Sonntag, 29. September 2013

Marcel Reich-Ranicki ist tot

Das Pontifikat des Literaturpapstes ist beendet Einige persönliche Gedanken zur Erinnerung an den deutschen Literaturpapst Von Günter Ackermann Kommunisten-online vom 19. September 2013 – Ende der 70er Jahre. Ich studierte in Erlangen. Man diskutierte damals, ob der amerikanische Film Holocaust im Fernsehen gezeigt werden dürfe. Wenn ich mich recht erinnere, waren es vor allem die Bayern, die dagegen waren. Damals koppelten sie sich ab und an vom 1. Fernsehen ab, wenn die etwas brachten, was den Herrschaften in München nicht passte. So wollte man es auch mit diesem Film machen. Dann aber einigten sich die Fernsehgewaltigen doch noch. Man schaltete die 3. Programme zusammen und brachte den Film auf allen 3. Programmen. Nach dem Film sollte eine Expertenrunde darüber diskutieren. Ich sah den ersten Teil von Holocaust und war entsetzt. Der Film brachte keine dramatisch aufgemachte historische Geschichte, er klärte nicht auf, sondern war nach der Art von Western gedreht. Die „Experten“ in der folgenden Diskussion redeten den Film gut und überschlugen sich in Lobhudelei über dieses flache Filmchen. Nur einer machte eine Ausnahme: Marcel Reich-Ranicki. Das beeindruckte mich schon. Mehrere Jahre später, Mitte der 80er Jahre. Ich arbeitete an den Recherchen für meine Dissertation (leider nie fertig gestellt) über den Arbeiterschriftsteller Hans Marchwitza. Hierzu war ich nach Berlin (DDR) gereist und arbeitete im Archiv der Akademie der Künste der DDR. Die Hinterlassenschaften dieses Arbeiterschriftstellers wurden in der Akademie aufbewahrt. Deren Vizepräsident war einst Hans Marchwitza. Ich bekam mehrere große Kartons, – ungeordnet – hier waren die Hinterlassenschaften von Hans Marchwitza aufbewahrt. Bei der Durchsicht der Dokumente stieß ich auf eine alte Ausgabe der polnischen Zeitung „Zycie Warszawy“ mit einem Artikel über einen Besuch von Bertold Brecht du Hans Marchwitza in Warschau. Der Artikel stellt Marchwitza mit Goethe auf eine Stufe – kurz: billige Lobhudelei. Autor war ein gewisser Marcelo Ranicki. Ich dachte sofort, dass das der spätere westdeutsche Literaturpapst verbrochen hatte. Ich wusste, dass der nach dem Krieg in Warschau gelebt hatte und auch für Zycie Warszawy geschrieben hatte – nur er konnte den Artikel geschrieben haben. Einige Zeit danach recherchierte ich in Dortmund beim Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Dort befindet sich ein Ausschnitt der Zeitschrift „Die Zeit“ mit dem Artikel „Eine peinliche Legende“ von Marcel Reich-Ranicki über Hans Marchwitza. Reich-Ranicki mokiert sich über den Nationalpreis der DDR für Marchwitzas Roman „Roheisen“. Marchwitza wird vom Reich-Ranicki in diesem Artikel schlichtweg die Fähigkeit Literatur zu produzieren abgesprochen. Im Artikel führt Reich-Ranicki als Resümee an: „Wenn Bücher, die mit dem, was wir unter dem Begriff “Literatur” verstehen, keinerlei Berührungspunkte mehr aufweisen, unentwegt und nachdrücklich als Fortsetzung der Tradition Grimmelshausens, Goethes und Kellers … gerühmt werden, dann kann das bei gutgläubigen Lesern, zumal jüngeren, zur katastrophalen Verwirrung der Kriterien führen.