Sonntag, 29. September 2013
Was wollte der Vizekanzler Schäffer bei seinen Geheimmissionen 1955 und 1956 beim DDR-Vize-Verteidigungsminister Vincenz Müller?
von Kurt Gossweiler
Quelle: Kurt Gossweiler – Politisches Archiv
Zwei Bücher und ein Fernsehfilm haben eine fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende und den meisten, die von ihr damals aus den Zeitungen erfuhren, sicherlich längst aus dem Bewusstsein entschwundene Episode aus dem immerwährenden Kampf der BRD um die Liquidierung der DDR aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt: Die geheime Mission des BRD-Vizekanzlers und Finanzministers Fritz Schäffer, der zweimal, 1955 und 1956, in die Hauptstadt der DDR reiste, um sich dort mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR, Vincenz Müller, und dem Sowjetbotschafter in der DDR, Puschkin, zu treffen.
Die Öffentlichkeit erfuhr erst 1958 davon, dass ein Regierungsmitglied der Bundesregierung heimlich zu Besprechungen in die DDR gereist sei, nämlich, als dies Walter Ulbricht in einer Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland bekannt gab. Offiziell wurde als Grund für diese Reise nur verlautbart, Schäffer habe der Wunsch getrieben, etwas zu tun, um die endgültige Spaltung Deutschlands zu verhindern und Wege zu einer Konföderation beider deutscher Staaten zu erkunden.
Als ich das damals las, war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht das wahre Motiv eines Finanzministers der Adenauer-Regierung gewesen sein konnte: was aus dieser Richtung kam, konnte nur auf die Unterminierung der DDR zielen. Deshalb schaute ich mir etwas genauer an, in welchem politischen Umfeld diese Geheimmissionen unternommen worden waren und kam zu dem Ergebnis, der wirkliche Auftrag und die wirkliche Absicht Schäffers könnte nur gewesen sein, zu erkunden, ob es in der Führung der DDR nicht Kräfte gab, mit deren Hilfe Walter Ulbricht gestürzt werden könnte, und des weiteren auch zu erkunden, wie sich die neue sowjetische Führung zu einem solchen Unternehmen stellen würde.
Dieses Ergebnis meiner Überlegungen vertraute ich damals meinem politischen Tagebuch (1) an, das zu führen ich Ende 1956 begonnen hatte, als ich – aufgrund der blutigen konterrevolutionären Ereignisse in Ungarn und der mir unerklärlichen Haltung der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen, die tagelang untätig zusahen, wie die entfesselten weißen Bestien die Kommunisten jagten und ermordeten, wie eins 1919 in den Tagen der siegreichen Konterrevolution, – heftig daran zu zweifeln begann, dass an der Spitze der KPdSU noch immer nur Leute standen, denen man voll vertrauen konnte.
Eine Bestätigung meiner zur Überzeugung gewordenen Vermutung erhielt ich vor zwei Jahren von einer ganz unerwarteten Seite: In der „jungen Welt” erschien im Januar 2001 aus der Feder des in der DDR zum Historiker ausgebildeten Professors Siegfried Prokop die Besprechung des Buches eines westdeutschen Autors Peter Joachim Lapp: „Ulbrichts Helfer. Wehrmachtsoffiziere im Dienste der DDR”, in dem auch die militärische Laufbahn des Generales Vincenz von Müller dargestellt und dabei auch dessen Geheimtreffen mit Schäffer erwähnt wurde. Prokop beschäftigt sich in seinem Artikel in der Hauptsache mit diesem Vorgang und dessen Darstellung und Bewertung durch Lapp.
Dabei schreibt Prokop: „Ganz nebenbei lässt Prokop den Leser nun wissen, dass in den Gesprächen Müller gegenüber Schäffer weitgehende politische Änderungen in der DDR für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt habe. Auf sowjetisches Betreiben hin werde die Nationale Volksarmee in der DDR die Macht übernehmen, Ulbricht verhaften und die Regierung absetzen, worüber auch schon Franz J. Strauß in seinen Memoiren berichtet hatte. Sowjetische Kreise seien an einem Österreich-Status für die DDR (das ist sicherlich ein Fehler: es müsste hier: Deutschland heißen! K.G.) interessiert gewesen und hätten deshalb Kontakte zu Bonn gewünscht. Am 20. Oktober 1956 kam es zu einem Geheimgespräch Schäffers mit dem Ostberliner Sowjetbotschafter Georgi M. Puschkin, an dem Müller teilnahm.”
Lapp hat also in den DDR-Akten den dokumentarischen Beweis dafür gefunden, dass „auf sowjetisches Betreiben hin” (und das war 1955/56 Chruschtschow, und nicht mehr, wie 1953, Berija!) Walter Ulbricht verhaftet und die DDR-Regierung gestürzt werden sollte, und dass Vincenz Müller zu denen gehörte, die dazu ausersehen und bereit waren, diesen konterrevolutionären Staatsstreich auszuführen. Da dies der DDR-Führung bekannt geworden war, kann deren – von Prokop in seiner Rezension berichteten – Reaktion eigentlich nur durch ihre Zurückhaltung überraschen: V. Müller wurde im Dezember 1957 vom Dienst suspendiert und am 28. Februar 1958 pensioniert. Die Vorwürfe gegen ihn beschränkten sich darauf, er habe ZK-Beschlüsse verletzt, gegen die führende Rolle der SED in der NVA opponiert, seine parteiliche und dienstliche Stellung in der Nationalen Volksarmee missbraucht, er habe eine eigene Politik betrieben und auf Untergebene zersetzerisch gewirkt.
