Samstag, 10. August 2013

Afghanistan: Mehr Krieg, mehr Opfer und westliche Dauerpräsenz

IMI-Standpunkt 2013/037 von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 2. August 2013 Was den Afghanistan-Krieg anbelangt, sind in jüngster Zeit drei neue bzw. sich verschärfende und miteinander in Verbindung stehende bedenkliche Trends zu beobachten. Einmal handelt es sich dabei um die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Vereinten Nationen, nach denen allein im ersten Halbjahr 2013 mit 1319 Menschen über 20% mehr Zivilisten den Auseinandersetzungen zum Opfer fielen als im Jahr zuvor. Diese Zunahme an Opfern ist auch ein Resultat der neuerlich gestiegenen Intensität der Kampfhandlungen, die den zweiten Besorgnis erregenden Trend darstellt. Denn anders als im Fortschrittsbericht des Auswärtigen Amtes (AA) vom November 2012 behauptet wird, sind die sog. „Sicherheitsrelevanten Zwischenfälle“ (SRZs), an denen sich das Ausmaß der Kampfaktivitäten absehen lässt, 2012 gegenüber dem Vorjahr keineswegs zurückgegangen. Wie bereits in IMI-Standpunkt 2013/010 berichtet, kam diese Lageeinschätzung aufgrund eines groben Fehlers zustande: Ob bewusst oder unbewusst “vergaß” man, SRZs zwischen Aufständischen und afghanischen Regierungstruppen (Armee wie auch Polizei) zu berücksichtigen. Tut man dies, so ergibt sich ein ganz anderes Bild, nämlich dass die Intensität der Kampfhandlungen 2012 gegenüber dem Vorjahr zumindest auf demselben – hohen – Niveau stagnierte. Auch für 2013 ist alles andere als Entwarnung angesagt – im Gegenteil: So berichtet die New York Times (19.04.2013) unter Berufung auf das „Afghanistan NGO Safety Office”, die bewaffneten Zusammenstöße seien im Frühjahr 2013 gegenüber demselben Vorjahreszeitraum um 47% angestiegen. Demgegenüber bleibt der AA-Zwischenbericht vom Juni 2013 extrem vage und spricht ohne konkrete Zahlen zu nennen von einer „örtlichen Zunahme sicherheitsrelevanter Zwischenfälle.“[1] Die dritte gravierende Entwicklung in Afghanistan hängt mit einer Verschiebung der Protagonisten und Opfern zusammen, die aufseiten der afghanischen Regierung kämpfen. Einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums zufolge war die Verlagerung der Kampfhandlungen (und Opfer) weg von den westlichen Truppen und hin zu afghanischen Regierungseinheiten überaus „erfolgreich“. Spielten sich im März 2011 noch knapp 90% der SRZs zwischen westlichen Truppen und Aufständischen ab, sind es im März 2013 nur noch knapp 30%, während die afghanischen Regierungstruppen in nahezu 70% der SRZs verwickelt sind. Dementsprechend stiegen die Opfer unter den afghanischen Regierungseinheiten ebenfalls dramatisch an, wie ein Blick in den aktuellsten „Brookings Afghanistan Index“ (15.07.2013) zeigt. Frappierend sind dabei vor allem die Steigerungen von 2011 auf 2012. Für die Polizei stiegen die Opferzahlen von 1400 (2011) auf 2200 (2012) und was die Armee anbelangt, haben sie sich sogar von 550 (2011) auf 1200 (2012) mehr als verdoppelt. Insgesamt addieren sich die Toten bis Ende 2012 auf fast 10.000 hoch, während es unter den ausländischen Soldaten aktuell 3339 sind. Dieser Trend hat sich 2013 einer Analyse der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ zufolge sogar noch weiter verschärft: „Hauptziel der Aufständischen sind dabei nicht die Soldaten der ISAF. Diese führt kaum noch offensive Operationen in Afghanistan durch und gerät damit immer weniger in Kontakt mit bewaffneten Gruppen. Im Visier befinden sich vielmehr die einheimischen Sicherheitskräfte. In den letzten Monaten kamen monatlich mehrere hundert afghanische Soldaten und Polizisten durch Anschläge ums Leben. Von März bis Juli 2013 waren allein bei der Polizei 2748 Opfer zu beklagen…“ Dennoch ist davon auszugehen, dass westliche Truppen noch viele Jahre im Bürgerkrieg mitmischen werden – zur Opferminimierung werden sie allerdings eher in beaufsichtigender als in kämpfender Funktion agieren und lediglich dann eingreifen, wenn die Geschehnisse drohen allzu sehr aus dem Ruder zu laufen. Schon lange ist klar, dass die USA (und andere westliche Länder) beabsichtigen, die Präsenz noch lange aufrechtzuerhalten. Lediglich die genaue Anzahl – hier schwanken die Planspiele zwischen 8000 bis hin zu 35.000 – ist weiterhin offen, wobei sich Deutschland mit 600-800 Soldaten beteiligen will (siehe IMI-Aktuell 2013/095). Insofern war die von US-Präsident Barack Obama angedrohte „Null-Lösung“, ein Komplettabzug, die er Anfang Juli 2013 ins Gespräch brachte, von Anfang an wenig glaubhaft (siehe IMI-Aktuell 2013/254). Das Militär beeilte sich in seinem bereits erwähnten Bericht Ende Juli 2013 zu versichern, die Null-Lösung sei hochproblematisch und nicht wünschenswert, da sich die Karzai-Regierung ohne westliche Unterstützung nicht lange an der Macht halten könnte. Da dies auch dem afghanischen Präsidenten vollkommen bewusst ist, hat er augenscheinlich den Knall aus Washington gehört und verstanden. Denn worum es bei der US-Drohung ging, war dem afghanischen Präsidenten eine klare Botschaft zu schicken, dass er in den vielen strittigen Punkten um die künftige westliche Präsenz, insbesondere der Frage nach Immunität für US-Soldaten, einzulenken hat. Es kam, wie es kommen musste: USA Today berichtet Ende Juli 2013, man stehe kurz vor einer Einigung: „Die USA und Afghanistan haben die meisten Streitfragen gelöst und nähern sich einem Abkommen, das den Weg für eine amerikanische Präsenz nach 2014 freimacht und begrenzte Anti-Terror-Truppen sowie Militärberater einschließt.“ [1] Diese Schwammigkeit hat Methode: Wie der AA-Zwischenbericht klarstellt, scheint man künftig nicht gewillt zu sein, überhaupt noch offizielle Daten bezüglich SRZs in Afghanistan zu erheben: „Im Juni 2013 erkannte ISAF erneut Fehler in den Statistiken für die ersten Monate dieses Jahres. Die Bundesregierung zieht aus dem Fehlen verlässlicher Daten den Schluss, bei ihrer qualitativen Bewertung der Sicherheitslage künftig der reinen Zählung der SRZ nur noch eine geringe Bedeutung beizumessen…“

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