“ Aber genau das hatte Reich-Ranicki im Artikel in Zycie Warszawy getan: Marchwitza war zu einem Goethe hochstilisiert worden. Jetzt wollte ich es genau wissen und rief den Literaturpapst in Frankfurt an. Er gewährte mir wirklich am Telefon eine Privataudienz und erklärte zum Artikel in Zycie Warszawy, den hätte er bewusst so übertrieben geschrieben, um anzudeuten, dass es absurd sei. Marchwitza habe schlechte Literatur produziert. Ganz anders Willi Bredel – meinte der Literaturpapst. Zu Hans Marchwitza: Ich kenne alle seine Bücher und ich weiß, das Schreiben fiel ihm nicht leicht. Das schreibt er auch häufig selbst. Erklärbar ist das aus seiner Biografie. Marchwitza wurde 1890 in Szarlej (heute Piekary Śląskie) als Sohn eines Bergarbeiters im oberschlesischen Steinkohlerevier und dessen Ehefrau, die auch im Bergwerk arbeitete (in der Kohlewäsche). Oberschlesien war in der Kaiserzeit eine Art Kolonie. Es wurde künstlich nieder gehalten, die Bildungseinrichtungen waren noch schlechter, als sie im Ruhrrevier waren. Die die Berg- und Hüttenwerke gehörten deutschen Großkonzernen oder der Fürstenfamilie Henckel von Donnersmarck. Guido Georg Friedrich Erdmann Heinrich Adelbert Graf Henckel Fürst von Donnersmarck besaß 1913 ein Vermögen von 254 Millionen Goldmark und war damit der zweitreichste Mann in Preußen nach Kanonenkönig Gustav Krupp. Die Mehrheit der Bevölkerung waren Schlesier, die als Sprache ein archaisches Polnisch sprachen – man nannte diese Sprache abwertend „wasserpolnisch“. Das war auch die Muttersprache von Hans Marchwitza. Zu Hause, unter Verwandten und Freunden sprach man „wasserpolnisch“. Das zu sprechen war aber in der Schule bei Strafe verboten und Strafe bedeutete, brutal vom Lehrer verprügelt zu werden. Schulbildung war Nebensache, nur das Allernotwendigste an Wissen wurde vermittelt und diese schlechte Schule war bereits mit 14 Jahren beendet. Hans Marchwitza musste mit 14 Jahren im Bergwerk unter Tage arbeiten. Der Organisations- und Bewusstseinsstand der oberschlesischen Arbeiter war schlecht, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen erbärmlich und entschieden schlechter als im Ruhrrevier. 1910 ließ sich Marchwitza an die Ruhr als Bergarbeiter anwerben und ging nach Hamborn (?). Aber 1912 wurde er nach einem Streik gemaßregelt und kam auf eine Schwarze Liste. Marchwitza arbeitete beim Straßenbau und wurde 1915 eingezogen. Er überlebte die Grauen des Krieges vor Verdun. Nach dem Krieg, 1919, trat Marchwitza der USPD bei, war beim Kapp-Putsch Zugführer bei der Roten Ruhrarmee im Kampf gegen die Putschisten, Reichswehr und Polizei. Marchwitza wurde erneut gemaßregelt, trat dann 1920 in die KPD ein. Er verdiente sich – wie er es selbst nannte – mit dem Schreiben von „Schnurren“ bei der KPD-Zeitung „Ruhrecho“ seinen Lebensunterhalt. Chefredakteur des Ruhrecho war Alexander Abusch, danach Chefredakteur des Zentralorgans das KPD Rote Fahne und in der DDR zeitweise Kulturminister. Abusch regte Marchwitza damals an, über seine Erfahrung bei den Kämpfen der Roten Ruhrarmee zu schreiben. Es entstand sein erste Buch „Sturm auf Essen“. Ein fantastisches Zeitzeugnis der revolutionären Kämpfe der Arbeiter des Ruhrgebiets gegen die Reaktion. Das Buch wurde in fast alle wichtigen Sprachen übersetzt. Nach der Machtübernahme durch den Faschismus musste Marchwitza ins Exil. Er ging zunächst in die Schweiz, wurde dann ausgewiesen und ging über das Saarland dann nach Frankreich, von hier nach Spanien. In Spanien kämpfte er als Offizier in den Interbrigaden gegen den Faschismus. Nach der Niederlage der Republik ging er zurück nach Frankreich. Hier wurde er nach Kriegsbeginn 1939 interniert, ihm gelang aber die Flucht aus dem Internierungslager. Über Marseille gelang er in die USA. Hier blieb er die Kriegszeit über und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter. Nach 1945 wollte er zurück nach Deutschland in die damalige SBZ, aber er bekam nur die Ausreiseerlaubnis in die amerikanische Zone. Von hier gelangte er in die SBZ, ließ sich in Potsdam nieder und behielt dort, bis zu seinem Tod 1965, seinen Wohnsitz. Warum aber meinte Reich-Ranicki, Marchwitza