Ich bin meinem ehemaligen Kollegen und Genossen an der Humboldt-Universität, Professor Siegfried Prokop, ja zu Dank dafür verpflichtet, dass er mir mit seiner Besprechung des Lapp-Buches zur Kenntnis dieser dokumentarischen Bestätigung meiner Annahme von vor 50 Jahren verholfen hat. Aber ich kann zugleich nicht umhin, mich über seine sonderbare Reaktion auf die Enthüllung der konterrevolutionären Aktivitäten des Vincenz Müller zu wundern. Denn seine Kritik gilt nicht etwa dem Vincenz Müller wegen dessen Verrat an der DDR, sondern dem Buchautor Peter Joachim Lapp, weil der diesen Verrat nicht positiv gewürdigt hat. Prokop schreibt nämlich:
„Angesichts dieser Vorwürfe der SED-Führung gegen Müller verwundert Lapps Buchtitel `Ulbrichts Helfer` einigermaßen. … 1956 haben Vincenz Müller und seine Mitstreiter immerhin einen couragierten Versuch unternommen, aus der Logik des Kalten Krieges auszubrechen, was heute gewürdigt werden sollte.” Für einen mit den BRD-Oberen abgesprochenen Staatsstreich gegen die DDR die euphemistische Umschreibung „Ausbruch aus der Logik des Kalten Krieges” zu erfinden, das ist geradezu für die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz verdächtig!
Ich war der Meinung, eine solche Stellungnahme in der „jungen Welt” sollte nicht unwidersprochen bleiben und sandte der Zeitung deshalb eine Leserzuschrift, in der ich u.a. schrieb: „Ob gerade die `junge Welt` das richtige Organ ist, eine solche `Würdigung` für `couragierte Versuche` – wie sie schließlich unter Gorbatschows Regie 1989/90 zum Ziel führten – zu präsentieren, erscheint mir zweifelhaft. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Vielmehr darum, dass Prokops Darstellung und wohl auch die von P.J. Lapp die Hintergründe und Zusammenhänge dieser Schäffer-Mission im Halb-Dunkel lassen.” Nach einem Hinweis auf meine Tagebuch-Aufzeichnungen von 1958 schrieb ich weiter: „Prokops Rezension des Buches von Lapp zeigt mir, dass ich damals – angewiesen nur auf die Presse – mehr an Hintergründen und Zusammenhängen beschrieben habe, als Prokops Rezension hergibt. Ich bin daher sicher, dass, nachdem diese damaligen Vorgänge in der „jungen Welt” durch Prokops Buchbesprechung großes Interesse gefunden haben und der Wunsch, noch mehr darüber zu erfahren, geweckt wurde, diese meine damalige Niederschrift eine sehr willkommene Ergänzung zu Prokops Rezension darstellen würde. Ich schicke Euch deshalb eine Kopie dieser Niederschrift.” Seitens der „jungen Welt” gab es auf dieses Angebot keine Reaktion.
Dagegen fiel Prokops Kritik bei Lapp auf fruchtbaren Boden. Er schrieb nämlich ein neues Buch, diesmal nur über Vincenz Müller, und diesmal wurde der nicht als „Ulbrichts Helfer” vorgestellt, was ja fast das Schlimmste von allem Schlimmen ist – eine Steigerung zum Schlimmsten könnte nur noch der Ausdruck „Stalins Helfer” sein – sondern als „General bei Hitler und Ulbricht”. Und dieses Buch diente auch als Grundlage für einen Fernsehfilm gleichen Titels, bei dem Prokop sogar als Sachverständiger mitwirken durfte. Dieser Film wurde am 25. November 2003 im RBB Berlin ab 21.15 Uhr gesendet. Das Bild von Vincenz Müller als eines Verschwörers gegen die DDR wird darin durch das Zeugnis abgerundet, dass Müller bis zu seinem Tode die Verbindung zum West-Geheimdienst nicht abreißen ließ.
In diesem Film wirkte auch Markus Wolf als Zeitzeuge mit. Was er dabei mitteilte, war nur ein Bruchteil dessen, was schon in seinem Buch „Spionagechef im geheimen Krieg” zu lesen war, widmete er dort doch der Schäffer-Mission nicht weniger als acht Seiten (S. 164-172). Im Buch teilt Wolf mit, dass Schäffers Geheimreise in den Osten ihm selbst von einem westdeutschen Informanten angekündigt worden war, und dass Schäffer am Bahnhof Marx-Engels-Platz von zwei Beamten seines Dienstes empfangen wurde. Alles weitere, was Markus Wolf in seinem Buch über die Mission Schäffers in Berlin erzählt, steht in scharfem Gegensatz zu dem, was Lapp in seinem Buch und in dem Film mitteilt. Bei Markus Wolf war alles ganz harmlos: Schäffer wollte nur mit Vertretern der Sowjetunion und der DDR über seine Konföderationspläne sprechen. Und Wolf dann wörtlich: „Der vorgeschobene Anlass für Schäffers Ausflug in den Osten war ein Besuch bei General a.D. Vincenz Müller, mit dessen Familie der Vizekanzler befreundet war.”
Im Film sagte er als Zeitzeuge, die Abstimmung der Schäffer-Mission habe in seinen Händen gelegen. „Die Gespräche Müller – Schäffer wurden von uns aufgenommen.” Aber entweder wurden nicht alle Gespräche aufgenommen, oder aber Markus Wolf sagt in seinem Buch die Unwahrheit. Denn das Gespräch, in dem Müller dem Schäffer den geplanten Staatsstreich mitteilte, wovon Lapp sowohl in seinem Buch als auch im Film berichtet, wird in Wolfs Buch nicht nur nicht erwähnt, sondern als „abenteuerliche Version” abgetan. Bei Wolf (S. 171/2) ist zu lesen: „Eine abenteuerliche Version der Schäffer-Initiative gibt Franz Josef Strauß in seinen Erinnerungen zum besten. Er behauptet, der Vizekanzler habe die Verbindung zu General Müller gesucht, weil der ihm `weitreichende Andeutungen` über einen Putsch der NVA gemacht habe, `bei dem Ulbricht verhaftet und die ganze Regierung abgesetzt` werde. Strauß veröffentlichte diesen Unsinn wider besseres Wissen. Wir wussten nicht nur von Schäffer, dass Strauß in die Konföderationspläne eingeweiht war. Unsere Kontakte zu einem seiner engsten Vertrauten, dem Verleger und Chefredakteur der Passauer Neuen Presse, Hans Kapfinger, bestätigten die Mitwisserschaft von Strauß. Im übrigen waren alle Gespräche zwischen Schäffer und Müller unter unserer Kontrolle, denn der General kooperierte in dieser Sache aus politischer Überzeugung mit meinem Dienst.” (Unterstreichung von mir, K.G.)
