in
Berlin. »Ich war sehr nervös, was die Menschen sagen würden«, gibt er
zu. Aber als das Publikum begeistert klatscht, weiß er, dass seine Idee
aufgegangen ist.
Wenn Omar an die Zukunft denkt, träumt er davon, dass für seine
Familie endlich Ruhe einkehrt. Und dass er in Deutschland viele Menschen
von seiner Musik begeistern kann. Und auch Omars größter Traum hat sich
erfüllt: Im September darf er zurück in die Berliner Philharmonie. Nur:
Dieses Mal wird er mit auf der Bühne stehen.
Wer Omar einmal live sehen möchte: Am 7. September spielt er mit
seiner Band in der Werkstatt der Kulturen in Neukölln und am 20. und 21.
September mit dem Ornina Syrian Orchestra im Kammermusiksaal der
Philharmonie.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1123436.syrien-der-klang-des-krieges.html
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