sei schlecht? Nun, Marchwitza wurde in der DDR zum Dichter hoch stilisiert. Ganze drei Nationalpreise wurden ihm verliehen. Den einen für seinen Roman „Roheisen“ (1955). Roheisen behandelt den Aufbau des damaligen Eisenhüttenkombinats Ost In Fürstenberg, später Stalinstadt und heute Eisenhüttenstadt. Das Buch war offensichtlich eine Auftragsarbeit. Willi Bredel, ein anderer Schriftsteller aus der Arbeiterklasse, schrieb einmal, dass man nie Auftragsschreiberei machen dürfe und „Roheisen“ war eine Auftragsarbeit. Marchwitza beschreibt alles, als sei dies mitten im Ruhrgebiet geschehen – nicht aber im ehemaligen Land der preußischen Krautjunker, im brandenburgischen Sand. Ich mag die Bücher von Marchwitza sehr, ich mag „Sturm auf Essen“, besonders die Kumiak-Trilogie, „In Amerika“ und seine anderen Romane. „Roheisen“ aber wäre besser nicht geschrieben worden. Marchwitza war immer Arbeiter geblieben, schreibender Arbeiter, aber eben Arbeiter. Ein Dichter vom Schlage eines Brecht, Johannes R. Becher, Erich Weinert und andere aber war er nicht. Das spricht nicht gegen ihn – es spricht für ihn. Wer seine Bücher gelesen hat und nur etwas Wohlwollen mitbringt, wird von Marchwitza begeistert sein. Das Leben und die Kämpfe der Arbeiter schildert er mit einer Klarheit, wie kaum ein anderer. Seine Bücher vermitteln nicht nur Mitgefühl mit den Leiden der Proletarier seiner Zeit, auch deren Siegessicherheit vermitteln sie. Die Bücher sind nicht düster, seine Helden sind voll Hoffnung und Siegessicherheit. Das trifft auch für „Roheisen“ zu. Nur: Man merkte es dem Buch an, dass alles frei erfunden ist und so nicht passiert sein konnte. Wenn zum Beispiel ein alter Kommunist auftritt und seine Positionen benennt, so klingt das leer daher gesagt. In der Gegend von Fürstenberg an der Oder – die Stadt hatte 1933 eben mal 7.054 Einwohner – dem späteren Stalinstadt/Eisenhüttenstadt, gab es wohl kaum Sozialdemokraten, geschweige denn Kommunisten und eine kommunistische Parteiarbeit schon gar nicht. Dass da ein bourgeoiser Literaturpapst, wie Reich-Ranicki, das bürgerliche Näschen rümpft, versteht sich. Bei aller Klugheit der Ikone der bürgerlichen Literaturkritik, hier fehlte ihm das Verständnis und das Denkvermögen – hier war er durch und durch der bornierte Bourgeois. Marchwitza wollte allen vermitteln, wie das Leben des Proletariats im Kapitalismus ist, wie der Proletarier kämpft, unterliegt und letztlich siegen wird. Er schildert den Kampf seiner Klasse unter der Führung seiner Partei, der Kommunistischen Partei. Ihm fiel das Schreiben nicht leicht, er schrieb trotzdem und seine Bücher rütteln auf, verbreiten Mitgefühl und Siegeszuversicht, ohne Schnörkel, aber voll Inbrunst und Leidenschaft. Für Reich-Ranicki ist das keine Literatur, nur Propagandageschreibsel – wie sollte auch ein Bourgeois dazu in der Lage sein – und: für diese Klientel schrieb Marchwitza seine Bücher auch nicht, sondern für die Menschen seiner Klasse, für die Arbeiter. Mit Marcel Reich-Ranicki ist der herrschenden Klasse ihr Literaturpapst abhanden gekommen. Er war der klügsten einer unter den Ideologen des Kapitals. Er hatte kein Verständnis für die revolutionäre Literatur der Arbeiterklasse und er verriss sie, aber er beschäftigte sich auch damit – um sie abzuwerten. Aber genau deshalb war er ja auch ihr Literaturpapst. Das Konklave der Literaturkardinäle, von FAZ, Die Welt, Die Zeit, ARD, ZDF usw. wird es schwer haben, einen Nachfolger zu finden. Der immer flachere Literaturbetrieb – wie zum Beispiel „Feuchtgebiete“ – bringt keine klugen Köpfe hervor, nur dumme Schwätzer. G.A.

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