Wenn alle Gespräche unter seiner Kontrolle waren, dann auch das Gespräch, in dem Müller den Besucher über den geplanten Putsch der NVA gegen Ulbricht und die DDR-Regierung berichtete und über das Lapp in seinen Büchern und im Film informiert. Und dann hat davon auch Markus Wolf gewusst. Dann hat er aber nicht nur davon gewusst, sondern dann war er an der Verschwörung beteiligt! So ganz ungewöhnlich wäre das übrigens nicht: Schließlich sollte der Staatsstreich ja „auf sowjetische Anregung” erfolgen, und das hieß ja wohl, auf Anregung auch des sowjetischen Geheimdienstes, dem ja auch Markus Wolf unterstand. Und das hieße letztlich auch nur, dass Markus Wolf schon 1955/56 die Generalprobe für seine Rolle 1989/90 absolviert hätte. Nachdenklich muss auf jeden Fall stimmen, dass Markus Wolf, obwohl er Lapps Bericht im Buch und im Film über die Erklärung Müllers gegenüber Schäffer vom bevorstehenden Streich gegen Ulbricht und die DDR-Regierung kannte, im Film nicht die Gelegenheit wahrnahm, seine im Buche so entschieden vorgetragene Zurückweisung dieses Berichtes als eine „unsinnige, abenteuerliche Version” zu wiederholen.
Aber sowohl in seinem Buche als auch im Film wirft Wolf Walter Ulbricht vor, der habe die vereinbarte Vertraulichkeit der Gespräche gebrochen; er schreibt (S. 171): „Nun aber – (immerhin erst im Oktober 1958) – brach Ulbricht um eines schnellen Propagandaerfolges willen die Zusage strikter Vertraulichkeit, die ich dem Vizekanzler hatte geben lassen. Ulbricht erklärte, in seinem Plan (der deutsch-deutschen Konföderation) habe er doch nur die Vorschläge eines Bonner Regierungsmitgliedes aufgegriffen.”
Ja, das war nun einmal die Art Walter Ulbrichts, die Leute, die ihm und der DDR eine Grube gegraben hatten, am Ende selbst in eben diese Grube purzeln zu lassen!
Und im übrigen: wohl aus leicht zu erratenden Gründen hatte Markus Wolf Walter Ulbricht, um dessen Sturz es bei den Gesprächen gegangen war, offenbar nichts davon berichtet, dass er, Wolf, dem Schäffer strikte Vertraulichkeit über die mit ihm geführten Gespräche zugesagt hatte. Wolfs Vorwurf an die Adresse Ulbrichts bestätigt in ihrer Haltlosigkeit nur noch einmal, wie sehr ihm der zuwider war.
Nach dieser Übersicht über die aktuellen Informationen zu den Geheimgesprächen des BRD-Vizekanzlers Schäffer mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR in den Jahren 1955/56 lasse ich nun meine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1958 zu dem gleichen Gegenstand folgen:
Nun zu einigen Ereignissen der letzten Jahre, die scheinbar mit Chrustschow gar nichts zu tun haben, die jedoch auch ins Register seiner Niederlagen gehören. Es handelt sich dabei um die streng geheim gehaltene Mission des damaligen Finanzministers, jetzigen Justizministers der BRD, Fritz Schäffer, in die Hauptstadt der DDR in den Jahren 1955 und 1956, deren Bekanntgabe durch Walter Ulbricht in Bonn große Verwirrung auslöste. Also:
Zu den „Ostkontakten” des Bundesministers Fritz Schäffer (2)
Es begann alles scheinbar ganz harmlos:
18. Oktober 1958: Auf einer Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland zum Thema: „Für Friedensvertrag, Konföderation und atomwaffenfreie Zone!” lässt Walter Ulbricht wie nebenbei die Bemerkung fallen, der Vorschlag, zur friedlichen Wiedervereinigung über eine Konföderation der beiden deutschen Staaten zu kommen, stamme ursprünglich von einem CDU-Minister der Bonner Regierung, der ihn in vertraulichen Gesprächen im Oktober 1956 und im Juli 1957 mit Vertretern der DDR gemacht habe.
Am 22. Oktober 1958 druckt die „Frankfurter Rundschau” ein verlegenes Dementi ab: „Wie dpa meldet, stellte ein Regierungssprecher am Dienstag fest, der Bundesregierung sei `nicht bekannt, dass irgendein Bundesminister mit einem Vertreter der Pankower Regierung gesprochen hat`” Dieses Dementi hielt jedoch nicht lange vor, denn Walter Ulbricht stieß am 10. November nach: auf einem Jugendforum in Leipzig wiederholte er, der Vorschlag der Konföderation sei in Gesprächen mit Regierungsvertretern der DDR von einem Minister der Bonner Regierung erörtert worden. Abschließend meinte Walter Ulbricht, er hoffe, der an den Gesprächen beteiligte Bonner Minister werde sich zu den Tatsachen äußern, sonst müssten es die Vertreter der DDR tun. Das wirkte. Schäffer blieb nichts anderes übrig, als wenigstens ein halb wahres, halb verschleiertes Teilgeständnis abzulegen. Er gab am 12. November zu, in „Ostberlin” gewesen zu sein und dort ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Puschkin, geführt zu haben, über das auch Bundeskanzler Adenauer informiert gewesen sei. Am 14. November 1958 half sein DDR-Gesprächspartner, Vincenz Müller, stellvertretender Verteidigungsminister der DDR, Schäffers Gedächtnis nach mit einem Interview, das an diesem Tage in der „Berliner Zeitung” erschien und am 15. November im „Neuen Deutschland” nachgedruckt wurde. Folgende Passagen aus diesem Nachdruck sind besonders bemerkenswert:
„Berlin (ND). Das Aufsehen, das in der westdeutschen Öffentlichkeit das am Mittwoch von Bundesjustizminister Schäffer abgegebene Teilgeständnis ausgelöst hat, wurde am Freitag durch ein Interview der „Berliner Zeitung” mit dem ehemaligen Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, Abgeordneten der Volkskammer und Mitglied des Nationalrats der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Vincenz Müller, weiter gesteigert. Durch das Interview wird eindeutig festgestellt, dass es sich bei Schäffers Erklärung nur um ein Teilgeständnis handelt. Schäffer hatte zugegeben, im demokratischen Berlin eine Besprechung mit dem damaligen sowjetischen Botschafter geführt zu haben, leugnete aber Verhandlungen, die er mit Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik geführt hatte. Das Interview hat folgenden Wortlaut:
Frage: Was sagen Sie zu der Behauptung der Westpresse, dass keine Verhandlungen von Vertretern der DDR mit Herrn Minister Dr. Schäffer stattgefunden haben?
Antwort: Doch, es sind solche Verhandlungen geführt worden. Herr Dr. Schäffer äußerte den Wunsch, mit einem Vertreter der DDR Beratungen zu führen, um einen Fortschritt in der Wiedervereinigung zu erreichen. Herr Dr. Schäffer meinte, dass die Zeit für eine Wiedervereinigung durch einen Kompromiss im Sinne der Neutralisierung und einer gemäßigten Wiederbewaffnung Deutschlands arbeite.
Frage: Sprach Herr Dr. Schäffer mit Ihnen als Privatperson oder hatten Sie den Eindruck, dass noch andere Herren in Bonn solche Gedanken vertreten?
Antwort: Herr Dr. Schäffer betonte zwar, dass er zunächst persönlich mit Vertretern der DDR die Möglichkeiten zur Herbeiführung eines Kompromisses sondieren wolle. Er erwähnte aber, dass es in Bonn Minister und Parteifreunde gebe, die ebenso denken wie er.
Frage: Wann und wo fanden die Unterredungen statt?
Antwort: Die erste Besprechung fand am 11. Juni 1955 und die zweite am 20. Oktober 1956, beide im demokratischen Berlin, statt. Bei dem zweiten Gespräch waren wir in meiner Wohnung ungefähr drei Stunden zusammen.
Frage: Was war der Inhalt der Verhandlungen?
Antwort: Herr Dr. Schäffer legte seine Gedanken über eine Konföderation im Sinne der Zusammenarbeit der Benelux-Staaten dar. Er schlug vor, eine Art Programm für die Wiedervereinigung vorzubereiten, in dem die Wirtschaftsfragen, die Fragen des Personenverkehrs und die Kulturfragen festgelegt sind. Dafür sollten Termine festgelegt werden, damit ein solches Programm bis Juli 1957, also noch vor den Bundestagswahlen, veröffentlicht werden kann.
Frage: Zwischen wem sollte dieses Programm vereinbart werden?
Antwort: Herr Dr. Schäffer sagte, darüber würde man am besten mit einem Mitglied der Regierung der DDR direkt sprechen. Es wurde vereinbart, weitere Besprechungen über die Wege der Wiedervereinigung zu führen. Dafür habe ich ihm einen beauftragten Vertreter vorgestellt.
Frage: Hat Dr. Schäffer das alles auf eigene Kappe gemacht?
Antwort: Herr Dr. Schäffer sagte mir: Selbstverständlich habe ich den „Alten” (Adenauer) informiert. Solche Sachen kann ich nur mit dem Kanzler und mit Strauß besprechen. Ich musste den „Alten” bitten, nur wenige Personen ins Vertrauen zu ziehen.
Frage: Herr Müller, Ihre Informationen bestätigen doch vollkommen die Darstellungen Walter Ulbrichts im Nationalrat, wo er sagte, dass die Anregung zu dem Vorschlag der Bildung einer Konföderation sich aus Verhandlungen mit einem Minister der Bonner Regierung ergab.
Antwort: So war es tatsächlich.”
Nun war es an Schäffer und Adenauer, sich zu einem Geständnis der Wahrheit zu bequemen. Der „Vorwärts” vom 17. November 1958 berichtete: „Eine aufschlussreiche Erklärung gab der Bonner Minister Schäffer zu seinen Gesprächen in der DDR ab. Er habe jetzt in mehreren Wählerversammlungen in Nordbayern seine Wähler gefragt, ob er anders hätte handeln sollen. … Es sei kein einziger gegen ihn aufgestanden.” Und der Berliner sozialdemokratische „Telegraf” hatte schon einen Tag vorher berichtet: „Bundeskanzler Adenauer gab gestern zu, dass er schon vor dem Gespräch seines damaligen Finanzministers Schäffer mit Puschkin wusste, dass der seinerzeitige Pankower stellvertretende Verteidigungsminister und heutiger General der `Volksarmee`, Vincenz Müller, die Vermittlung für diese Gespräche übernommen hatte.”
Das war allerdings wiederum eine Halbwahrheit, denn danach sei Müller nicht Gesprächspartner, sondern Gesprächsvermittler mit dem sowjetischen Botschafter gewesen. Der vollen Wahrheit musste also weiter zum Durchbruch verholfen werden.
Am 19. November 1958 gab Vincenz Müller ein Fernsehinterview, in dem er nochmals Einzelheiten aus dem Gespräch mit Schäffer vom 20. Oktober 1956 darlegte. Ihm folgte am
22. November 1958 Professor Otto Rühle, wie Vincenz Müller Mitglied des Hauptvorstandes der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands” (NDPD) und Volkskammerabgeordneter, ebenfalls mit einem Fernsehinterview über seine Verhandlungen mit dem Bonner Minister Schäffer am 13. März 1957. Beide Aussagen musste Schäffer wohl oder übel bestätigen.
Bereits am 16. November hatte Walter Ulbricht auf einer Wahlkundgebung in Leipzig seine bisherigen Enthüllungen erweitert durch die Erklärung, auch andere führende Leute aus dem Bonner Staatsapparat hätten mit DDR-Vertretern gesprochen, wie z.B. Ernst Lemmer (Minister für gesamtdeutsche Fragen) mit dem verstorbenen stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke.
In unseren Darstellungen erscheint Schäffer als ein Mann, der endlich etwas für die friedliche Wiedervereinigung tun wollte und sich deshalb nach Berlin Ost begab, um mit „Pankow” zu verhandeln. Diese Version ist für den politischen Zweck, den sie verfolgt – die Adenauer-Politik noch mehr in die Enge zu treiben -, hervorragend geeignet. Aber die Wirklichkeit sieht natürlich etwas anders aus, und darüber sind sich wahrscheinlich nicht nur die „Eingeweihten” klar. Aktionen, die mit Wissen und Billigung von Adenauer gestartet werden, sind von jedem Verdacht frei, ehrenwürdigen Zielen gedient zu haben. Worum ging es also? Um das zu ergründen, muss man sich die Daten rund um die Zeitpunkte der Fühlungnahme etwas näher ansehen.
11. Juni 1955: Erster Kontakt Schäffer – Vincenz Müller.
Einiges zur Kennzeichnung des politischen Umfelds dieses Datums:
15. Mai 1955: Abschluss des Österreichischen Staatsvertrages – vielfach gedeutet als Vorbild und Modellfall für die „deutsche Einigung”.
26. Mai 1955: Ankunft der sowjetischen Delegation in Belgrad. Chrustschows Totalrehabilitierung Titos.
2. Juni 1955: Sowjetisch-jugoslawische Deklaration, sowjetische Legitimierung des jugoslawischen „Nationalkommunismus” im Alleingang, ohne vorherige Konsultierung mit den Bruderparteien.
Der erste Besuch Schäffers erfolgte also just in der Zeit, da Chrustschow das „Trojanische Pferd des Imperialismus”, den „Kundschafter des Imperialismus” – dies Chrustschows eigene Bezeichnungen für Titos Jugoslawien! -, in die „Festung”, in die kommunistische Weltbewegung, wieder hineinholt; also in der Zeit, da die Tito-Revisionisten die Gelegenheit zugespielt bekommen, – diesmal im Bunde mit den Führern der KPdSU! – zum zweiten Male Anlauf zu nehmen für Aktivitäten, die die Beseitigung so genannter „stalinistischer” Parteiführer, insbesondere in den sozialistischen Ländern, zum Ziele haben; Aktivitäten, deren Höhepunkt und erste Niederlage der konterrevolutionäre Putsch in Ungarn war.
20. Oktober 1956: Zweiter Kontakt Schäffer – Vincenz Müller.
Schäffer trifft sowohl mit Vincenz Müller als auch mit dem Botschafter der UdSSR, Puschkin, zusammen, mit vorheriger Billigung Adenauers und nachfolgender Information an den USA-Außenminister J.F.Dulles, der diesen Schritt ebenfalls völlig in Ordnung findet. Was geschah sonst noch im politischen Umfeld dieses Datums?
Das Wichtigste geschah in Ungarn und Polen: in beiden Ländern wurde der revisionistische Umschwung schrittweise vorbereitet.
6. Oktober 1956: Staatsbegräbnis für den 1949 wegen Hochverrats zum Tode verurteilten und hingerichteten Laszlo Rajk in Ungarn. Aus diesem Anlass Massendemonstrationen mit konterrevolutionärem Einschlag.
10. Oktober: In Polen wird Hilary Minc zum Rücktritt als Mitglied des Politbüros der polnischen Partei „aus Gesundheitsrücksichten” gezwungen. Dazu schreibt das Magazin „New Statesman and Nation” in seiner Nummer vom 13. Oktober 1956: „Der Rücktritt von Hilary Minc soll Gomulka den Weg freimachen ins Politbüro” In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass im Prozess gegen Rajk vor dem Budapester Gericht der Angeklagte Brankow, – vor seiner Verhaftung Geschäftsträger der jugoslawischen Gesandtschaft in Budapest – zu Gomulka aussagte: „Ich erinnere mich, dass damals, als sich in Polen der Fall Gomulka ereignete (1948, K.G.), große Hoffnungen (in Belgrad, K.G.) gehegt wurden, dass Gomulka die Gedankengänge Titos in Polen verwirklichen werde.” (3)
11. Oktober 1956: Delegation der ungarischen Partei unter Führung Gerös in Jugoslawien. Zu den dort geführten Verhandlungen sagte Tito in seiner berüchtigten Rede in Pula: „Wir wollen Beziehungen zur Ungarischen Partei der Werktätigen, denn wir hoffen, dass wir so, indem wir die ungarische Partei nicht isolieren, leichter auf deren richtige innere Entwicklung einwirken können.” (Nämlich: Imre Nagy wieder an die Spitze zu bringen; K.G.)
13. Oktober 1956: Imre Nagy wird wieder in die Partei aufgenommen!
20. Oktober 1956: Imre Nagy erhält einen Lehrstuhl für Landwirtschaftswissenschaft an der Budapester Universität.
24. Oktober 1956: Imre Nagy zum Ministerpräsidenten ernannt! (Rajks Nachfolge scheint gesichert.) Zur Vorgeschichte: Chrustschow und Tito trafen sich Ende September – Anfang Oktober auf der Krim. Dort wurde – so Tito in seiner Pula-Rede – über die Notwendigkeit der Absetzung Gerös gesprochen. Keinen Monat später ist er abgesetzt!
19.-20. Oktober 1956: 8. Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Hauptreferent: der noch funktionslose Gomulka! In seiner Rede hinterhältige Angriffe gegen „die kleinen Stalins” in den kommunistischen Parteien. Wie „Statesman and Nation” vorhergesehen, wird Gomulka zum Ersten Sekretär gewählt. Auf wen – unter anderen oder gar in erster Linie – die Attacken gegen „die kleinen Stalins” zielten, das präzisierten in jenen Tagen jene Polen, die DDR-Gäste in der Polnischen Botschaft in Berlin unverblümt fragten, wann denn sie ihren „kleinen Stalin” – und sie gaben zu verstehen, dass damit kein anderer als Walter Ulbricht gemeint war – auch davonjagen würden? Noch viel deutlicher als Gomulka wurde einen Monat später, am 11. November 1956, Tito in seiner Rede in Pula, als er ausführte: es sei „absolut notwendig, gewisse Leute zu ermahnen, … die in den Ostländern, aber auch in einigen westlichen Ländern an der Spitze der kommunistischen Parteien stehen. … Jene eingefleischten stalinistischen Elemente, … denen es in den verschiedenen Parteien gelungen ist, sich noch auf ihren Positionen zu halten. … In einzelnen Ländern und Parteien Osteuropas sprechen manche führenden Leute davon, dass sich bei ihnen so etwas (wie in Ungarn; K.G.) nicht ereignen werde. … Das Gleiche hat auch Gerö gesagt, das hat auch Rakosi gesagt, und was hat es ihnen genützt? Es nützt ihnen gar nichts. … Es geht jetzt wirklich darum, ob in den kommunistischen Parteien der neue Geist siegen wird, der in Jugoslawien seinen Ausgang genommen hat…”
Der eigentliche Wegbereiter Gomulkas war Chrustschow. Ohne die Ernennung Titos zum „teuren Genossen”, ohne die Rehabilitierungskampagne für alle Verräter von Rajk bis Nagy, ohne die Verleumdungskampagne gegen Stalin, ohne den plötzlichen Tod Bieruts – ohne all dies säße Gomulka – sehr zum Wohle des Sozialismus und des polnischen Volkes – noch heute im Gefängnis, wohin er hoffentlich recht bald wieder kommt.
Und in der DDR und der SED? Dazu führt Erich Honecker auf dem 35. ZK-Plenum der SED im Februar 1958 aus:
„Im Oktober 1956 kam es im Zusammenhang mit der Vorbereitung des 29. Plenums … zu scharfen Auseinandersetzungen mit Genossen Schirdewan. … Genosse Schirdewan spitzte die Auseinandersetzung noch dadurch zu, dass er die Politik der Partei, wie sie unter Führung des Zentralkomitees und seines Ersten Sekretärs durchgeführt wird, in verleumderischer Art und Weise herabsetzte. … Anstatt die überwiegende Mehrheit des Politbüros zu unterstützen und seine Haltung zu überprüfen, hielt er es für erforderlich, Angriffe gegen Genossen Ulbricht zu richten, weil dieser im Einvernehmen mit dem Politbüro die Versuche, die Parteilinie zu ändern, verhindert. … Für ihn spielte offenbar keine Rolle, dass zur damaligen Zeit der Gegner auf der gleichen Linie vorstieß.”
Und wo suchte und fand Schirdewan nach seiner eigenen Schilderung Rückhalt gegen Ulbricht, dem er in einer sachlichen politischen Auseinandersetzung in keiner Weise gewachsen war? Bei dem gleichen sowjetischen Botschafter Puschkin, der etwa um die gleiche Zeit auch für das Anliegen des BRD-Ministers Schäffer offene Ohren hatte!
Schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass den Imperialisten durch Tito, z.B. in seiner Pula-Rede, Hoffnungen gemacht wurden, man könne bei den Bestrebungen, die „Stalinisten” abzusägen, auf Hilfe auch seitens sowjetischer Politiker rechnen: „Wir haben gesehen, dass … es aber noch immer Möglichkeiten gibt, dass in der Führung der Sowjetunion in einer inneren Evolution die Elemente siegen, die für eine kraftvollere und schnellere Entwicklung in Richtung auf eine Demokratisierung, für eine Aufgabe aller Stalinschen Methoden … sind.” Tito lässt in dieser Rede durchblicken, seine Bemühungen, die sowjetischen Führer für die Absetzung Rakosis zu gewinnen, seine nicht erfolglos gewesen.
Die Situation, in der Schäffer seine zweite Unterredung mit Vincenz Müller hat und den sowjetischen Botschafter in der DDR – nicht etwa den sowjetischen Botschafter in Bonn! – aufsucht, ist also u.a. dadurch gekennzeichnet:
1. Eine wüste Hetzkampagne gegen Ulbricht seitens der imperialistischen Propagandaapparate.
2. Ergänzung dieser Kampagne durch bestimmte Persönlichkeiten an der Spitze einiger kommunistischer Parteien.
3. Unterstützung dieser Kampagne durch Mitglieder der obersten Führung der SED
4. Durch Tito erzeugte Hoffnung bei den Imperialisten, sogar durch Politiker der Sowjetunion Unterstützung zu finden bei den Versuchen, Walter Ulbricht von der Führung zu verdrängen.
Wenn in einer derartigen Situation Schäffer Geheimverhandlungen führt, die von Adenauer im voraus, von ihm und Dulles nachträglich gebilligt werden, dann darf man sicher sein, dass sie nicht der Erkundung von Wegen zur demokratischen Wiedervereinigung, sondern von Wegen zur „inneren Evolution” in der DDR galten, deren Beginn die Beseitigung des ihnen so verhassten Walter Ulbricht von der Staats- und Parteispitze sein sollte.
Nimmt man all diese Ereignisse zusammen, dann steht außer Zweifel, dass die geheime Mission Schäffers darin bestand, zu erkunden, welche objektiven und subjektiven Möglichkeiten in der DDR bestanden, Walter Ulbricht den Weg Gerös und Rakosis gehen zu lassen, ob es Leute in der Regierung und in der Partei gab, die fähig und bereit waren, das zu bewerkstelligen, und vor allem: ob sich die Sowjetunion solch einem Vorgang gegenüber genauso förderlich verhalten würde wie in Polen und Ungarn.
Noch nicht klar ist, welche Rolle Vincenz Müller und der Botschafter Puschkin spielten. Hat Puschkin den Besuch Schäffers sofort dem Genossen Walter Ulbricht mitgeteilt oder nur seiner eigenen Führung, also Chrustschow, der sich schon seit 1953 erfolglos bemühte, Ulbricht das Genick zu brechen? Hat Vincenz Müller die Sache konspirativ im Alleingang gemacht oder mit Wissen und Billigung oder gar im Auftrag der zuständigen Stellen? Kann man aus der Tatsache, dass Puschkin als Botschafter von Perwuchin abgelöst wurde, die Schlussfolgerung ziehen, dass er für unsere Führung und Partei zu einer unerwünschten Person geworden war? Kann man aus der Tatsache, dass Vincenz Müller als stellvertretender Verteidigungsminister abgelöst wurde, die Schlussfolgerung ziehen, dass er die Verhandlungen hinter dem Rücken der zuständigen Stellen geführt hat und somit in ein Komplott gegen Walter Ulbricht verwickelt war?
Für beides spricht einiges.
Erstens kann man davon ausgehen, dass Chrustschow großen Wert darauf legt, besonders in wichtige Schlüsselpositionen – und dazu gehört sicherlich der Botschafter in der DDR – ihm ergebene Vertrauensleute zu setzen. Denn das Hauptziel seiner Deutschlandpolitik deckte sich mit dem von Dulles: Entfernung der echten Revolutionäre von der Spitze der Partei und der Regierung als erste Etappe der Umwandlung der DDR in einen revisionistischen Staat nach dem Beispiel Ungarns und Polens. Deshalb ist sein Hauptgegner in der DDR Walter Ulbricht.
Zweitens kann man annehmen, dass sich Schäffer mit einer so heiklen und vertraulichen Mission nur an solche Leute wendet, von denen ihm durch seine Nachrichtendienste bescheinigt wurde, sie seien dafür geeignet.
Drittens spricht dafür auch die zeitliche Nähe der auf den Sturz Ulbrichts abzielenden Aktivitäten Schirdewans.
Dies zusammengenommen lässt den Schluss zu, dass wir es hier mit Aktionen zu tun haben, die von Chrustschow über Gomulka und Schirdewan bis zu Schäffer und von da zu Adenauer und Dulles reichen. Zu ihnen gehört auch noch der dritte Kontakt:
13. Juli 1957: Treffen Schäffer – Otto Rühle. Dieses Treffen fand nicht in der DDR, sondern im Bonner Finanzministerium statt. In seinem Fernsehinterview berichtete Rühle, er sei als Beauftragter der DDR zu Schäffer nach Bonn gefahren. In seinem Gespräch mit Schäffer sei u.a. Einstimmigkeit über eine friedliche Lösung des Deutschlandproblems erzielt worden; Schäffer habe es vermieden, die Möglichkeit einer Konföderation wieder zur Sprache zu bringen; er habe für einen Vertrag zwischen beiden deutschen Staaten plädiert, in dem Maßnahmen zur Vorbereitung der Wiedervereinigung und der Termin für allgemeine Wahlen festgelegt werden sollten. Abschließend habe Schäffer seine Absicht geäußert, nach weiteren Gesprächen mit Rühle das Gespräch mit Ministerpräsident Otto Grotewohl oder anderen Regierungsmitgliedern in Berlin weiterzuführen. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen.
Warum? Offensichtlich, weil sich die westliche Seite von ihrer Fortführung keinen Erfolg mehr versprechen konnte, d.h. weil sie einsehen musste, dass Ulbricht nicht zu stürzen ist. Was geschah nämlich im politischen Umfeld dieses dritten Kontakts?
22. – 29. Juni 1957: Das berüchtigte Juni-Plenum des ZK der KPdSU mit dem Sieg Chrustschows über die Verteidiger des Leninismus Molotow, Kaganowitsch und andere, die zur „parteifeindlichen Gruppe” erklärt wurden. Darüber große Genugtuung in der Westpresse! Am 5. Juli 1957 schreibt die Welt: „Der Sieg Chrustschows beeindruckt Ost und West. Und Ulbricht?” Das Juni-Plenum wird also als Signal aufgefasst für den bevorstehenden Sturz des „Stalinisten” Ulbricht in Deutschland! Und das, wie wir sahen, ja nicht grundlos! Schließlich gab es im ZK der SED einige Leute, die seit langem darauf bedacht waren, jede Chance für einen Angriff auf Ulbricht wahrzunehmen. Und zweifellos lag es nahe, Ulbricht mit Molotow in eine Reihe zu stellen und die Forderung nach seiner Absetzung mit dem Juni-Plenum des ZK der KPdSU zu begründen. Nicht ohne triftigen Grund hat unsere Parteiführung schneller als alle anderen und demonstrativ eine vorbehaltslose Zustimmung zum KPdSU-Plenum erklärt…. Sie durfte niemand die Zeit lassen, ihr zuvorzukommen.
Gleich nach dem Juni-Plenum reisten Chrustschow und Bulganin in die CSSR und kündigten ihren baldigen Besuch in der DDR an. Der fand dann vom 7. – 14. August 1957 statt. Diesmal ließ sich Chrustschow aber nicht von Bulganin, sondern von seinem Intimus Mikojan begleiten. Das war geeignet, die Hoffnung der Imperialisten auf die Ergebnisse dieses Besuches noch höher zu schrauben. Sie sahen in Chrustschow einen Wundermann, der selbst das Unmögliche möglich machen kann. Hatte er nicht Stalin entthront? Hatte er nicht Molotow, Malenko und Kaganowitsch aus dem Sattel geworfen? Hatte er nicht fertig gebracht, Tito selbst nach Ungarn und Titos Pula-Rede wieder erneut in die Reihen der „Genossen” einzuschleusen und sogar die Albaner dazu zu kriegen, mit Tito ein „Versöhnungstreffen” durchzuführen? Und da sollte er es nicht fertig bringen, mit Unterstützung seiner Freunde im ZK der SED den Ulbricht zu stürzen?
Die Situation nach dem Juni-Plenum der KPdSU 1957 legt deshalb die Annahme nahe, dass das Schäffer-Ruge-Gespräch vom 13. Juli 1957 nicht allein, aber auch der Vorbereitung jener Maßnahmen dienen sollte, die zum Sturz Ulbrichts und darauf folgend zur „Annäherung” der beiden Staaten, also der mehr oder weniger verhüllten Kapitulation der DDR gegenüber der BRD zu führen bestimmt waren.
Der Besuch Chrustschows nahm aber einen ganz anderen Verlauf als erwartet. Statt die Position Ulbrichts zu erschüttern und zu untergraben, musste Chrustschow im Gegenteil dazu beitragen, diese Position zu festigen und unerschütterlich zu machen. Urteilt man nicht nach der Person des Redners, sondern nach dem Inhalt der Reden, dann war der entscheidende Mann der sowjetischen Delegation weder Chrustschow noch Mikojan, sondern der still im Hintergrund wirkende Gromyko. Sie enthielten nämlich nichts von dem, worauf man im Westen gehofft und worauf man sich dort bei Chrustschow eigentlich immer verlassen konnte – keine Attacken gegen die „Stalinisten”, keine Ermunterung der Gegner Ulbrichts, statt dessen demonstrative Unterstützung. Das war der Grund dafür, weshalb dieser dritte Ostkontakt Schäffers keine Fortsetzung mehr fand. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb das Scheitern dieser Ost-Missionen auch in das Register der Niederlagen Chrustschows gehört.
Nach meinen Beobachtungen lassen sich seit dem Machtantritt Chrustschows wenigstens fünf Versuche feststellen, Walter Ulbricht zu stürzen:
Erster Versuch: im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953. Beteiligt – wenn nicht in direkter Koordinierung, so doch in indirektem Zusammenwirken: Herrnstadt-Zaisser-Chrustschow, Adenauer-Dulles.
Zweiter Versuch: im Zusammenhang mit Chrustschows Tito-Rehabiliterung und dem ersten Ostkontakt Schäffers am 11. Juni 1955. Beteiligte: Schäffer-Puschkin-Chrustschow, Adenauer-Dulles.
Dritter Versuch: Oktober-November 1956 in Auswirkung des XX. Parteitages der KPdSU und im Zusammenhang mit den konterrevolutionären Ereignissen in Polen und Ungarn und dem zweiten Ostkontakt Schäffers. Beteiligt: Schirdewan-Puschkin-Chrustschow, Schäffer-Adenauer-Dulles.
Vierter Versuch: In der Folge des Juni-Plenums 1957 des ZK der KPdSU und im Zusammenhang mit dem dritten Ostkontakt Schäffers. Beteiligt: Schäffer-Adenauer-Dulles, Chrustschow.
Fünfter Versuch: im Zusammenhang mit dem 35. Plenum des ZK der SED im Januar-Februar 1958. Beteiligt: Schirdewan-Wollweber-Chrustschow.
Walter Ulbricht hat es mit immer wieder von neuem überraschender Meisterschaft verstanden, die Minen, die seine Gegner gegen ihn gelegt haben, unter deren eigenem Hintern hochgehen zu lassen.
Ulbricht ist der deutsche Politiker des 20. Jahrhunderts, der vor die schwierigste aller Aufgaben gestellt ist und sie gemeistert hat: sich und seine Sache zu behaupten nicht nur gegen die Angriffe eines vielfach übermächtigen Gegners – des deutschen Imperialismus -, sondern auch noch gegen die heimtückischen Dolchstöße in den Rücken aus den Reihen des eigenen Hauptverbündeten!
Dafür ist ihm ein Ehrenplatz im Buche der Geschichte der sozialistischen Revolution sicher!
Abgeschlossen am 1. Dezember 2003
Erschienen in „Offensiv – Zeitschrift für Sozialismus und Frieden” 1/04 (Jan.-Feb. 2004), Seite 22 – 34; bei den im Artikel wiedergegebenen Tagebuchaufzeichnungen über die fragliche Zeit handelt sich um einen Vorabdruck aus dem zweiten Teil von Kurt Gossweiler, Die Taubenfuß-Chronik oder Die Chrustschowiade 1953 bis 1964, der wie der erste Band im Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung erscheinen wird.
Anmerkungen:
(1) Dies Tagebuch, bzw. sein erster Teil, ist inzwischen unter dem Titel „Die Taubenfußchronik oder die Chruschtschowiade”, Bd. 1, veröffentlicht. Der zweite Band, in dem auch die Aufzeichnungen über die Schäffer-Mission enthalten sind, soll Anfang 2004 erscheinen. Die weiter unten folgenden Aufzeichnungen von mir stellen also einen Vorabdruck aus Band II der Taubenfußchronik dar.
(2) Siehe zu den geschilderten Vorgängen die Informationen in: Dokumentation der Zeit, Hefte 180 – 183 aus dem Jahre 1958; „Neues Deutschland” vom 15. – 17. November 1958, „Telegraf” Berlin vom 16. November 1958, „Frankfurter Rundschau” vom 22. Oktober 1958.
(3) Laszlo Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht, Berlin 1949, S. 156
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